Leitsatz (amtlich)
In einem Verfahren wegen Kürzung von Hinterbliebenenrenten nach RVO § 598 sind andere Hinterbliebene desselben Versicherten notwendig beizuladen (Anschluß an BSG 1969-11-12 4 RJ 521/66 = SozR Nr 36 zu § 75 SGG).
Normenkette
RVO § 598 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 75 Abs. 2 Alt. 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 23.10.1974; Aktenzeichen L 2 Ua 142/72) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 12.12.1972; Aktenzeichen S 12a U 665/72) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Oktober 1974 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Kläger sind die Witwe und die Waise des am 30. Dezember 1960 durch Arbeitsunfall verstorbenen Dr. B (B.). Die Beklagte gewährte ihnen deswegen durch Bescheid vom 26. April 1961 Hinterbliebenenrente von je einem Fünftel des anrechnungsfähigen Jahresarbeitsverdienstes (JAV) des Verstorbenen; sie erhöhte die Rente der Klägerin zu 1) durch Bescheid vom 7. August 1963 ab 1. Juli 1963 auf zwei Fünftel des JAV. Daneben gewährte die Beklagte, ohne daß dies den Klägern bekannt war, dem am 28. Mai 1961 geborenen Kind Hans-Ulrich R (R.) durch Bescheid vom 27. Mai 1964 eine Waisenrente von einem Fünftel des JAV; sie hielt dieses Kind für ein nichteheliches Kind des verstorbenen B. Nach dem Tod der Mutter des Kindes am 18. Februar 1972 erhöhte die Beklagte seine Rente durch Bescheid vom 26. April 1972 auf drei Zehntel des JAV und kürzte sie gemäß § 598 RVO anteilmäßig, weil nunmehr alle Hinterbliebenenrenten zusammen vier Fünftel des JAV des Verstorbenen überstiegen. Durch einen weiteren Bescheid vom 26. April 1972 kürzte die Beklagte aus demselben Grund auch die Renten der Kläger. Auf deren Klage hat das Sozialgericht (SG) Freiburg den Bescheid aufgehoben (Urteil vom 12. Dezember 1972). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg zurückgewiesen (Urteil vom 23. Oktober 1974). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, daß nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über die rechtliche Stellung des nichtehelichen Kindes - NeG - vom 19. August 1969 (BGBl I 1243) am 1. Juli 1970 die Beklagte den Klägern gegenüber nicht mehr habe feststellen können, daß B. der Vater des nichtehelichen Kindes R. sei. Eine solche auch die Kläger bindende Feststellung sei nur noch unter den im NeG näher bestimmten Voraussetzungen möglich, die vorliegend nicht erfüllt seien. Die Kürzung der Renten der Kläger sei daher rechtswidrig.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und eine Verletzung des § 598 RVO geltend gemacht. Auf den Hinweis des Gerichts, daß vom erkennenden Senat die notwendige Beiladung des Kindes R. zu prüfen sei, trägt die Beklagte vor, sie sei der Auffassung, daß eine Beiladung hätte erfolgen müssen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 23. Oktober 1974 und des SG Freiburg vom 12. Dezember 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 23. Oktober 1974 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten die vorinstanzlichen Entscheidungen in der Sache für zutreffend. Zur Frage der Beiladung des Kindes R. haben sie sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die zulässige Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil mangels der notwendigen Beiladung des Kindes R. aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Nach § 75 Abs. 2 SGG 1. Alternative sind Dritte beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Das Unterlassen einer solchen notwendigen Beiladung ist bei einer zulässigen Revision auch ohne eine Rüge der Beteiligten von Amts wegen als Verfahrensmangel zu beachten (SozR 1500 § 75 Nr. 1). Eine Beiladung ist in dem angeführten Sinn notwendig, wenn die in dem Rechtsstreit zu erwartende Entscheidung über das streitige Rechtsverhältnis zugleich in die Rechtssphäre eines Dritten unmittelbar eingreift (BSGE 11, 262, 265; 15, 127, 128; 17, 139, 143; 38, 94, 96; SozR Nr. 32 und 36 zu § 75 SGG). Das ist hier der Fall.
