Leitsatz (redaktionell)

Beweiserhebungen über das Vorhandensein von Arbeitsplätzen.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 106 Abs. 3 Fassung: 1958-06-25; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. März 1965 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die im Jahre 1909 geborene Klägerin begann ihr Berufsleben mit einer Lehre als Näherin, schloß sie aber nicht ab. Danach war sie zunächst jahrelang als Hausgehilfin, anschließend von 1940 bis 1945 - wie das Landessozialgericht (LSG) festgestellt hat, als Angestellte - in einer Färberei im Sudetenland, von April 1949 bis Ende 1951 als Weißnäherin in einer Taschentuchfabrik und schließlich bis Ende Mai 1952 als Heimarbeiterin tätig. Seitdem steht sie nicht mehr in einem Beschäftigungsverhältnis; sie führte ihrem Vater bis zu dessen Ableben im Januar 1961 den Haushalt.

Seit 1957 erstrebt die Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Rentenversicherung der Arbeiter. Durch Bescheid vom 4. November 1959 lehnte die Beklagte den Antrag - zum wiederholten Male - mit der Begründung ab, die Klägerin sei noch nicht berufsunfähig.

Auf die hiergegen gerichtete Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Wiesbaden die Beklagte zur Rentengewährung vom 1. November 1961 an verurteilt. Die Berufung der Beklagten hat zur Aufhebung dieser Entscheidung und zur Klagabweisung geführt. Das Hessische LSG hat sein Urteil vom 25. März 1965 im wesentlichen wie folgt begründet: Die Klägerin komme ihrem Berufsbild nach für einen Arbeitseinsatz auf dem allgemeinen Arbeitsfeld in Betracht. Ihr Gesundheitszustand erlaube es ihr noch, mindestens halbtägig leichte Frauenarbeiten in geschlossenen Räumen zu verrichten, soweit damit nicht Unterkühlungen, Durchnässungen oder stärkere körperliche Erschütterungen verbunden seien. Dabei solle der Anmarschweg zur Arbeitsstätte nicht zu lang sein; die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei der Klägerin möglich. Mit Rücksicht auf die vielfältige Einsatzmöglichkeit in ihrem Wohnort L stehe für sie, selbst bei Übernahme einer Teilzeitarbeit, eine Vielzahl von Arbeitsplätzen bereit, die sie trotz der bei ihr bestehenden Einschränkungen ausfüllen könne. Sie sei daher nicht berufsunfähig.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin - die vom LSG nicht zugelassene - Revision eingelegt und das Rechtsmittel mit der Rüge der unzureichenden Sachaufklärung begründet. Sie bringt vor allem vor: Das Berufungsgericht habe nicht aus eigener Sachkenntnis beurteilen können, ob Beschäftigungsmöglichkeiten für sie beständen; es hätte, um seiner Pflicht zur Sachaufklärung zu genügen, berufskundliche Sachverständige des Arbeitsamts Limburg und des Gewerbeaufsichtsamts befragen müssen, ob Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl für weibliche Arbeitskräfte mit einem so eingeschränkten Leistungsvermögen, wie dies bei ihr der Fall sei, zur Verfügung ständen und um welche Plätze im einzelnen es sich dabei handele. Das LSG hätte auch nicht unterlassen dürfen zu klären, ob sie die Klägerin, unter Berücksichtigung der Einschränkung ihrer Einsatzmöglichkeiten am Arbeitsplatz und einer zusätzlichen Beschränkung des Anmarschweges in der Lage sei, die Hälfte des üblichen Tariflohnes einer gleichaltrigen Arbeiterin zu verdienen. Dazu hätte insofern besondere Veranlassung bestanden, als ihr nicht mehr jede Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zugemutet werden könne und sie auch nur noch für Teilzeitarbeiten einsatzfähig sei.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Hessischen LSG vom 25. März 1965 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Sie meint, wenn das LSG - wovon auszugehen sei - sich auf Grund seiner Erfahrungen in anderen Streitsachen über die Arbeitsmarktverhältnisse ausreichend unterrichtet gefühlt habe, dann sei es nicht genötigt gewesen, weitere Beweise zu erheben.

Die Revision ist begründet.

Das Rechtsmittel ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Ein von der Revision ordnungsmäßig gerügter wesentlicher Verfahrensmangel liegt darin, daß das LSG in Verletzung seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG), nicht geklärt hat, ob es Arbeitsplätze - seien sie frei oder besetzt - in nennenswerter Zahl gibt, auf denen die Klägerin trotz ihrer Krankheiten noch in der Lage ist, die Hälfte des Erwerbseinkommens einer körperlich und geistig gesunden, ihr beruflich vergleichbaren Versicherten zu erzielen (§ 1246 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Der erkennende Senat hat allerdings in einem Beschluß vom 27. Juli 1965 - 4 RJ 273/65 - besondere Beweiserhebungen über das Vorhandensein von Arbeitsplätzen in der Regel als entbehrlich bezeichnet, wenn einem Versicherten noch leichte körperliche Arbeiten bis zu sechs Stunden täglich auf dem gesamten allgemeinen Arbeitsfeld möglich und zumutbar sind. So einfach wie in jenem Fall läßt sich jedoch im vorliegenden Streitfall der Sachverhalt nicht aus der bloßen Berufserfahrung eines in der Rentenversicherung tätigen Richters beurteilen. Die Erwerbsmöglichkeiten der Klägerin sind schon dadurch vermindert, daß nach den Feststellungen des LSG nur von der Fähigkeit zu einer Halbtagsarbeit ausgegangen werden kann. Der Kreis der hiernach für sie in Betracht kommenden Beschäftigungen wird jedoch noch weiter eingeengt durch die erheblichen Einschränkungen, denen ihre Einsatzfähigkeit nach dem festgestellten Sachverhalt unterliegt (nur leichte Arbeiten, nur in geschlossenen Räumen, ohne der Gefahr einer Unterkühlung, Durchnässung oder stärkeren körperlichen Erschütterung ausgesetzt zu sein, ohne allzu langen Arbeitsweg). Unter diesen Umständen wäre zu erwarten gewesen, daß das LSG - erforderlichenfalls nach Durchführung einer Beweisaufnahme - näher dargelegt hätte, welche Berufe oder Berufszweige für einen Arbeitseinsatz der Klägerin in Betracht kommen. Darüber hinaus ist eine solche Klarstellung unumgänglich für die Beantwortung der Frage, ob die Klägerin die sogenannte gesetzliche Lohnhälfte erzielen kann. Bei einem - ihr möglichen - Halbtagseinsatz kommt sie rein rechnerisch auf den halben Lohn einer gesunden Versicherten. Daß die Lohnhöhe jedoch infolge der weiteren Einschränkungen ihrer Einsatzfähigkeit möglicherweise noch weiter beeinträchtigt wird, läßt sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Es werden die Tarifverhältnisse in bestimmten, für die Klägerin in Betracht kommenden Beschäftigungen zu ermitteln und der für sie hiernach erreichbare Halbtagslohn den durchschnittlichen Erwerbsmöglichkeiten einer gesunden "Vergleichsperson" gegenüberzustellen sein. Zur Ermittlung der Vergleichsperson wird es außerdem auf eine nähere Umgrenzung des Berufsbildes der - augenscheinlich nicht auf die niedrigste Stufe einer Hilfsarbeiterin zu setzenden - Klägerin ankommen.

Die Revision ist begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß die nachzuholenden Ermittlungen und Feststellungen zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung führen. Das Bundessozialgericht kann den Sachverhalt nicht selbst feststellen; deshalb muß der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG im abschließenden Urteil mitzubefinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379793

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