Leitsatz (amtlich)
1. Für das vorzeitige Altersruhegeld nach RVO § 1248 Abs 2 trat nach dem bis zum Inkrafttreten des RVÄndG geltenden Recht der Versicherungsfall ein, wenn und sobald der Versicherte das 60. Lebensjahr vollendet hatte und seit mindestens einem Jahr ununterbrochen arbeitslos war, gleichgültig, welche der beiden Voraussetzungen früher erfüllt war (vgl BSG 1963-10-25 1 RA 273/61 = BSGE 20, 48).
2. Nach dem Jahr, in das dieser Zeitpunkt fiel, richtet sich die allgemeine Bemessungsgrundlage für die Berechnung des vorzeitigen Altersruhegeldes; Ausfallzeiten sind längstens bis zu diesem Zeitpunkt anzurechnen.
Normenkette
RVO § 1248 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1255 Fassung: 1957-02-23, § 1259 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Oktober 1963 und das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 22. Mai 1963 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger fordert eine Erhöhung seiner Rente; unter den Beteiligten ist streitig, wann beim Kläger der Versicherungsfall für das vorzeitige Altersruhegeld (§ 1248 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) eingetreten ist.
Der Kläger bezieht aufgrund des Bescheides vom 20. Oktober 1961 seit dem 1. August 1961 das vorzeitige Altersruhegeld wegen einjähriger Arbeitslosigkeit (§ 1248 Abs. 2 RVO). Das 60. Lebensjahr hatte er bereits im Dezember 1959 vollendet. Im Juni 1960 war er mehr als ein Jahr lang arbeitslos gewesen. Die Bewilligung des Altersruhegeldes hatte er im August 1961 beantragt.
Die Beklagte nahm an, der Versicherungsfall sei nicht mit dem Erreichen der Altersgrenze (Dezember 1959) und auch nicht mit dem Rentenantrag oder Beginn der Leistung (August 1961), sondern mit dem Ablauf des ersten Jahres ununterbrochener Arbeitslosigkeit (Juni 1960) eingetreten. Nach diesem Zeitpunkt orientiere sich die allgemeine Rentenbemessungsgrundlage (§ 1255 Abs. 2 RVO) und das Ende der zu berücksichtigenden Ausfallzeiten (§ 1259 Abs. 2 Satz 1 RVO).
Der Kläger hält diese Auffassung für unrichtig. Er hat sich dagegen gewandt, daß seine Rente nach der für 1960 geltenden Rentenbemessungsgrundlage von 5072,- DM und nicht nach dem für das Jahr des Rentenbeginns - 1961 - maßgebenden Wert von 5325,- DM berechnet worden ist. Außerdem ist er damit unzufrieden, daß ihm als Ausfallzeiten die Zeiten seiner Arbeitslosigkeit nicht bis zum Rentenbeginn (bis zum 31. Juli 1961), sondern nur bis zum 31. Mai 1960 - dem Monat, mit dem das erste Jahr der Arbeitslosigkeit zu Ende ging -, gutgebracht worden sind. Aus diesen Gründen hat er beantragt, die Beklagte zur Zahlung einer entsprechend höheren Rente zu verurteilen.
Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben der Klage stattgegeben (Urteil des SG Oldenburg vom 22. Mai 1963; Urteil des LSG Niedersachsen vom 22. Oktober 1963). Für sie ist entscheidend, daß in § 1248 Abs. 2 RVO der Rentenantrag besonders erwähnt worden ist. Das sei bemerkenswert, weil die Leistungen der Rentenversicherungen nach § 1545 Abs. 1 Nr. 2 RVO ohnehin nur auf Antrag zu erbringen seien. Wenn man nicht unterstellen wolle, daß das Gesetz zweimal dasselbe angeordnet habe, müsse man nach der Besonderheit des Antragserfordernisses in § 1248 Abs. 2 RVO suchen. Diese Besonderheit könne nur darin gesehen werden, daß der Versicherte die Bestimmung des für die Leistung maßgeblichen Zeitpunktes selbst in der Hand haben solle. Von dieser Überlegung her sei es nicht richtig, den Versicherungsfall in den Juni 1960 zu verlegen, vielmehr sei dieses Ereignis im August 1961 eingetreten.
Das LSG hat die Revision zugelassen; die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt und beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Beklagte sieht ihre Rechtsauffassung in mehreren Urteilen des Bundessozialgerichts - BSG - (vor allem in BSG 20, 48 ff) bestätigt.
Der Kläger hat sich im gegenwärtigen Rechtszuge nicht vertreten lassen.
Die Revision ist begründet. Dem Kläger, der im Dezember 1959 das 60. Lebensjahr vollendet hatte und im Juni 1960 ein Jahr lang arbeitslos war, waren über diese Zeit hinaus keine weiteren Ausfallzeiten anzurechnen. Auch ist für ihn die für 1960 geltende Rentenbemessungsgrundlage maßgebend.
Nach § 1259 Abs. 2 Satz 1 RVO werden Ausfallzeiten längstens bis zum Eintritt des Versicherungsfalls berücksichtigt. Für das vorzeitige Altersruhegeld wegen einjähriger Arbeitslosigkeit (§ 1248 Abs. 2 RVO) ergibt sich der Versicherungsfall aus der Vollendung des 60. Lebensjahres und der ein Jahr andauernden Arbeitslosigkeit, gleichgültig, welcher dieser beiden Umstände zeitlich früher liegt (vgl. BSG 20, 48, 51). Der Kläger vermochte den Versicherungsfall nicht dadurch hinauszuschieben, daß er den Antrag auf das Altersruhegeld erst Monate nach den beiden genannten Geschehnissen stellte. Die Befugnis zur willentlichen Einflußnahme auf den Eintritt des Versicherungsfalls ist den Versicherten erst mit dem gegenwärtig geltenden § 1248 Abs. 7 RVO eingeräumt worden. Danach können allerdings die Versicherten bestimmen, daß ein späterer Zeitpunkt als das im Gesetz festgelegte Lebensalter (65 oder 60 Jahre) für die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen maßgebend sein soll. Diese Vorschrift ist aber erst mit Wirkung vom 1. Juli 1965 an in das Gesetz eingefügt worden (Art. 5 § 10 Abs. 1 e Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 - RVÄndG -) und gilt nicht für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor diesem Stichtag (Art. 5 § 3 aaO).
Was Versicherungsfall für das vorzeitige Altersruhegeld ist, war vor dem Inkrafttreten des RVÄndG umstritten. In der Rechtsprechung des BSG hatte sich die Auffassung gebildet, daß der Rentenantrag nicht dazu gehöre (vgl. BSG 20, 48 ff; BSG SozR Nr. 3 zu § 1255 RVO). Diese Auffassung liegt nach der vorliegenden Entscheidung zugrunde. Die Rechtsprechung des BSG war weniger aus einer Vorschrift des Gesetzes hergeleitet worden; sie lehnte sich vielmehr an den Inhalt des - im Gesetz verwendeten, aber nicht definierten - Begriffs "Versicherungsfall" an. Darunter wurde - ähnlich wie im Privatversicherungsrecht - die Verwirklichung eines Ereignisses (oder das Zusammentreffen mehrerer Ereignisse) im Leben des Versicherten verstanden, dessen finanzielle Nachteile die Versicherung ausgleichen soll. Der Zeitpunkt, zu dem das Ereignis eintritt, ist entweder überhaupt nicht vorhersehbar oder ein für allemal feststehend - nur nach objektiven Merkmalen bestimmbar. Der Versicherte ist dieser Situation ausgesetzt, er kann sie aus eigenem Willen nicht abwenden. Dies entspricht dem Wesen einer Versicherung. Ihr wohnt ein Risiko, die Gefahr eines Nachteils, eine Unsicherheit inne. Mit diesem begriffsimmanenten Unsicherheitselement ist es unvereinbar, daß der Versicherte, nachdem das Ereignis eingetreten ist und er darüber Gewißheit erlangt hat, die Rechtslage einseitig zu seinem Vorteil ändern kann. Deshalb kann der Rentenantrag - nach der erwähnten Rechtsprechung - nicht zum Versicherungsfall des vorzeitigen Altersruhegeldes gehören. Diese Auffassung ist allerdings im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung nicht konsequent durchgeführt; sie steht im Gegensatz zu anderen, in der Rechtsprechung ebenfalls vertretenen Lösungen. So erscheint vom Versicherungsprinzip her eine Vorschrift wie die des § 50 Abs. 5 des Reichsknappschaftsgesetzes selbstverständlich und allgemein verbindlich (vgl. dazu Malkewitz, Deutsche Rentenversicherung (DRV) 1964, 173 ff. 180; Die Sozialversicherung 1965, 175). Nach dieser Vorschrift werden auf die Wartezeit "nur die vor Eintritt des jeweiligen Versicherungsfalles zurückgelegten Versicherungszeiten angerechnet". In Widerspruch zu dieser Norm verwickelt sich jedoch, wer den Eintritt des Versicherungsfalls für das Altersruhegeld an das Lebensalter des Versicherten knüpft und dennoch - ungeachtet des eingetretenen Versicherungsfalls - später entrichtete Beiträge wirksam sein läßt. Auch ist in bezug auf das Altersruhegeld dem "Versicherungsfall" keine Sperrwirkung gegen eine Fortsetzung der Versicherung beigelegt. Im Gegenteil, Pflicht oder Recht zur Beitragszahlung bestehen bis zum Bezug des Altersruhegeldes fort (§§ 1229 Abs. 1 Nr. 1, 1233 Abs. 1 Satz 2 RVO). Den Anfang des Rentenbezugs zu bestimmen, kann aber wiederum dem Entschluß des einzelnen überlassen sein (BSG SozR Nr. 3 zu § 1233 RVO; BSG 18, 212). Im Gesetz ist mit dem Leistungsbeginn der Versicherung ein Ende gesetzt. Dieses Ende wird man - im Vergleich mit anderen Endterminen, die dem Gesetzgeber als Grenze der Versicherung zur Wahl standen - als das äußerste überhaupt anzusehen haben. Hieraus könnte man folgern, daß die Befugnis zur Altersversicherung nicht notwendig in dem Augenblick erlöscht, in dem die Altersgrenze überschritten und andere Tatbestandsmerkmale erfüllt werden, sondern daß die Altersversicherung ihren natürlichen Abschluß dann finde, wenn sie in das Leistungsverhältnis umgekehrt wird. Versucht man, den Begriff des Versicherungsfalls mit unter diesem Blickwinkel zu erläutern, dann verliert er - zumindest für einen Teilbereich des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung - an sachlichem Eigengehalt. Dieser Begriff wäre insoweit nicht mehr aus sich heraus zu interpretieren, sondern aus dem Sinnzusammenhang zu deuten, in dem er jeweils verwendet ist. Wie bereits ausgeführt, hat jedoch das Bundessozialgericht (1. und 12. Senat) - ungeachtet der Zulässigkeit einer nachträglichen Weiterversicherung jedenfalls bis zur Wartezeiterfüllung - den Versicherungsfall einheitlich als eine dem Willensentschluß des Versicherten entzogene, objektiv festgelegte Begebenheit betrachtet.
Diese Rechtsprechung hat sich durchgesetzt. Ihr will der Gesetzgeber zwar - wie in den Gesetzesmaterialien zum RVÄndG erklärt ist - mit dem neu geschaffenen Absatz 7 des § 1248 RVO "entgegenwirken". Er hat aber dieser Vorschrift keine Rückwirkung verliehen. Dies erscheint auffällig, weil der Absatz 7 nach dem Regierungsentwurf "der Klarstellung von aufgetretenen Auslegungsfragen" dienen sollte (Bundestagsdrucksache IV 2572). Wenn der Gesetzgeber sich gleichwohl zu einer Gesetzesänderung nur für die Zukunft verstand und von einer rückanknüpfenden Legalinterpretation absah, dann ist sein Wille dahin zu deuten, daß er zuvor entstandene Rechtsbeziehungen nicht von der neuen Vorschrift und der darin zum Ausdruck gekommenen Vorstellung erfaßt wissen will. Hierbei mag ihn die Überlegung geleitet haben, daß eine richterlich sanktionierte Verwaltungsübung für die Vergangenheit unangetastet bleiben soll.
Dieser Entscheidung des Gesetzgebers folgt der Senat. Daraus ergibt sich für den vorliegenden Streitfall, daß der Kläger nach Erreichen des 60. Lebensjahres und nach einjähriger Arbeitslosigkeit weitere Ausfallzeiten nicht mehr zurücklegen konnte und der Rentenberechnung die allgemeine Bemessungsgrundlage des Jahres 1960 zugrunde zu legen war.
Hinsichtlich anzurechnender Ausfallzeiten erscheint das Ergebnis einleuchtend (vgl. auch BSG 20, 48 ff., 51; 21, 21, 23). Nach § 1259 Abs. 2 Satz 2 RVO scheiden Zeiten der Arbeitslosigkeit nämlich nur dann als Ausfallzeiten aus, wenn gleichzeitig das vorzeitige Altersruhegeld bezogen wird. Daß der Versicherte den Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld erworben, aber nicht geltend gemacht hatte, hindert mithin nicht die Begründung einer Ausfallzeit. Der Versicherte könnte also - wenn ihm dies im Hinblick auf die angestrebte Rentenhöhe wünschenswert erschiene - sein Rentenbegehren zurückstellen, nur um weitere Ausfallzeiten anzusammeln. Sein Leistungsrecht ließe sich mithin ohne zusätzlichen Beitragsaufwand verbessern. Damit käme dem Versicherten ein unangebracht erscheinender Vorteil zugute. Dies wird bei der Annahme eines vom Willen des Versicherten unbeeinflußt eintretenden Versicherungsfalles vermieden.
Ebenso ist auch der für die allgemeine Rentenbemessungsgrundlage (§ 1255 Abs. 2 RVO) maßgebliche Zeitpunkt (Eintritt des Versicherungsfalls) nicht in das Belieben des Versicherten gestellt. Gegen diese Ansicht ist allerdings das Bedenken erhoben worden, sie stehe mit der vom Gesetzgeber verfolgten Absicht nicht in Einklang; die allgemeine Rentenbemessungsgrundlage sei gerade das Element der Rentenberechnung, mit dem die Rentenhöhe in Beziehung gebracht werde zu den aktuellen Lohnverhältnissen, die zur Zeit der Rentenfestsetzung maßgebend seien (vgl. Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung 1957, I 1 zu § 1255 RVO). Dieses Ziel sei besser zu erreichen, wenn man an Stelle des Versicherungsfalls - wie in der Entscheidung in BSG SozR Nr. 3 zu § 1255 RVO erwogen worden ist - vom Ende des einzelnen Versicherungslebens ausgehe. Der Wert der einzelnen Rente bleibe hinter dem Produktivitätsstand zurück und würde bei einer fallenden Wirtschaftsentwicklung über diesen Wert hinausgehen, wenn man für die allgemeine Bemessungsgrundlage einen vergangenen Zeitpunkt, z. B. den der weiter zurückliegenden Überschreitung der Altersgrenze, ausschlaggebend sein lasse. Diesen Erwägungen vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Die Begriffe "Versicherungsfall", "Beginn der Rente" oder "Ende des letzten Versicherungszeitraumes" sind zu bekannt, als daß angenommen werden kann, der Gesetzgeber habe den einen von ihnen gebraucht, einen anderen aber gemeint. Hinzu kommt, daß der in § 1255 Abs. 2 RVO verwendete Ausdruck Versicherungsfall eine weiter reichende Bedeutung hat und im Zusammenhang mit dem Gesamtsystem der Rentenberechnung zu sehen ist. Wollte man den Begriff Versicherungsfall an dieser Stelle anders auslegen, so trüge man in die Rentenberechnung eine Rechtsunsicherheit hinein, die sich wegen einer - vielleicht wünschenswerten - Entscheidung im Einzelfall nicht verantworten ließe (vgl. Malkewitz, Die Sozialversicherung 1965, 175).
Der angefochtene Bescheid erweist sich demnach als richtig; die ihn aufhebenden Urteile der Vorinstanzen sind nicht aufrechtzuerhalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1, 4 SGG.
Fundstellen