Verfahrensgang

SG Darmstadt (Urteil vom 22.09.1994)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 22. September 1994 abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Bei der Klägerin wurde im Oktober 1987 ein Dickdarmkarzinom operativ entfernt. Auf ihren Antrag vom Dezember 1987 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 10. Mai 1988 als Behinderung „Teilverlust des Dickdarms wegen einer Geschwulst” und einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 fest. Im Juli 1992 beantragte die Klägerin die Anerkennung weiterer Behinderungen, nämlich „permanent vorliegende Immunschwäche” und „Arthrose”. Der Beklagte zog Befundberichte der behandelnden Ärzte und Krankenhäuser bei und ließ sie durch seinen ärztlichen Dienst auswerten. Mit Bescheid vom 4. November 1992 hob er den Bescheid vom 10. Mai 1988 auf und ersetzte ihn durch eine Neuregelung. Als Behinderung wurden nunmehr anerkannt:

  1. Teilverlust des Dickdarms, Sigmadivertikulose,
  2. degenerativer Wirbelsäulenschaden mit Lumbalsyndrom, Reizknie links und 3. Migräne.

Der GdB wurde nur noch mit 30 festgesetzt. Zur Begründung wurde ausgeführt, hinsichtlich der Geschwulsterkrankung sei zwischenzeitlich Heilungsbewährung eingetreten. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 1993).

Das von der Klägerin angerufene Sozialgericht (SG) hob mit Urteil vom 20. September 1994 den Bescheid des Beklagten vom 4. November 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 1993 auf. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Ein Bescheid nach dem Schwerbehindertenrecht könne nur dann geändert werden, wenn sich Umstände geändert hätten, die aus dem Verfügungssatz oder den Gründen des Ursprungsbescheides hervorgingen. Der Bescheid des Beklagten vom 10. Mai 1988 habe nicht erkennen lassen, daß eine Operation wegen eines Karzinoms stattgefunden und eine Heilungsbewährung noch ausgestanden habe.

Die vom SG zugelassene Sprungrevision begründet der Beklagte im wesentlichen wie folgt: Eine Heilungsbewährung, in der nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse liege, habe objektiv vorgelegen. Nur darauf komme es an.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 22. September 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des SG für richtig.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Urteil des SG ist aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Beklagte hat den GdB zutreffend wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse von 80 auf 30 herabgesetzt, weil sich die mit der überstandenen Krebserkrankung des Dickdarms verbundene Rückfallgefahr erheblich verringert hat (Heilungsbewährung) und die nunmehr vorliegenden Behinderungen keinen höheren GdB als 30 mehr bedingen.

Zu Unrecht hat das SG im Eintritt der Heilungsbewährung, dh im rückfallfreien Ablauf von fünf Jahren seit der Operation des Dickdarmkarzinoms, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) nur deshalb nicht erkannt, weil der Bescheid vom 10. Mai 1988 keinen Hinweis darauf enthält, daß die Höhe des GdB wesentlich auf dem Gesichtspunkt der noch ausstehenden Heilungsbewährung beruhte. Die Änderung eines Bescheides mit Dauerwirkung nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ist nicht erst dann möglich, wenn sich die in dem Bescheid erwähnten Umstände geändert haben, sondern bereits dann, wenn sich diejenigen Umstände geändert haben, „die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben”. Es reicht also eine objektive Änderung der Verhältnisse aus. Freilich muß es sich um solche Umstände handeln, die für den Erlaß des Ursprungsbescheides wesentlich waren. Das sind aber nicht Umstände, auf die der Ursprungsbescheid ausdrücklich gestützt war, sondern vielmehr solche, die diesen Bescheid zum Zeitpunkt seines Erlasses objektiv rechtfertigten. Lagen solche Umstände vor, so reicht es für die Anwendung des § 48 SGB X aus, daß die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den ergangenen Verwaltungsakt nicht mehr hätte erlassen dürfen (vgl Steinwedel, Kasseler Kommentar, § 48 SGB X RdZiffn 13 und 14; BSG SozR 1300 § 48 Nr 22 S 50; BSGE 65, 301).

Entgegen der Ansicht des SG gilt auch im Schwerbehindertenrecht nichts Abweichendes. Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, sind Bescheide mit Dauerwirkung iS des § 48 SGB X auch Feststellungsbescheide nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) – vgl zB SozR 1300 § 48 Nr 29 S 88. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann bei bestimmten, mit Rückfallgefahr verbundenen Leiden auch in dem Ablauf eines Zeitraumes liegen, nach dessen Verstreichen nach allgemeiner medizinischer Erfahrung eine „Heilungsbewährung” eingetreten ist, weil sich die zunächst vorhandene Rückfallgefahr erheblich verringert hat (vgl BSGE 62, 243, 244 ff = SozR 1300 § 48 Nr 43; vgl auch Jaeger in „Der medizinische Sachverständige” 1994, S 47 mwN). Das gilt insbesondere für Bescheide, die im Anschluß an eine operativ behandelte Krebserkrankung ergangen sind und einen GdB festgestellt haben, der vor allem durch die noch bestehende Rückfallgefahr bedingt war. Wie lange der jeweilige Zeitraum der Heilungsbewährung ist, richtet sich nach medizinischen Erfahrungssätzen, wie sie in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG – 1983” (AHP) niedergelegt sind. Danach (Nr 26.10 der AHP) ist nach Entfernung eines malignen Darmtumors in den ersten fünf Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten. Bis dahin beträgt die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) – wenn es sich nicht um ein Frühstadium handelt -80 vH.

Die in der Heilungsbewährung liegende Änderung der Verhältnisse kann im Rahmen des § 48 SGB X berücksichtigt werden, ohne daß die Rückfallgefahr als für die GdB-Bewertung ausschlaggebender Gesichtspunkt im Ursprungsbescheid erwähnt worden sein muß. Das SG kann seine abweichende Auffassung nicht auf das Urteil des Senats vom 6. Dezember 1989 (SozR 3870 § 4 Nr 3) stützen. In dem damals entschiedenen Fall hatte die Versorgungsbehörde dem Kläger nach operativen Eingriffen, die wegen einer TBC-Erkrankung notwendig geworden waren, im Einklang mit den AHP eine MdE zuerkannt, deren Höhe nur wegen der Ungewißheit des Heilerfolges bzw wegen des vorläufigen Bestehens einer Rückfallgefahr gerechtfertigt war. Der Senat hat seinerzeit den Sachverhalt unter dem Gesichtspunkt der „Verdachtsdiagnose” gewürdigt und wegen des Begründungserfordernisses in § 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG (SozR 3870 § 4 Nr 3 auf S 10) gefordert, daß der Verdacht auf eine bestimmte Erkrankung ausdrücklich in den Ursprungsbescheid aufzunehmen sei. Gleichwohl ist die unzureichende Begründung der Behinderung im Ursprungsbescheid als unschädlich angesehen worden. Dieselbe Auffassung hat der Senat in späteren Urteilen wiederholt verdeutlicht (vgl SozR 3-1300 § 48 Nr 25 und Urteil vom 11. Oktober 1994 – SozR 3-3870 § 4 Nr 10 = ZfSH/SGB 1995 308). In dem letztgenannten Urteil ist zugleich klargestellt worden, daß die für die Verdachtsdiagnose gemachten Ausführungen auch für die Rückfallgefahr gelten.

Die Feststellungen des SG lassen den Schluß zu, daß der Beklagte aufgrund der seinerzeit vorhandenen Rückfallgefahr und der sonstigen im Fünfjahres-Zeitraum nach der Operation eines bösartigen Tumors typischerweise vorliegenden Folgezustände (Notwendigkeit von Nachuntersuchungen, möglicherweise auch von Nachbehandlungen, ggf auch psychische Beeinträchtigung durch den noch verhältnismäßig kurz zurückliegenden erheblichen chirurgischen Eingriff) den GdB bei Erlaß des Ursprungsbescheides mit 80 vH einschätzen durfte. Des weiteren stellt das SG fest, daß die nunmehr bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen nur noch einen GdB von 30 bedingen. Dabei ergeben sich keine entscheidungserheblichen Besonderheiten dadurch, daß die eingetretene Änderung der Verhältnisse zu Lasten der Klägerin (im Rechtssinne) durch eine gegenläufige Änderung der Verhältnisse zu ihren Gunsten (Hinzutritt weiterer Behinderungen) teilweise kompensiert wird. Diese Behinderungen (Sigmadivertikulose, degenerativer Wirbelsäulenschaden mit Lumbalsyndrom, Reizknie links und Migräne) sind sowohl vom Beklagten als auch vom SG gewürdigt worden. Da die vom SG gesehenen Hindernisse, die eingetretene Änderung der Verhältnisse im Rahmen des § 48 SGB X zu berücksichtigen, nicht bestehen, sind die angefochtenen Bescheide des Beklagten nicht zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175039

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