Leitsatz (amtlich)

1. Zur Entscheidung über Ansprüche auf Mutterschaftsgeld nach MuSchG § 13 Abs 2 sind die Sozialgerichte zuständig.

2. Bei der Prüfung, ob eine Frau in der Zeit zwischen dem 10. und dem 4. Monat (einschließlich dieser Monate) vor der Entbindung in einem Arbeitsverhältnis gestanden hat (MuSchG § 13 Abs 2, RVO § 200 Abs 1), ist auch bei einer Frühgeburt von dem tatsächlichen Entbindungszeitpunkt und nicht von dem mutmaßlichen Entbindungszeitpunkt (RVO § 200 Abs 3 S 2) auszugehen, wenn Mutterschaftsgeld erst für die Zeit nach der Entbindung zu zahlen ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Vorschrift des RVO § 200 Abs 1 S 2 gilt auch für den Anspruch auf Mutterschaftsgeld nach MuSchG § 13 Abs 2. Danach ist Voraussetzung, daß die Frau in der Zeit zwischen dem 10. und dem 4. Monat vor der Entbindung mindestens 12 Wochen in einem Arbeitsverhältnis gestanden hat.

 

Normenkette

MuSchG § 13 Abs. 2 Fassung: 1968-04-18; SGG § 51 Fassung: 1953-09-03; RVO § 200 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1967-12-21

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. Februar 1971 und des Sozialgerichts München vom 12. Mai 1970 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin war seit 1. Oktober 1968 an der Sprachenschule in M als pädagogische Lehrkraft angestellt. Sie unterlag nicht der gesetzlichen Krankenversicherung. Am 16. Februar 1969 wurde die Klägerin (durch operativen Eingriff) vorzeitig von einem Mädchen entbunden, das nach einigen Tagen verstarb. Nach der Bescheinigung der II. Frauenklinik der Universität M vom 19. März 1969 war der errechnete Geburtstermin der 1. Mai 1969. Ab 16. Februar 1969 bis zur Wiederaufnahme der Arbeit Anfang Mai 1969 erhielt die Klägerin kein Arbeitsentgelt.

Mit Bescheid vom 27. Februar 1969 lehnte die Beklagte die Zahlung des beantragten Mutterschaftsgeldes (MuG) mit der Begründung ab, die Klägerin habe in der Zeit zwischen dem 10. und dem 4. Monat vor der Entbindung nicht zwölf Wochen in einem Arbeitsverhältnis gestanden, wie es § 200 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für den Anspruch auf MuG fordere. In ihrem Widerspruch brachte die Klägerin vor, ihr dürfe die Nichterfüllung der Rahmenfrist infolge der Frühgeburt nicht angelastet werden. Der Widerspruch wurde am 17. Oktober 1969 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin MuG nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die zugelassene Berufung der beklagten Krankenkasse zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Zuständigkeit der Sozialgerichte zur Entscheidung sei gegeben, weil es sich um eine Streitigkeit aus dem Gebiet der Sozialversicherung handele. Denn die im Mutterschutzgesetz (MuSchG) enthaltenen Leistungen auf MuG seien einheitlich für Versicherte und Nichtversicherte entsprechend den Vorschriften der RVO geregelt und den Krankenkassen zur Durchführung übertragen worden. Es könne nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber über Ansprüche auf MuG Gerichte verschiedener Gerichtszweige habe entscheiden lassen wollen, auch wenn er in dem neu gefaßten MuSchG keine besonderen verfahrensrechtlichen Vorschriften erlassen habe.

Nach dem entsprechend anwendbaren § 200 Abs. 1 Satz 2 RVO sei Voraussetzung des MuG, daß in der Zeit zwischen dem 10. und dem 4. Monat einschließlich dieser Monate vor der Entbindung für mindestens zwölf Wochen ein Arbeitsverhältnis bestanden habe. Gehe man von dem Zeitpunkt der tatsächlichen Entbindung aus, so sei diese Voraussetzung nicht erfüllt. Jedoch müsse bei Frühgeburten die Rahmenfrist nach dem mutmaßlichen Tag der Entbindung errechnet werden. Das MuSchG und die RVO würden den Begriff des mutmaßlichen Entbindungstages kennen (§ 200 Abs. 3 Satz 2 RVO). Für die Zahlung des MuG vor der Entbindung sei das Zeugnis eines Arztes oder einer Hebamme maßgebend, in dem der mutmaßliche Tag der Entbindung angegeben sei. Hiervon müsse bei Leistungen, die vor der Entbindung zu gewähren seien, ausgegangen werden. Bei der Festsetzung eines Arbeitsverhältnisses für mindestens zwölf Wochen in der Zeit zwischen dem 10. und dem 4. Monat vor der Entbindung sei der Gesetzgeber von der normalen Schwangerschaft ausgegangen; diese Zeit habe ihm Anhalt für diese Rahmenfrist gegeben. Würde man bei Frauen mit unerwartet frühzeitigen Geburten die Frist nach dem Zeitpunkt der tatsächlichen Entbindung berechnen, so würde sie weitgehend den Charakter der Wartezeit verlieren. Frauen, die nach dem Beginn der Schwangerschaft die für den Anspruch auf MuG nach dem mutmaßlichen Tag der Entbindung berechnete Wartezeit erfüllt hätten, dürften nicht schlechter gestellt werden, weil sie vorzeitig entbunden hätten. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt.

Sie trägt vor: Das MuG sei keine Leistung der Sozialversicherung, auch wenn es durch die gesetzlichen Krankenkassen ausgezahlt werde. Diese würden eine Vielzahl von Auftragsleistungen gewähren, ohne daß sie dadurch zu Leistungen der Krankenversicherung oder der Sozialversicherung würden. Das Fehlen verfahrensrechtlicher Vorschriften im Gegensatz zur früheren Fassung des MuSchG lasse den Schluß zu, daß der Gesetzgeber das MuG nach dem MuSchG aus dem Verfahrensrecht des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) habe herausnehmen wollen.

Der Grundsatz des LSG, daß die Rahmenfrist nach dem voraussichtlichen Entbindungszeitpunkt zu berechnen sei, lasse sich nicht aufrecht erhalten. Dem voraussichtlichen Entbindungszeitraum komme keine Bedeutung zu, wenn kein Leistungsantrag vor der Entbindung gestellt werde und für die Zeit vor der Entbindung MuG auch nicht zu zahlen sei, weil der Anspruch ruhe. Nur die Verpflichtung, MuG in der Regel bereits vor der Entbindung und für die Zeit vor der Entbindung zu zahlen, mache es überhaupt notwendig, für eine zunächst überschlägige Anspruchsprüfung für die Feststellung des Beginns der Vorauszahlung auf den voraussichtlichen Entbindungszeitpunkt zurückzugreifen. Komme eine Vorauszahlung jedoch nicht in Betracht, so bestehe kein einleuchtender Grund, nicht vom tatsächlichen Entbindungszeitraum auszugehen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Bayerischen LSG vom 4. Februar 1971 und des SG München vom 12. Mai 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Die beigeladene Bundesrepublik Deutschland stellt keinen Antrag.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Zunächst ist entgegen der Meinung der Beklagten die Zuständigkeit der Sozialgerichte gegeben. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 13 Abs. 2 MuSchG. Nach dieser Vorschrift erhalten Frauen, die nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, unter den hier näher festgelegten Voraussetzungen MuG zu Lasten des Bundes in entsprechender Anwendung der Vorschriften der RVO über das MuG. Dieses wird den Frauen von der Allgemeinen Ortskrankenkasse bzw. von der Landkrankenkasse gezahlt. Eine ausdrückliche Regelung darüber, welche Gerichte für derartige Streitigkeiten zuständig sind, enthält das MuSchG idF vom 18. April 1968 (BGBl I 315) nicht. Dagegen bestimmte § 16 Abs. 2 MuSchG idF vom 24. Januar 1952 (BGBl I 69), daß für das Verfahren bei der Feststellung der Sonderunterstützung nach § 11 Abs. 2 MuSchG und der Leistungen nach § 13 MuSchG die Vorschriften des 6. Buches der RVO über die Feststellung der Leistungen der Krankenversicherung entsprechend gelten sollten. Nachdem § 213 Abs. 1 SGG mit Wirkung vom 1. Januar 1954 das im 6. Buch der RVO geregelte Spruch- und Beschlußverfahren durch das Verfahren nach dem SGG ersetzt hatte, waren nunmehr die Sozialgerichte zur Entscheidung über die Streitpunkte berufen (vgl. Bulla, Mutterschutzgesetz, 2. Aufl., § 16 Anm. 14 f). Im Gegensatz zum alten MuSchG enthält das neue keine Vorschrift, wonach die Sozialgerichte für den vorliegenden Rechtsstreit zuständig sind. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, daß die Zuständigkeit einer anderen Gerichtsbarkeit gegeben wäre. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber bei der Neufassung des MuSchG die bisherige Zuständigkeit ändern wollte. Die Krankenkassen entscheiden über den Anspruch nach § 13 Abs. 2 MuSchG im Verwaltungsverfahren, sie erlassen den entsprechenden Bescheid und sind Beklagte in einem Gerichtsverfahren. Darüber hinaus handelt es sich weitgehend um die Anwendung von Vorschriften der RVO. Die im MuSchG vorgesehenen Leistungen auf MuG sind einheitlich für versicherte und nichtversicherte Frauen entsprechend den Vorschriften der RVO geregelt und, wie bereits hervorgehoben, von den Krankenkassen auszuzahlen. Damit sind sie verfahrensrechtlich als Streitigkeiten in Angelegenheiten der Sozialversicherung anzusehen, so daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zur Entscheidung berufen sind (ebenso Bulla, Mutterschutzgesetz, § 13 Anm. 87; Schmatz-Zmarclik, Mutterschutzgesetz, § 13 Anm. 15; vgl. auch Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 51 S. 123/9 zur Zuständigkeit bei Auftragsangelegenheiten; a.A. Töns, Mutterschaftshilfe und Mutterschutz, § 13 Anm. II 10).

Das Rechtsmittel ist begründet. Nach § 13 Abs. 2 MuSchG erhalten Frauen, die - wie die Klägerin - nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, aber bei Beginn der Schutzfrist nach § 3 Abs. 2 MuSchG in einem Arbeitsverhältnis stehen ..., während der Schutzfristen des § 3 Abs. 2 und des § 6 Abs. 1 MuG zu Lasten des Bundes in entsprechender Anwendung der Vorschriften der RVO über das MuG. Die Schutzfristen umfassen nach § 3 Abs.2 MuSchG die letzten sechs Wochen vor der Entbindung und nach § 6 Abs. 1 MuSchG die Zeit bis zum Ablauf von acht (bzw. zwölf) Wochen nach der Entbindung. Nach dem entsprechend anwendbaren § 200 Abs. 1 Satz 2 RVO ist Voraussetzung, daß die Betreffende in der Zeit zwischen dem 10. und dem 4. Monat einschließlich dieser Monate vor der Entbindung für mindestens zwölf Wochen in einem Arbeitsverhältnis gestanden hat. Geht man nun vom Zeitpunkt der tatsächlichen Entbindung aus, so ist diese Voraussetzung im Falle der Klägerin nicht gegeben, wohl aber, wenn man von dem voraussichtlichen Entbindungstag, dem 1. Mai 1969, ausgeht. Die Entscheidung hängt also davon ab, ob hier der voraussichtliche Tag der Entbindung (vgl. § 200 Abs. 3 RVO) maßgebend für die Berechnung der Zwölf-Wochenfrist ist oder der tatsächliche Entbindungstag. Meisel-Hiersemann, Mutterschutzgesetz, § 13 Anm. 12, und Töns, aaO, § 200 RVO, Anm. C 1, 2, sind der Auffassung, daß es auf den tatsächlichen Zeitpunkt der Entbindung ankommt, Töns jedoch mit der Einschränkung, daß dies nur dann der Fall sei, wenn der Antrag erst nach der Entbindung gestellt werde; werde das MuG aber bereits vor der Entbindung beantragt, so sei der mutmaßliche Tag der Entbindung maßgebend. Dagegen sind Bulla (aaO, § 13 Anm. 57) und Schmatz-Zmarclik (aaO, § 13 Anm. 11) der Auffassung, daß es immer auf den mutmaßlichen Tag der Entbindung ankommt. Der Senat ist zu dem Ergebnis gekommen, daß in den Fällen der vorliegenden Art die Rahmenfrist des § 200 Abs. 1 Satz 2 RVO auf den Tag der tatsächlichen Entbindung zu beziehen ist. Diese Auslegung wird durch einen Vergleich mit § 200 Abs. 3 Satz 2 RVO bestätigt: Da bei einer Antragstellung vor der Entbindung geklärt werden muß, ob die Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs erfüllt sind (die Leistungen sind ja schon von einem vor der Entbindung liegenden Zeitpunkt an zu gewähren, es kann nicht mit der Entscheidung gewartet werden, bis die Entbindung erfolgt ist), muß hier bei der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen von dem mutmaßlichen Zeitpunkt der Entbindung ausgegangen werden, wie er sich aus dem nach § 200 Abs. 3 Satz 2 RVO beigebrachten Zeugnis eines Arztes oder einer Hebamme ergibt, in dem der mutmaßliche Tag der Entbindung angegeben worden ist. Dies gilt auch für die Frage, ob die betreffende Frau in der Zeit zwischen dem 10. und dem 4. Monat vor der Entbindung für mindestens zwölf Wochen versicherungspflichtig war oder ein Arbeitsverhältnis bestanden hat. Denn auch diese Vorschrift des § 200 Abs. 1 Satz 2 RVO gilt für den Anspruch nach § 13 Abs. 2 MuSchG, um einen ungerechtfertigten Bezug von MuG zu verhindern, auch wenn diese Voraussetzung im Hinblick auf die Anspruchsberechtigung der nichtversicherten Schwangeren nicht ausdrücklich aufgestellt ist. Sie muß jedoch als zusätzliche Voraussetzung verlangt werden, um einen ungerechtfertigten Bezug von MuG zu vermeiden (vgl. Bulla, Mutterschutzgesetz, 3. Aufl. § 13 Anm. 80 und den Bericht des Ausschusses für Arbeit, BT-Drucks. zu IV/3652 S. 9).

Soweit es sich aber nicht um die Auszahlung von Mutterschaftsgeld vor der Entbindung handelt, bleibt der Tag der tatsächlichen Entbindung maßgebend. Es besteht dann kein Anlaß, von einem vermuteten Zeitpunkt der Entbindung auszugehen, wenn die Geburt tatsächlich zu einem anderen Zeitpunkt erfolgt ist, als nach dem obengenannten Zeugnis des Arztes oder der Hebamme anzunehmen war. Hier muß der tatsächliche Zeitpunkt der Entbindung maßgebend sein. Dies muß auch dann gelten, wenn es sich - wie hier - um eine Frühgeburt handelt. Zwar führt dies im vorliegenden Fall dazu, daß bei der Klägerin kein Anspruch auf MuG besteht, während der Anspruch gegeben wäre, wenn man von dem vermutlichen Termin der Niederkunft auszugehen hätte. Darin mag zwar eine gewisse Härte liegen. Würde man indessen, um sie zu vermeiden, bei Frühgeburten von dem mutmaßlichen Entbindungstag ausgehen, dann würde man den Frauen einen Anspruch auf MuG nehmen, die es bei Berechnung der Rahmenfrist des § 200 Abs. 1 Satz 2 RVO nach dem tatsächlichen Entbindungstag zu fordern hätten. Deshalb können auch Billigkeitsgesichtspunkte hier nicht den Ausschlag geben. Im übrigen hält sich der Senat nicht für befugt, das Gesetz in dem Sinne fortzubilden, daß bei allen Früh- und Spätgeburten nicht der tatsächliche, sondern der normale Entbindungstag zugrunde zu legen ist. Denn der Gesetzgeber hat den Fall der Frühgeburt nicht übersehen, wie die Vorschrift über die Verlängerung der Bezugsdauer bei Früh- und Mehrlingsgeburten (§ 200 Abs. 3 Satz 1 RVO) erkennen läßt.

Auf die Revision der Beklagten waren daher die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 928059

BSGE, 127

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