Die Rentenansprüche der Hinterbliebenen eines durch Arbeitsunfall Verstorbenen - Witwe, frühere Ehefrau, Waisen - sind grundsätzlich zwar sachlich-rechtlich und verfahrensrechtlich voneinander unabhängige Ansprüche, so daß zwischen den einzelnen Hinterbliebenen keine Rechtsgemeinschaft und im allgemeinen auch nur eine freiwillige Streitgenossenschaft besteht (vgl. BSGE 11, 194, 195; 17, 56, 60; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Auflg. S 234 w, 586 d, 686 c).
Die Rechtspositionen mehrerer Personen, die aus einem Versicherungsfall Hinterbliebenenrenten beanspruchen, sind jedoch voneinander abhängig, sofern entweder jede von ihnen nur einen Teil einer einzigen Rente beanspruchen kann oder die ihnen zu gewährenden mehreren Renten zu kürzen sind, weil die Renten aller Hinterbliebenen zusammen einen Höchstbetrag nicht übersteigen dürfen. Nach der Rechtsprechung der für Angelegenheiten der Rentenversicherung zuständigen Senate des Bundessozialgerichts (BSG) ist in diesen Fällen (§§ 1268 Abs. 4, 1270 Abs. 1 RVO, §§ 45 Abs. 4, 47 Abs. 1 AVG) bei einer Klage nicht nur über den Rentenanspruch desjenigen zu entscheiden, der die ungeteilte oder ungekürzte Rente begehrt, sondern die Anfechtung richtet sich zugleich auch gegen die zur Teilung oder Kürzung führende Rentenbewilligung an weitere Hinterbliebene. Da durch die Entscheidung über den Anspruch auf die ungeteilte oder ungekürzte Rente des einen zugleich in die Rechtssphäre des oder der anderen Hinterbliebenen eingegriffen wird, kann eine Entscheidung allen Hinterbliebenen gegenüber nur einheitlich ergehen. Die weiteren Hinterbliebenen sind zum Verfahren des klagenden Hinterbliebenen nach § 75 Abs. 2 SGG 1. Alternative notwendig beizuladen (BSGE 21, 125, 127; SozR Nr. 3 und 5 zu § 1268 RVO und Nr. 36 zu § 75 SGG; BSG, Urteil vom 13. März 1968 - 12 RJ 250/67 - unveröffentlicht; Brackmann, aaO S. 706 f).
Das gleiche gilt für das Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung. Neben der hier nicht interessierenden Regelung bei der Teilung einer Witwenrente zwischen der Witwe und der früheren Ehefrau eines durch Arbeitsunfall Verstorbenen (§ 592 Abs. 2 RVO), bestimmt das Gesetz in § 598 RVO eine anteilsmäßige Kürzung der Renten mehrerer Hinterbliebenen, sofern die Renten zusammen vier Fünftel des JAV übersteigen. Sind für die Hinterbliebenen vier Fünftel des JAV festgestellt und tritt später ein neuer Berechtigter hinzu, so sind die Hinterbliebenenbezüge neu zu berechnen (§ 598 Abs. 2 RVO). Das Kind R. erhielt zwar bereits durch Bescheid vom 27. Mai 1964 eine Halbwaisenrente von einem Fünftel des JAV. Jedoch erst mit der Bewilligung der Vollwaisenrente von drei Zehnteln des JAV (vgl. zum Anspruch auf Vollwaisenrente nach dem nicht durch Arbeitsunfall bedingten Tod des zweiten Elternteils BSG, Urteil vom 9. Dezember 1976 - 2 RU 123/75 -) überstiegen alle aus Anlaß des Todes des B. gewährten Hinterbliebenenrenten zusammen vier Fünftel des JAV. Der Sache nach steht das durch die Erhöhung auf die Vollwaisenrente eingetretene Übersteigen des Höchstbetrages der Hinterbliebenenrenten dem späteren Hinzutritt eines neuen Berechtigten i. S. des § 598 Abs. 2 RVO gleich. Damit wird der Träger der Unfallversicherung berechtigt und verpflichtet, die Hinterbliebenenbezüge aller Hinterbliebenen neu zu berechnen. Die Rechtspositionen der mehreren Hinterbliebenen sind auch hier - wie in der Rentenversicherung - voneinander abhängig und dürfen deshalb nur einheitlich beurteilt werden. In der Klage der Witwe und der (ehelichen) Waise, mit der diese vorliegend die ungekürzten Hinterbliebenenrenten begehren, weil nach ihrer Meinung die sachlich-rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer weiteren Waisenrente an das Kind R. nicht gegeben sind, liegt sowohl die Behauptung, es sei der an sie gerichtete Bescheid vom 26. April 1972 rechtswidrig, weil ihnen damit ein Teil der früher bewilligten Renten entzogen worden sei, als auch die Behauptung, es sei der an das Kind R. gerichtete Bescheid vom 26. April 1972 rechtswidrig, weil R. kein nichteheliches Kind des durch Arbeitsunfall verstorbenen B. sei und ihm durch diesen Bescheid zumindest die Vollwaisenrente zu Unrecht bewilligt worden sei. Die Klage der Kläger ist damit nach § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG hinsichtlich beider Bescheide zulässig. Von den Vorinstanzen wäre über die Rechtswidrigkeit beider Bescheide zu entscheiden gewesen, und zwar in vollem Umfang, insbesondere also auch über die Anspruchsberechtigung des Kindes R. überhaupt. Die Beklagte hat insoweit keine Regelung getroffen, die zwischen den Beteiligten dieses Verfahrens bindend geworden ist. Das betrifft auch die in dem an das Kind R. gerichteten Bescheid vom 26. April 1972 inzident getroffene Feststellung, daß B. sein Vater sei. Unerheblich ist, daß der Bescheid vom 26. April 1972 mit dem Zeitpunkt des Zugangs an das Kind R. diesem gegenüber bindend geworden ist (vgl. BSGE 7,8,11). Die Anfechtungsbefugnis der Kläger bleibt davon unberührt, solange ihnen gegenüber die gesetzlich bestimmten Rechtsbehelfsfristen nicht abgelaufen sind. Das Urteil des LSG enthält darüber keine Feststellungen. Nach dem erstinstanzlichen Vorbringen der Kläger haben sie erst durch den an sie gerichteten Bescheid vom 26. April 1972 erfahren, daß noch ein weiterer Anspruchsberechtigter vorhanden sein soll.
Der dem Kind R. erteilte Bescheid vom 27. Mai 1964, durch den ihm erstmalig (Halb-) Waisenrente gewährt wurde und der inzident ebenfalls schon die Feststellung enthält, daß B. sein Vater sei, ist von den Klägern durch die jetzige Klage nicht als mitangefochten anzusehen. Dieser Bescheid griff noch nicht in die Rechtssphäre der Kläger ein, da durch die dem Kind gewährte Rente von einem Fünftel des JAV der Höchstbetrag der Hinterbliebenenrenten noch nicht überschritten wurde. Für eine Klage würde es dem Kläger daher an einem Rechtsschutzbedürfnis fehlen. Die Frage, ob und gegebenenfalls welche Rechtsfolgen für das jetzt anhängige Verfahren sich daraus ergeben, daß die Beklagte in jenem Bescheid die Vaterschaft des B. ebenfalls schon inzident festgestellt hat, wozu sie - zumindest nach damaligem Recht - befugt war (vgl. BSGE 14, 261, 265; 21, 181, 182), kann in der gegenwärtigen Lage des Verfahrens dahinstehen. Darüber wird nach Zurückverweisung der Sache und nach Beiladung des Kindes R. das Berufungsgericht zu entscheiden haben. Ihm obliegt es auch zu prüfen, ob - was bisher nicht ersichtlich ist - etwa von anderen Stellen eine mit Wirkung für und gegen alle wirkende Feststellung der Vaterschaft aufgrund des vor oder nach dem Inkrafttreten des NeG (§ 27 NeG: 1. Juli 1970) geltenden Rechts erfolgt ist.
Da der erkennende Senat die unterlassene Beiladung nicht nachholen kann (§ 168 SGG), mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen