Entscheidungsstichwort (Thema)
Statthaftigkeit der Berufung. Feststellung der Schwerbehinderung. Sprungrevision
Orientierungssatz
Urteile der Sozialgerichte, welche die Feststellung über die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr nach SchwbG § 3 Abs 4 (iVm UnbefG § 2 Abs 1 Nr 6) behandeln, sind nach SchwbG § 3 Abs 6 S 4 unanfechtbar (vgl BSG 1978-09-14 9 RVs 3/77 = Breith 1979, 82). So wie eine Berufung nicht stattfindet, ist auch die Sprungrevision nicht eröffnet. Dieses Rechtsmittel steht einem Beteiligten nur "unter Übergehung der Berufungsinstanz" zu (SGG § 161 Abs 1 S 1). Es muß also an sich die Berufung gegeben sein (vgl BSG 1978-12-06 9 RVs 9/78 = SozR 1500 § 161 Nr 23).
Normenkette
SchwbG § 3 Abs. 4, 6 S. 4; UnBefG § 2 Abs. 1 Nr. 6; SGG §§ 150, 161 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
SG Heilbronn (Entscheidung vom 21.07.1978; Aktenzeichen S 5 V 1441/76) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 21. Juli 1978 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger verlangt die Feststellung einer erheblichen Gehbehinderung als Voraussetzung für die Ausstellung eines Ausweises, der ihn zur unentgeltlichen Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel berechtigen soll (§ 3 Abs 4, Abs 5 Satz 1 des Schwerbehindertengesetzes - SchwbG -; § 2 Abs 1 Nr 6, Abs 2 des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie von anderen Behinderten im Nahverkehr vom 27. August 1965 - UnbefG - BGBl I 978).
Als Gesundheitsstörungen sind eine Bewegungseinschränkung der linken Schulter, Bewegungseinschränkungen der Hand- und Fingergelenke, Herz- und Kreislaufstörung sowie degenerative Veränderungen der Wirbelsäule anerkannt. Die dadurch hervorgerufene Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist auf 70 vH geschätzt worden. Dagegen hat das Versorgungsamt die Feststellung einer erheblichen Gehbehinderung unter Hinweis auf den Begriff der Körperbehinderung im Sinne des § 39 Abs 1 Nr 1 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) idF vom 30. Juni 1961 - 31. August 1965 - abgelehnt (Bescheid vom 8. Oktober 1976).
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen. Seines Erachtens kann eine körperliche Bewegungsunfähigkeit nur dann Grundlage der angestrebten Rechtswohltat sein, wenn der Körperbehinderte außerstande ist, Wege von ungefähr 2 km ohne größere Schwierigkeiten zurückzulegen. Der Kläger vermöge aber nach ärztlicher Beurteilung einen solchen Weg im Ortsverkehr zu Fuß zu überwinden. Allerdings wirke sich erschwerend aus, daß bei ihm das Tragen einer Aktentasche von 2,5 kg Gewicht zu Beschwerden und Reizzuständen seiner Wirbelsäule führe. Diese Tragschwäche rechtfertige indessen nicht die Annahme einer erheblichen Gehbehinderung. Hinzu komme, daß eine Aktentasche, die zur Arbeit mitgenommen werde, regelmäßig weniger wiege. Die lange Belastung mit einer Einkaufstasche von größerem Gewicht lasse sich aber dadurch vermeiden, daß ein möglichst nahe erreichbares Verkehrsmittel benutzt werde.
Der Kläger hat die - von dem SG zugelassene - Sprungrevision eingelegt. Da er die Frist zur Einlegung dieses Rechtsmittels versäumt hat, beantragt er die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er ist darauf hingewiesen worden, daß in Schwerbehindertenstreitigkeiten nach § 3 Abs 4 SchwbG, wie solchen, welche die Berechtigung zur unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr betreffen, die Berufung und auch die Sprungrevision schlechthin ausgeschlossen ist (§ 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG). Er meint demgegenüber, daß eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes angezeigt und das Rechtsmittel für zulässig zu halten sei.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil sowie die ablehnenden Bescheide des Versorgungsamts aufzuheben und festzustellen, daß dem Kläger ein Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr zustehe.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision des Klägers ist nicht statthaft. Infolgedessen erübrigt sich eine Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob der Kläger wegen seiner Gesundheitsstörungen die Voraussetzungen einer unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr erfüllt. Die Feststellung hierüber ist nach Abs 4 des § 3 SchwbG (iVm § 2 Abs 1 Nr 6 UnbefG) zu treffen. Urteile der Sozialgerichte, welche diese Feststellung behandeln, sind nach § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG unanfechtbar (BSG, 14. September 1978 - 9 RVs 3/77 -). So wie eine Berufung nicht stattfindet, ist auch die Sprungrevision nicht eröffnet. Dieses Rechtsmittel steht einem Beteiligten nur "unter Übergehung der Berufungsinstanz" zu (§ 161 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Es muß also an sich die Berufung gegeben sein (BSG, 6. Dezember 1978 - 9 RVs 9/78 -). Daran fehlt es.
In dem oben angeführten, den Beteiligten bekannten Urteil vom 14. September 1978 hat der erkennende Senat aus dem Wortlaut des § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG gefolgert, daß der weitere Rechtsweg abgeschnitten ist. Für diese Auffassung war ferner die Gegenüberstellung der hier in Betracht kommenden Gesetzesstelle mit den ihr vorangehenden Sätzen und die Entstehungsgeschichte des Gesetzes wichtig.
Die Argumente, mit denen die Revision die Auffassung des Senats bekämpft, sind nicht stichhaltig.
Der Kläger räumt ein, daß die hier maßgebliche Gesetzesstelle sich durch den strengeren Wortgebrauch ("Eine Berufung..... findet nicht statt") von den ihr vorangehenden Anordnungen abhebt. Der Inhalt des § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG, der sich - zum Unterschied von Satz 4 aaO, wenn auch einschränkend - positiv zur Rechtsmittelmöglichkeit äußert ("Die Berufung..... ist nur zulässig, soweit....."), verweist seinem Inhalt nach deutlich erkennbar auf die vergleichbare Regelung des § 148 SGG über den Ausschluß der Berufung. Daß im SchwbG § 150 SGG nicht erwähnt wird, bedeutet nicht, wie die Revision meint, Satz 3 des § 3 Abs 6 SchwbG beziehe sich auf diese Vorschrift ebenso gut oder ebenso wenig wie Satz 4. Der Zusammenhang zwischen Satz 3 aaO und § 150 SGG kann unschwer durch Interpretation der einleitenden Worte in § 150 SGG hergestellt werden. Dort verlautet, daß die Berufung ungeachtet der §§ 144 ff SGG, also auch des § 148 SGG, "zulässig" sei, wenn..... § 148 SGG gilt, aber nach § 3 Abs 6 Satz 2 SchwbG für Schwerbehindertensachen so wie für Streitigkeiten der Kriegsopferversorgung.
Im Gegensatz dazu spricht Satz 4 des § 3 Abs 6 SchwbG rigoros aus, daß eine Berufung nicht stattfindet. Dieser Ausspruch wäre überflüssig, wenn er nicht eine von den vorhergehenden Sätzen abweichende und damit diejenige Bedeutung hätte, daß ein Rechtsmittel schlechterdings zu unterbleiben habe.
Unzutreffend ist die Meinung der Revision, das Gesetz habe mal von "zulässig", mal von "nicht stattfindet" lediglich des Wechsels im Ausdruck wegen gesprochen. Beide Sprachwendungen besagen nicht dasselbe. Nach einer bekannten Regel der Gesetzgebungstechnik und der Gesetzesauslegung trägt die Stetigkeit des Wortgebrauchs zur Erleichterung des Verständnisses bei. Eine andere Wortwahl legt den Schluß nahe, daß nicht das gleiche gemeint ist (Erler, Die Sprache des BGB, 1896, 13; Dölle, Vom Ziel der Rechtssprache, 1949, 59).
Das Verfassungsrecht steht der hier vertretenen Rechtsansicht nicht entgegen. Die Endgültigkeit eines erstinstanzlichen Urteils ist mit dem Rechtsstaatsgrundsatz (Art 20 des Grundgesetzes - GG -) und mit dem Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber einer Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt (Art 19 Abs 4 GG) vereinbar (BVerfGE 41, 23, 26; NJW 1979, 154, 155). Daran ändert nichts, daß mangels einer Mehrstufigkeit des Rechtszuges die Einheit des Rechts und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung nicht garantiert ist. Eine unterschiedliche Rechtsfindung wird auf mehreren Rechtsgebieten in Kauf genommen. Die Verfassung gebietet nicht, daß die Verfahrensordnungen zur Wahrung der Rechtseinheit und generell auch der Rechtsprechungseinheitlichkeit Vorsorge treffen (BVerfGE 19, 323, 327 f). Nur soweit verfahrensrechtliche Anordnungen diese Ziele verwirklichen, nimmt Art 95 GG darauf Bezug. Dabei ist sogar ein Wandel der grundgesetzlichen Regelung bemerkenswert. In Art 95 Abs 1 GG aF war noch von der Wahrung der Einheit des Bundesrechts die Rede. In der neuen Fassung des Art 95 Abs 3 GG wird hingegen zurückhaltender von der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung gesprochen.
Auch das Gleichheitsgebot der Verfassung, auf das sich der Kläger beruft, ist nicht verletzt. Nach Art 3 Abs 1 GG hat der Gesetzgeber vergleichbare Sachverhalte grundsätzlich mit der gleichen Rechtsfolge auszustatten; er ist jedoch weitgehend frei, die Merkmale zu bestimmen, die für Gleichheit oder Ungleichheit der gesetzlichen Regelung maßgeblich sein sollen. In dieser Beziehung hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 14. September 1978 hervorgehoben, daß der Berufungsausschluß nach § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG nicht ohne weiteres mit sonstigen Rechtsmittelfällen in Schwerbehindertenstreitigkeiten gleichgesetzt werden kann. Mit der Lösung, die auch der Senat als wenig befriedigend ansieht, vermag man sich deshalb noch abzufinden, weil die vom Rechtsmittelausschluß betroffenen Angelegenheiten lediglich Nebenwirkungen der Schwerbehinderung sind.
Hiernach ist die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen