Leitsatz (amtlich)
Eine Versicherte, die Witwenrente aus der Invalidenversicherung bezog, weil sie das 55. Lebensjahr vollendet und mindestens 4 lebende Kinder geboren hatte (RVO § 1256 Abs 1 Nr 4 idF vor dem SVAG), brauchte nicht nach ArVNG Art 2 § 42 S 2 jährlich 9 Monatsbeiträge zu entrichten, um sich aus ihrer eigenen Versicherung den Anspruch auf die Vergleichsberechnung zu erhalten.
Leitsatz (redaktionell)
Nach der Auffassung des erkennenden Senats ist es gerechtfertigt und geboten, auch dem S 3 des RVO § 1264 Abs 3 aF eine gewisse Bedeutung für das Erfordernis des ArVNG Art 2 § 42, jährlich mindestens 9 Monatsbeiträge zu entrichten, beizumessen.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 42 S. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1256 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1924-06-22, § 1264 Abs. 3 S. 3 Fassung: 1937-12-21
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 23. Januar 1963 und das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 19. Juni 1961 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird unter entsprechender Änderung ihres Bescheides vom 28. Oktober 1959 verpflichtet, die Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes durchzuführen und der Klägerin die sich danach ergebende höhere Rente vom 1. August 1959 an zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Es ist streitig, ob die Versichertenrente der Klägerin nach den vor dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften oder nach neuem Recht zu berechnen ist.
Die im Jahre 1894 geborene Klägerin bezieht seit 1949 Witwenrente aus der Invalidenversicherung ihres im Jahre 1941 gestorbenen Ehemannes. Die Voraussetzungen zum Rentenbezug erfüllte sie damals insofern, als sie 55 Jahre alt war und vier lebende Kinder geboren hatte. Von 1950 bis Mai 1959 war die Klägerin selbst versicherungspflichtig beschäftigt. Für diese Zeit sind hinreichend Beiträge zur Erfüllung der Wartezeit nachgewiesen; davon sind sieben Monatsbeiträge für 1957 und neun für 1958 entrichtet. Seit August 1959 ist die Klägerin berufsunfähig.
Durch Bescheid vom 28. Oktober 1959 gewährte die Beklagte der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. August 1959 an. Sie berechnete die Leistung nach den seit dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften. Eine Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) lehnte sie wegen des Fehlens von zwei Monatsbeiträgen für das Jahr 1957 ab. Zwei im Dezember 1959 - nach Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit - von der Klägerin nachentrichtete Monatsbeiträge von je 14,- DM erkannte die Beklagte nicht als berücksichtigungsfähig an.
Gegen den Bescheid vom 28. Oktober 1959 hat die Klägerin Klage erhoben und die - höhere - Vergleichsrente mit folgender Begründung gefordert: Art. 2 § 42 ArVNG enthalte, soweit er für den Anspruch auf die Vergleichsberechnung die Entrichtung von neun Monatsbeiträgen seit 1957 verlange, Grundgedanken des früheren Anwartschaftsrechts. Deshalb müsse auch der Grundsatz des § 1264 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF gelten, nach dem der Bezug auch einer Witwenrente zur Erhaltung der Anwartschaft aus der eigenen Versicherung genüge. Somit sei sie nicht verpflichtet gewesen, sich den Anspruch auf die Vergleichsrente durch jährliche Entrichtung von neun Monatsbeiträgen von 1957 an zu erhalten.
Demgegenüber hat die Beklagte die Meinung vertreten, daß nur Bezieher einer Rente aus eigener Versicherung von der Entrichtung der in Art. 2 § 42 ArVNG verlangten neun Monatsbeiträge befreit seien, nicht aber Bezieher einer Witwen- oder Witwerrente.
Die Klage hat in den Vorinstanzen keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts - SG - Speyer vom 19. Juni 1961, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Rheinland-Pfalz vom 23. Januar 1963). Das Berufungsgericht hat im wesentlichen ausgeführt: Nach § 1264 Abs. 3 letzter Satz RVO aF sei die Klägerin bis zum 31. Dezember 1956 allerdings nicht verpflichtet gewesen, zur Erhaltung der Anwartschaft aus ihrer eigenen Rentenversicherung jährlich 26 Wochenbeiträge zu leisten. Die erwähnte Vorschrift gelte jedoch seit dem 1. Januar 1957 nicht mehr. Sie habe keinen allgemeinen Rechtsgedanken enthalten, der im neuen Recht Fortgeltung beanspruchen könne. Die einst sinnvolle Ausnahmevorschrift sei sinnwidrig geworden, nachdem die Voraussetzungen für den Bezug der Witwenrente immer mehr gelockert worden seien und man schließlich - am 1. Januar 1957 - allgemein und ausnahmslos bei dem Grundsatz der unbedingten Witwenrente angelangt sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und unter entsprechender Änderung des Bescheides der Beklagten vom 28. Oktober 1959 diese zu verurteilen, die Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 ArVNG durchzuführen und ihr die sich danach ergebende höhere Rente vom 1. August 1959 an zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen hat die im Jahre 1959 berufsunfähig gewordene Klägerin Anspruch auf die sogenannte Vergleichsrente, obwohl für das Kalenderjahr 1957 - die übrigen Voraussetzungen des Art. 2 § 42 ArVNG sind erfüllt - nicht neun, sondern nur sieben Monatsbeiträge entrichtet worden sind; die im Dezember 1959 für 1957 nachentrichteten Beiträge sind nicht wirksam, weil damals der Versicherungsfall bereits eingetreten war (§ 1419 Abs. 1 RVO).
Wie bereits in mehreren Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) aufgezeigt worden ist, hat die Neuregelung der Rentenversicherung im Jahre 1957 zwar im Grundsatz das alte Anwartschaftsrecht beseitigt, gleichwohl aber Reste anwartschaftlicher Gedanken beibehalten (vgl. BSG 11, 254, 256; 15, 271, 279; 20, 282, 284; SozR RVO § 1276 Nr. 3). Dies gilt vor allem für die Regelung des Art. 2 § 42 ArVNG, daß ein Versicherter, wenn er nicht des - unter bestimmten Voraussetzungen gegebenen - Anspruchs auf die Vergleichsberechnung verlustig gehen will, vom 1. Januar 1957 an für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles mindestens neun Monatsbeiträge zu entrichten hat. Wegen der Weitergeltung von Resten des alten Anwartschaftsrechts ist es gerechtfertigt, bei der Anwendung der in Rede stehenden Vorschriften Grundsätze, die dem Anwartschaftsrecht immanent waren, zu übernehmen (vgl. BSG 20, 282). Dementsprechend hat bereits das BSG den Grundsatz des § 1264 Abs. 3 Satz 1 RVO aF - danach waren vom Eintritt der Invalidität an zur Erhaltung der Anwartschaft keine Beiträge mehr erforderlich - in der Weise auf Art. 2 § 42 ArVNG entsprechend angewandt, daß ein erwerbsunfähiger und deswegen rentenberechtigter Versicherter nicht mindestens neun Monatsbeiträge zu entrichten braucht, um die Durchführung der Vergleichsberechnung für seine Hinterbliebenen zu sichern (BSG 11, 254). Nach der Auffassung des erkennenden Senats ist es gerechtfertigt und geboten, auch dem Satz 3 des § 1264 Abs. 3 RVO aF - danach war für die Erhaltung der Anwartschaft der Bezug einer Invaliden-, Witwen- oder Witwerrente der Invalidität gleichgestellt - eine gewisse Bedeutung für das Erfordernis des Art. 2 § 42 ArVNG, jährlich mindestens neun Monatsbeiträge zu entrichten, beizumessen. Dem LSG ist allerdings zuzugeben, daß die Gleichstellung des Bezugs einer Witwenrente mit der Invalidität der Versicherten (Satz 3 aaO) an innerer Berechtigung im Laufe der Zeit verloren hat. Als die Vorschrift durch Verordnung vom 17. Mai 1934 (RGBl. I 419) in die RVO aufgenommen wurde, war sie sinnvoll und angebracht; denn damals war die Gewährung der Witwenrente an strenge Voraussetzungen - Invalidität der Witwe oder Vollendung des 65. Lebensjahres - geknüpft. Daß man unter diesen, im Regelfall die Leistungsfähigkeit ausschließenden Umständen von der Witwe keine weitere Beitragsleistung erwartete, war verständlich. In der Folgezeit wurden aber die Anspruchsvoraussetzungen für die Witwenrente in der Invalidenversicherung wiederholt, vor allem durch das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz vom 17. Juni 1949 (WiGBl. S. 99) gelockert; für Versicherungsfälle vom 1. Juni 1949 an war man schon damals bei dem Grundsatz der unbedingten Witwenrente angelangt, der seit 1957 allgemein auch für die Rentenversicherung der Arbeiter gilt. Die Änderungen in den. Voraussetzungen für den Bezug der Witwenrente rechtfertigen es jedoch nicht, dem Gedanken des § 1264 Abs. 3 Satz 3 RVO aF jede Bedeutung bei der Anwendung des Art. 2 § 42 ArVNG abzusprechen. Nach § 1253 Abs. 2 RVO aF war eine versicherte Ehefrau nach dem Tode ihres Ehemannes aus der eigenen Versicherung schon dann invalidenrentenberechtigt, wenn - vorausgesetzt, daß die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten war - sie das 55. Lebensjahr vollendet und mindestens vier lebende Kinder geboren hatte; sie war also im Bezug der Rente aus der eigenen Versicherung einer invaliden Versicherten gleichgestellt. Diese Gleichstellung muß nach der Auffassung des Senats bei der Anwendung des Art. 2 § 42 ArVNG beachtet werden. Das bedeutet, daß eine Versicherte, die Witwenrente aus der Invalidenversicherung bezog, weil sie - wie die Klägerin - die oben angeführten persönlichen Voraussetzungen des § 1256 Abs. 1 Nr. 4 RVO aF erfüllt hatte, nicht jährlich neun Monatsbeiträge zu entrichten brauchte, um sich aus ihrer eigenen Versicherung den Anspruch auf die Vergleichsberechnung zu erhalten.
Hiernach hat die Beklagte der Klägerin zu Unrecht die Vergleichsrente versagt. Die klagabweisenden Urteile der Vorinstanzen müssen aufgehoben werden; die Beklagte ist unter entsprechender Änderung ihres Bescheides vom 28. Oktober 1959 zu verpflichten, dem Klageantrag zu entsprechen.
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen