Entscheidungsstichwort (Thema)
Kausalität. Entstehung/Verschlimmerung. Abgrenzung. Magen-Darm-Beschwerden durch Medikamenteneinnahme
Orientierungssatz
1. Zur Abgrenzung zwischen Entstehung und Verschlimmerung eines Leidens.
2. Zur Frage, ob anerkannte Schädigungsleiden Magen-Darm-Beschwerden infolge überhöhter Medikamenteneinnahme als mittelbare Schädigungsfolge wesentlich bedingt haben.
Normenkette
BVG § 1 Abs 1
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 30.09.1985; Aktenzeichen L 2a V 139/84) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 29.10.1984; Aktenzeichen S 10 V 243/83) |
Tatbestand
Umstritten sind (noch) die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen iS des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sowie die Höherbewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
Der 1915 geborene Kläger erhält für "1. Verlust des rechten Oberschenkels mit Versteifung des sehr kurzen Stumpfes im Hüftgelenk, 2. ausgedehnte Narbenbildung am Oberschenkelstumpf rechts, 3. Fistelung am Stumpf und 4. Detonationsschäden an beiden Ohren, links mehr als rechts" Beschädigtenversorgung nach einer MdE um 100 vH einschließlich einer MdE-Erhöhung von 10 vH wegen besonderer beruflicher Betroffenheit (§ 30 Abs 2 BVG). Mit Schreiben vom 11. Mai 1981 beantragte er die Neufeststellung seines Versorgungsanspruchs ua mit dem Hinweis, er führe eine Hüftgelenksarthrose und Wirbelsäulenveränderungen (Seitenverbiegung der Wirbelsäule) auf die anerkannten Schädigungsfolgen zurück. Im Juli 1981 unterzog er sich wegen der Coxarthrose einer Endoprothesenoperation. Die Versorgungsverwaltung lehnte seinen Antrag ua mit der Begründung ab, die arthrotischen Veränderungen im linken Hüftbereich, welche die Implantation der Endoprothese notwendig gemacht hätten, und die Wirbelsäulenveränderungen stünden mit der Schädigung in keinem ursächlichen Zusammenhang (Bescheid vom 6. Oktober 1982; Widerspruchsbescheid vom 23. August 1983). Die Klage, mit welcher der Kläger zusätzlich die Anerkennung von Neigung zu Magen-Darm-Beschwerden als Schädigungsfolge wegen notwendigen Schmerzmittelgebrauchs sowie die Gewährung von Rente unter Annahme einer MdE von 100 vH iS des § 30 Abs 1 BVG begehrte, ist vor dem Sozialgericht (SG) ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 29. Oktober 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen heißt es: Zwar beruhe die linksseitige Hüftgelenksarthrose zu einem geringen Teil, die Wirbelsäulenveränderung (Seitenverbiegung der Wirbelsäule) zum Teil auf den ungünstigen Stumpfverhältnissen. Doch rechtfertigten diese Beeinträchtigungen keine Heraufsetzung des Gesamtgrades der MdE auf 100 vH iS von § 30 Abs 1 BVG. Die Neigung zu Magen-Darm-Beschwerden in der Zeit von Januar 1980 bis zur Hüftoperation im Juli 1981 infolge erhöhter Medikamenteneinnahme könne deswegen nicht als mittelbare Schädigungsfolge berücksichtigt werden, weil der Kläger seit der Hüftoperation im wesentlichen beschwerdefrei sei (Urteil vom 30. September 1985).
Der Kläger rügt mit der - vom Senat zugelassenen - Revision die Möglichkeit einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts, Verletzung der versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm und des Untersuchungsgrundsatzes, sowie Divergenz insbesondere zur Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22. März 1983 - 2 RU 64/81 - über die Anerkennung zusätzlicher Gesundheitsstörungen.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 6. Oktober 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 1983 zu ver- urteilen, dem Kläger unter Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen vom 1. Mai 1981 an Rente nach einer MdE von 100 vH iS von § 30 Abs 1 BVG zu gewähren,
hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das zweitinstanzliche Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit erfolgreich, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist.
Mit der Besetzungsrüge, die vorab zu prüfen war, kann der Kläger nicht durchdringen. Dafür hätte er Tatsachen darlegen müssen, aus denen sich der absolute Revisionsgrund einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung (§ 202 SGG, § 551 Nr 1 Zivilprozeßordnung) ergeben könnte (Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, Rdnrn 19, 22). Seine ohne nähere Hinweise auf den Geschäftsverteilungsplan des LSG vorgetragene Behauptung, die Unzuständigkeit des LSG könne deswegen gegeben sein, weil die Berufung beim 2. Senat des LSG eingegangen, aber vom 2a-Senat entschieden worden sei, genügt hierfür nicht.
Mit Recht beanstandet der Kläger dagegen, das LSG habe den medizinischen Sachverhalt nicht hinreichend genau wiedergegeben bzw nicht ausreichend von Amts wegen erforscht und dadurch gegen den Untersuchungsgrundsatz (§ 103 SGG) verstoßen. Gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Er soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB 10). Für eine Überzeugungsbildung in dem Sinne, ob diese Voraussetzungen hier verwirklicht sind oder nicht, reichen die vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen nicht aus.
An diesen Feststellungen fehlt es zunächst hinsichtlich der vom Kläger geltend gemachten Hüftgelenks- und Wirbelsäulenbeschwerden. Insoweit hat das LSG ausgeführt, daß die linksseitige Hüftgelenksarthrose (mit der im Juli 1981 erfolgten Implantation der Endoprothese) zu einem "geringen Teil", die Wirbelsäulenveränderung (Seitenverbiegung der Wirbelsäule) "zum Teil" durch die ungünstigen Stumpfverhältnisse verursacht worden sei. Mit diesen Feststellungen läßt sich nicht die Frage beantworten, ob die genannten Leiden durch eine Schädigung iS der das Versorgungsrecht beherrschenden Theorie der wesentlichen Bedingung (BSGE 60, 58 mwN) entstanden oder verschlimmert worden sind.
Bei der Abgrenzung zwischen Entstehung und Verschlimmerung eines Leidens ist, wie das BSG bereits entschieden hat, folgendes zu beachten: Beruht ein Leiden auf einer Anlage, die bisher kein krankhaftes Geschehen hervorgerufen hat, und wird das krankhafte Geschehen erst durch den schädigenden Vorgang iS des BVG zum Ausbruch gebracht, stehen als Bedingungen sowohl die Anlage als auch der schädigende Vorgang (hier die ungünstigen Stumpfverhältnisse) nebeneinander; sind beide Bedingungen iS der versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm annähernd gleichwertig, muß das Leiden als durch den Wehrdienst verursacht und damit iS der Entstehung anerkannt werden. Hat sich hingegen ein schon in Erscheinung getretenes Krankheitsgeschehen infolge versorgungsrechtlich geschützter Einflüsse stärker oder beschleunigter entwickelt, ist Verschlimmerung anzunehmen (BSG SozR 3100 § 1 Nr 3; 3200 § 81 Nrn 3 und 26 mwN; Kieswald in: Entwicklung des Sozialrechts, Aufgabe der Rechtsprechung, 1984, S 469, 479); in diesem Fall ist der abgrenzbar verschlimmerte Anteil als schädigungsbedingt zu werten.
Die gleiche Kausalitätsbewertung entscheidet darüber, ob im vorliegenden Fall die anerkannten Stumpfbeschwerden oder die linksseitige Hüftgelenksarthrose, soweit sie als Schädigungsfolge zu beurteilen ist, oder beide Leiden gemeinsam beim Kläger infolge überhöhter Medikamenteneinnahme Magen-Darm-Beschwerden als mittelbare Schädigungsfolge wesentlich bedingt haben. Das LSG hat nicht erkannt, daß die Feststellung der Magen-Darm-Beschwerden als Schädigungsfolge durch den Beklagten auch dann geboten ist, wenn dieses Leiden zwar "abgeklungen", aber noch ein Restzustand körperlicher Beeinträchtigung gegeben ist. Das Urteil des BSG vom 22. März 1983 - 2 RU 64/81 - hebt dies nicht besonders hervor; doch muß es in diesem Sinne verstanden werden. Jedenfalls ist die genannte Voraussetzung für den Bereich des Versorgungsrechts zu fordern, in dem völlig abgeklungene Gesundheitsstörungen aufgrund ausdrücklichen Hinweises des Gesetzgebers nicht als Schädigungsfolgen anzuerkennen sind (§§ 18 Abs 1 Satz 2, 19 Abs 3 Satz 2 BVG). Ob beim Kläger im Hinblick auf die Magen-Darm-Beschwerden noch von einem Restzustand körperlicher Beeinträchtigung gesprochen werden kann, ist zweifelhaft. Immerhin hat das LSG ausgeführt, daß der Kläger von Januar 1980 bis zur Hüftoperation im Juli 1981 unter Magenschleimhautentzündungen und Ulcerationen an Magen und Zwölffingerdarm gelitten habe. Dies könnte darauf hindeuten, daß gewisse Folgen - zB Narben - verblieben sind.
Von der Anwendung der Kausalitätsgrundsätze, die hier sowohl für die Hüftgelenksarthrose als auch für die Wirbelsäulenbeschwerden als auch für die eventuelle Neigung zu Magen-Darm-Beschwerden eine Rolle spielen, ist die Bemessung des Schadens (§ 1 Abs 1, § 30 Abs 1 und 2 BVG), dh des schädigungsbedingten Verschlimmerungsanteils am Gesamtleidenszustand, zu unterscheiden (BSGE 6, 192, 194; vgl auch BSGE 6, 87; 15, 228; 16, 198; 41, 70). Insoweit ist zu beachten, daß eine "wesentliche" Änderung der Verhältnisse nur dann anzunehmen ist, wenn der Grad der MdE, der durch die gesamte von der Schädigungsfolge ausgehenden Verschlimmerung bedingt wird, um mehr als 5 vH gestiegen ist (BSG SozR Nrn 35 und 43 zu § 62 BVG sowie Nr 11 zu § 622 RVO). Auch wenn danach die MdE nicht erhöht werden könnte, besteht immerhin die theoretisch nicht auszuschließende Möglichkeit, einen Verschlimmerungsanteil festzustellen, der dann auch anzuerkennen wäre.
Es ist nicht auszuschließen, daß das Berufungsgericht bei Beachtung der oben erörterten Gesichtspunkte zu einem anderen Ergebnis gelangt. Die für die Fragen der Verursachung und der eventuellen weiteren Anerkennung erforderlichen Tatsachenfeststellungen sind nachzuholen. Zu diesem Zweck ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen