Leitsatz (amtlich)
RVO § 550 Abs 2 Nr 1 ist nicht anwendbar, wenn von dem unmittelbaren Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit abgewichen wird, um ein bereits in fremder Obhut befindliches Kind zu besuchen.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 1974-04-01
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. Juni 1976 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin wohnte in Melbeck und war in Lüneburg beschäftigt. Ihr Ehemann war gleichfalls berufstätig. Die Klägerin und ihr Ehemann brachten ihre im Jahre 1970 geborene Tochter für die Dauer der berufsbedingten Abwesenheit der Klägerin jeweils auf dem Wege zur Arbeit zu den im etwa 3,5 km entfernten Ort K wohnhaften Eltern der Klägerin. Nach Dienstschluß holten sie das Kind jeweils in die Familienwohnung zurück. Auch am 16. Dezember 1974 brachte die Klägerin ihre Tochter morgens nach K und wollte sie nach Beendigung ihrer Dienstzeit wieder von ihren Eltern abholen. Das Kind war jedoch im Laufe des Tages erkrankt und mußte deshalb bis auf weiteres bei den Eltern der Klägerin verbleiben. Am Morgen des 17. Dezember 1974 begab sich die Klägerin nach Antritt des Weges zur Arbeit ebenfalls zunächst nach K, um ihrer Mutter Wäsche und Spielzeug für das erkrankte Kind zu bringen. Auf dem Wege zwischen M und K verunglückte sie.
Die Beklagte lehnte Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, die Klägerin habe sich im Unfallzeitpunkt auf einem sowohl zeitlich als auch räumlich klar abgrenzbaren Abweg befunden.
Die Klägerin hat Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 21. Oktober 1975 die Beklagte verurteilt, der Klägerin "die gesetzmäßigen Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlaß eines Wegeunfalles am 17. Dezember 1974 zuzuerkennen". Es hat ausgeführt: Der Versicherungsschutz gemäß § 550 Abs. 2 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei auch gegeben, wenn Fahrten zu dem Ort unternommen würden, an dem sich das Kind unter fremder Obhut befinde, und die notwendig seien, um das Kind zu betreuen.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 9. Juni 1976 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung u. a. ausgeführt: Sowohl aus den Motiven des Gesetzgebers als auch aus dem Wortlaut des § 550 Abs. 2 RVO würden drei Anspruchsvoraussetzungen deutlich. Es müsse wegen der Berufstätigkeit der Eltern in Verbindung mit dem Weg zur Arbeitsstätte ein Kind in fremde Obhut verbracht (oder von dort abgeholt) werden. Diese drei Anspruchsvoraussetzungen müßten zugleich erfüllt sein. Entgegen der Auffassung des SG bestünde auf Wegen, die zur Betreuung eines sich bereits in fremder Obhut befindlichen Kindes erforderlich würden, auch dann kein Versicherungsschutz, wenn sie in Verbindung mit dem Weg zur Arbeit zurückgelegt würden. Denn es fehle an dem Merkmal des Verbringens. Das Kind befinde sich bereits in der Obhut einer Betreuungsperson. Das gelte nicht nur für die Fälle, in denen das Kind bereits von vornherein längere Zeit in fremder Obhut stehe, sondern auch dann, wenn es plötzlich erkrankt sei und deshalb in Obhut seiner Betreuungsperson verbleiben müsse.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Die Entscheidung des LSG werde den Erfahrungen und Erfordernissen des täglichen Lebens auch aus berufsbezogenen Perspektiven nicht gerecht. Es liege auch ein Denkfehler in der Annahme begründet, daß sich das Kind zumindest überwiegend aus gesundheitlichen und damit nicht aus in der Berufstätigkeit seiner Eltern wurzelnden Gründen in der Obhut eines Dritten befunden habe. Dabei werde übersehen, daß sich das Kind im Zeitpunkt des Unfallgeschehens nicht in einem Stadium der Erkrankung befunden habe, das einen stationären Krankenhausaufenthalt notwendig gemacht haben würde. In einem solchen Falle wäre allerdings die kausale Verknüpfung mit der beruflichen Tätigkeit in der Tat nicht dadurch herzustellen, daß der zum Besuch des in fremder Obhut befindlichen Kindes erforderliche Weg mit dem Weg zur oder von der Arbeit zeitlich verbunden werde. Dagegen werde einem Kind im Rahmen einer mehr oder weniger banalen Erkrankung doch wohl stets im elterlichen Haushalt die notwendige fürsorgerische Zuwendung und Pflege zukommen, soweit die Mutter nicht berufstätig sei. Das Unfallereignis könne nicht isoliert von der Tatsache gesehen werden, daß das Kind allein wegen der Berufstätigkeit beider Elternteile tagsüber außer Haus bei den Großeltern untergebracht werden mußte. Deshalb sei die Klägerin wenigstens auf der Fahrt zu dem ersten Besuch ihres Kindes am 17. Dezember 1974 versichert gewesen.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Berufungsurteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Gegen die bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu prüfenden Zulässigkeit der Berufung bestehen keine Bedenken. Der Senat sieht deshalb keine Veranlassung, auf die vom LSG seiner Sachentscheidung vorangestellten prozessualen Ausführungen näher einzugehen (s. dazu das Urteil des Senats vom 16. Dezember 1971 - 2 RU 147/68 - insoweit nicht veröffentlich in SozR Nr. 15 zu § 550 RVO). Bei den unstreitig vorhandenen Unfallfolgen lag es nahe, das Urteil des SG als Grundurteil im Sinne des § 130 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auszulegen.
Als Arbeitsunfall gilt auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (s. § 550 Abs. 1 RVO). Die Klägerin ist jedoch nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht auf dem Weg nach dem Ort der Tätigkeit, sondern auf einem Weg verunglückt, den sie eingeschlagen hatte, um ihren Eltern Wäsche und Spielzeug für ihr erkranktes Kind zu bringen. Während einer privaten Zwecken dienenden Unterbrechung des Weges nach dem Ort der Tätigkeit oder einem aus privaten Gründen eingeschlagenen Umweg auf diesem Weg besteht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kein Versicherungsschutz (s. u. a. BSG 4, 219, 222; BSG SozR Nr. 8 zu § 550 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S. 486 q ff.; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 550 Anm. 19). Die Sorge um die Unterbringung der Kinder während der beruflichen Tätigkeit der Eltern gehört grundsätzlich zu deren privatem Bereich. Ohne gesetzliche Regelung konnte deshalb die Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit zum Unterbringen des Kindes während der Arbeitszeit oder ein entsprechender Umweg nur unter den besonderen Umständen des Einzelfalles der versicherten Tätigkeit zugerechnet werden (vgl. Brackmann aaO S. 486 s und s III mit weiteren Nachweisen). Nach § 550 Abs. 2 Nr. 1 RVO i. d. F. des Gesetzes vom 1. April 1974 BGBl I 821 = § 550 Satz 2 RVO i. d. F. des Gesetzes vom 18. März 1971 - BGBl I 237) ist der Versicherungsschutz nunmehr nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherte von dem unmittelbaren Weg zwischen Wohnung und dem Ort der Tätigkeit abweicht, weil sein Kind (§ 583 Abs. 5 RVO), das mit ihm in einem Haushalt lebt, wegen seiner oder seines Ehegatten beruflicher Tätigkeit fremder Obhut anvertraut wird.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG sollte das Kind der Klägerin trotz seiner Erkrankung bei den Großeltern bleiben. Danach hat es sich um eine Erkrankung gehandelt, die - worauf die Revision zutreffend hinweist - ohne die berufliche Tätigkeit der Klägerin und ihres Ehegatten ebenfalls wenigstens zunächst im Hause der Eltern behandelt worden wäre. Der Aufenthalt des Kindes der Klägerin bei den Großeltern war demnach entgegen den Ausführungen des LSG weiterhin wesentlich wegen der beruflichen Tätigkeit der Klägerin und ihres Ehegatten erforderlich. Nach § 550 Abs. 2 Nr. 1 RVO besteht jedoch nicht bei allen Verrichtungen Versicherungsschutz, die damit verbunden sind, daß ein Kind wegen der beruflichen Tätigkeit des Versicherten oder seines Ehegatten fremder Obhut anvertraut ist. Der Versicherungsschutz bleibt nur bestehen auf einem Abweichen von dem unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit. Darüber hinaus bleibt auch nicht bei jedem Abweichen von dem unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit der Versicherungsschutz schon deshalb aufrechterhalten, weil er im Zusammenhang damit steht, daß das Kind wegen der versicherten Tätigkeit seiner Eltern fremder Obhut anvertraut ist. Vielmehr muß von dem unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit abgewichen werden, weil das Kind fremder Obhut anvertraut wird. Der Gesetzgeber wollte durch die Regelung in § 550 Abs. 2 Satz 1 RVO dem Umstand Rechnung tragen, daß im zunehmenden Umfang auch Mütter berufstätig und deshalb darauf angewiesen sind, ihr Kind vor Arbeitsbeginn fremder Obhut anzuvertrauen. Bei dieser - wie viele andere zur Arbeitsaufnahme unbedingt erforderlichen Verrichtungen - an sich grundsätzlich dem privaten Lebensbereich zuzurechnenden Tätigkeit soll der Versicherungsschutz während eines Abweichens von dem unmittelbaren Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit nicht entfallen. Das Abweichen von dem unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit muß deshalb dazu dienen, das Kind fremder Obhut anzuvertrauen oder es aus fremder Obhut abzuholen. Nach der amtlichen Begründung zu dem Gesetz vom 18. März 1971 (s. BT-Drucks. VI/1333, S. 5 - zu § 2 Nr. 1) wird ebenfalls ein ursächlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit unterstellt, "wenn der Vater oder die Mutter das Kind in Verbindung mit dem Weg zur Arbeitsstätte fortbringt oder es auf dem Weg abholt". Der Versicherungsschutz soll demnach sowohl nach dem Gesetzeswortlaut als auch nach der Entstehungsgeschichte des § 550 Abs. 2 Nr. 1 RVO nicht aufrechterhalten bleiben, wenn der Versicherte gelegentlich des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit sein bereits in fremder Obhut befindliches Kind besucht. Insoweit rechtfertigt auch der Umstand keine andere Beurteilung, das Versicherungsschutz bestanden hätte, wenn man auf diesem Weg das Kind täglich fremder Obhut anvertraut und nach der Arbeitszeit wieder abgeholt hätte. Es darf für den Versicherungsschutz nicht entscheidend sein, daß - wie im vorliegenden Fall - das Kind sonst regelmäßig nur tagsüber in fremder Obhut verblieb. Anderenfalls wäre der Versicherte, der an sich die Möglichkeit hat, sein Kind täglich in fremde Obhut zu bringen und wieder abzuholen, beim Besuch seines in fremder Obhut verbliebenen Kindes besser gestellt als der Versicherte, der sein Kind wegen seiner beruflichen Tätigkeit an einem Ort fremder Obhut anvertrauen muß, von dem er es nicht täglich wieder abholen kann. Aus diesen Gründen ist entgegen der Revision auch keine andere Entscheidung für den ersten Besuch einer fremder Obhut anvertrauten Kindes gerechtfertigt. Das gilt selbst dann, wenn der Besuch überraschend, z. B. wegen einer Erkrankung des Kindes erforderlich wird. Auch bei einem regelmäßig von Montag bis Freitag in fremder Obhut verbleibendem Kind besteht kein Versicherungsschutz auf einem Abweichen von dem unmittelbaren Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit, wenn der Besuch unerwartet wegen der Erkrankung des Kindes oder aus einem anderen der zahlreichen in Betracht kommenden wichtigen Gründe erforderlich wird.
Das LSG hat demnach im Ergebnis mit Recht die Klage abgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen