Entscheidungsstichwort (Thema)
Regelmäßiger Jahresarbeitsverdienst iS § 165 RVO. Berücksichtigung von Mehrarbeitsvergütungen bei der Ermittlung des regelmäßigen Jahresarbeitsverdienstes
Leitsatz (amtlich)
Vertraglich vereinbarter und regelmäßig anfallender Bereitschaftsdienst im Krankenhaus ist keine "Mehrarbeit" iS des RAMErl 1944-10-24 (AN 1944, II, 302); deshalb gehörte die Bereitschaftsdienstvergütung auch vor dem 1977-07-01 (Außerkrafttreten des Erlasses durch SGB 4 Art 2 § 21 Abs 1 S 2) zum regelmäßigen Jahresarbeitsverdienst nach RVO § 165 Abs 1 Nr 2.
Orientierungssatz
Regelmäßiger Jahresarbeitsverdienst iS § 165 Abs 1 Nr 2 RVO ist nur der Verdienst, von dem bei Beginn des Beschäftigungsverhältnisses und jeder folgenden Arbeitsperiode zu erwarten ist, daß er bei normalem Verlauf - abgesehen von einer anderweitigen Vereinbarung über das Entgelt oder von nicht voraussehbaren Änderungen in der Beschäftigung - voraussichtlich ein Jahr anhalten wird. Der regelmäßige Jahresarbeitsverdienst eines Beschäftigten mit fest vereinbartem Entgelt wird in der Weise ermittelt, daß die zur Zeit der Feststellung für die Lohnperiode des Beschäftigungsverhältnisses gezahlte oder geschuldete Vergütung auf ein Jahr umgerechnet wird.
Normenkette
RVO § 165 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1970-12-21; RAMErl 1944-10-24; SGB 4 Art 2 § 21 Abs 1 S 2 Fassung: 1976-12-23
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist die Versicherungspflicht des Klägers in der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie hängt hier davon ab, ob die ihm gezahlten Vergütungen für einen Bereitschaftsdienst im Krankenhaus in den regelmäßigen Jahresarbeitsverdienst (JAV) einzubeziehen sind.
Der 1949 geborene Kläger war in der Zeit vom 1. Dezember 1975 bis 31. März 1976 Medizinalassistent und ab 1. April 1976 Assistenzarzt an der Chirurgischen Abteilung des von der Beigeladenen zu 1 unterhaltenen Krankenhauses. Er ist von der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung befreit. Aufgrund vertraglicher Verpflichtung mußte er außerhalb seiner tarifmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden regelmäßig Bereitschaftsdienst in einem zeitlichen Umfang von jeweils sechsmal 16,5 Stunden im Monat leisten. In der Zeit vom 1. Dezember 1975 bis 31. März 1976 bezog er ein Einkommen, das ohne die Vergütung für den von ihm vertraglich zu leistenden Bereitschaftsdienst (der tatsächlich geleistete war wesentlich länger) unter und zusammen mit ihr über der jeweiligen JAV-Grenze lag. Ab 1. April 1976 überstieg bereits sein Sockelgehalt für die Tätigkeit als Assistenzarzt die für die Krankenversicherungspflicht der Angestellten maßgebliche JAV-Grenze.
Die Beklagte stellte durch Bescheid vom 12. Mai 1976 die Versicherungspflicht des Klägers in der gesetzlichen Krankenversicherung für die Zeit vom 1. Dezember 1975 bis zum Ablauf des Jahres 1976 fest und stützte sich hierbei auf den nach ihrer Ansicht noch gültigen Erlaß des ehemaligen Reichsarbeitsministers (RAM) vom 24. Oktober 1944 (AN 1944, II 302). Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 1976 (in dem auch die - inzwischen unstreitige - Beitragspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit -BA- festgestellt wurde) zurück. Der dagegen gerichteten Klage gab das Sozialgericht (SG) München durch Urteil vom 17. Januar 1978 statt. Auf die Sprungrevision der Beklagten hin hat der erkennende Senat diese Entscheidung mit Urteil vom 19. Dezember 1979 (12 RK 25/78) aufgehoben und die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht (LSG) zurückverwiesen, weil das SG die notwendige Beiladung der Arbeitgeberin des Klägers sowie der BA unterlassen hatte. Durch Urteil vom 28. Januar 1981 hat das LSG den Bescheid der Beklagten vom 12. Mai 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 1976 insoweit aufgehoben, als mit ihm die Krankenversicherungspflicht des Klägers im Zeitraum vom 1. Dezember 1975 bis 31. Dezember 1976 festgestellt wurde. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Der RAM-Erlaß vom 24. Oktober 1944, der im fraglichen Zeitraum noch geltendes Recht gewesen sei, habe mit "Mehrarbeit" nur Überstunden im engeren Sinne gemeint; bei der Bereitschaftsdienstzeit handele es sich aber eine weitgehend arbeitsfreie Mischzeit und nicht um "Mehrarbeitszeit". Im übrigen sei der Erlaß nach seiner Zielsetzung dann nicht anwendbar, wenn die Erzielung zusätzlicher Entgelte nicht, wie bei Überstunden, nur vorübergehend sei, sondern zum Berufsbild gehöre.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 165 Abs 1 Nr 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) und der Grundsätze über die Berechnung des JAV. Sie meint, daß sich aus einer unmittelbaren oder jedenfalls mittelbaren Anwendung des RAM-Erlasses vom 24. Oktober 1944 ergebe, daß die Bereitschaftsdienstvergütung nicht auf den JAV anzurechnen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er meint, bei der Ermittlung des JAV seien alle Vergütungen zu berücksichtigen, mit denen der Angestellte mit hinreichender Sicherheit habe rechnen können. Vergütungen für Bereitschaftsdienst seien bei Medizinalassistenten und Assistenzärzten "fester Bestandteil des Einkommens".
Die Beigeladenen haben sich nicht zur Sache geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Kläger vom 1. Dezember 1975 an nicht mehr krankenversicherungspflichtig gewesen ist.
Nach § 165 Abs 1 Nr 2 RVO werden Angestellte für den Fall der Krankheit versichert, wenn ihr regelmäßiger JAV fünfundsiebzig vom Hundert der für Jahresbezüge in der Rentenversicherung der Arbeiter geltenden Beitragsbemessungsgrenze (§ 1385 Abs 2 RVO) - JAV-Grenze - nicht übersteigt. Das Einkommen des Klägers übersteigt diese Grenze seit dem 1. Dezember 1975, weil bei der Errechnung seines JAV die Bereitschaftsdienstvergütung einzubeziehen ist.
Wie der für die Krankenversicherungspflicht maßgebliche regelmäßige JAV zu berechnen ist, regelt das Gesetz nicht. Nach einem Urteil des erkennenden Senats vom 31. August 1976 (12/3/12 RK 21/74, SozR 2200 § 165 Nr 15 = USK 76 126; vgl auch Großer Senat, Beschluß vom 30. Juni 1965 - GrS 2/64 -, BSGE 23, 129 = SozR Nr 49 zu § 165 RVO, und das Urteil des 3. Senats vom 25. Februar 1966 - 3 RK 53/63 -, BSGE 24, 262 = SozR Nr 50 zu § 165 RVO = USK 6602; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung einschließlich des Sozialgesetzbuches, 9. Aufl bis einschließlich 55. Nachtragslieferung 1981, S. 314 k ff; Krauskopf/Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung, 2. Aufl, Stand: Januar 1981, § 165 RVO Anm 4; Peters-Mengert, Handbuch der Krankenversicherung, 17. Aufl bis einschließlich 65. Nachtragslieferung 1981, § 165 RVO Anm 6) ist für den regelmäßigen JAV des (um die Familienzuschläge verminderte) Arbeitsentgelt aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung als Angestellter maßgebend, wie es im voraus für das kommende Kalenderjahr festzustellen ist. Regelmäßiger JAV ist nur der Verdienst, von dem bei Beginn des Beschäftigungsverhältnisses und jeder folgenden Arbeitsperiode zu erwarten ist, daß er bei normalem Verlauf - abgesehen von einer anderweitigen Vereinbarung über das Entgelt oder von nicht voraussehbaren Änderungen in der Beschäftigung - voraussichtlich ein Jahr anhalten wird. Der regelmäßige JAV eines Beschäftigten mit festvereinbartem Entgelt wird in der Weise ermittelt, daß die zur Zeit der Feststellung für die Lohnperiode des Beschäftigungsverhältnisses gezahlte oder geschuldete Vergütung auf ein Jahr umgerechnet wird. Dabei sind auch solche Bezüge zu berücksichtigen, deren Zahlung nach der bisherigen Übung auch künftig mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist. Soweit die Höhe des Arbeitsentgelts schwankt, ist der Verdienst zu schätzen. Auch die Verwaltungspraxis der Krankenversicherungsträger verfährt in dieser Weise und befindet sich so in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Damit wird dem Grundgedanken des § 165 Abs 1 Nr 2 RVO Rechnung getragen, nur die geringer verdienenden und in stärkerem Maße schutzbedürftigen Angestellten in die gesetzliche Krankenversicherung einzubeziehen, während es den mutmaßlich mit ihrem Jahresgehalt über der JAV-Grenze liegenden Angestellten überlassen bleibt, die Art ihrer Vorsorge für Krankheitsfälle selbst zu regeln.
Zum regelmäßigen JAV gehören hiernach grundsätzlich alle in der Regel, dh mit hinreichender Sicherheit, aus der Beschäftigung für die nächsten zwölf Monate zu erwartenden Einnahmen. Der Begriff des JAF entspricht damit im wesentlichen dem Begriff des Entgelts in § 14 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (vgl auch Brackmann aaO S. 314 k und LSG Niedersachsen, Urteile vom 9. Mai 1979 - L 4 Kr 6/78 und 8/78 -, VersR 1980, 550 und 646).
Der Begriff des JAV ist zwar durch den RAM-Erlaß vom 24. Oktober 1944 (AN 1944, II 02) insofern eingeschränkt worden, als nach Abs 2 des Erlasses "alle Vergütungen, die für eine über die regelmäßige Arbeitszeit (von damals 48 Wochenstunden) hinaus geleistete Mehrarbeit gewährt werden, für die Jahresarbeitsverdienstgrenzen nicht anzurechnen" sind. Diese Bestimmung des Erlasses, der in der vor dem 1. Juli 1977 liegenden streitigen Zeit formell noch galt (vgl BSGE 18, 65), kann jedoch entgegen der Auffassung der Beklagten auf den vorliegenden Fall schon deshalb nicht angewandt werden, weil der Bereitschaftsdienst keine "Mehrarbeit" iS des Erlasses ist. Gemäß § 165 Abs 1 Nr 2 RVO kommt es, wie dargelegt, für die Feststellung der Versicherungspflicht nur auf den "regelmäßigen" JAV an, also auf das Einkommen, das zum Beginn des jeweiligen Jahreszeitraums mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist und deshalb als geeignete Grundlage für die Einordnung des betreffenden Angestellten in den Kreis der krankenversicherungspflichtigen oder -freien Personen dienen kann. Unter diesen Begriff des regelmäßigen JAV fällt im allgemeinen nicht das durch Ableistung von Überstunden erzielte Einkommen. Denn der Angestellte hat, sofern die Überstunden nicht ausnahmsweise aufgrund bestimmter Vereinbarungen zu leisten sind, keinen mit hinreichender Sicherheit einplanbaren Anspruch auf Ableistung von Überstunden; diese sind vielmehr von der jeweiligen Situation des betriebes, insbesondere seiner Auftragslage, abhängig, fallen mithin - jedenfalls typischerweise - unregelmäßig an. Deshalb rechtfertigt ein nur durch Überstunden über die JAV-Grenze hinausgehender Verdienst nicht, den betreffenden Angestellten aus dem Schutz der gesetzlichen Pflichtversicherung zu entlassen.
Unter diese - auch nach Ansicht des Senats eng auszulegende - Ausnahme von der Berücksichtigung grundsätzlich aller Einnahmen bei der Berechnung des JAV fallen jedoch nicht solche Lohnteile, die für die Ableistung von Bereitschaftsdienst gezahlt werden, der vertraglich geregelter Teil der übernommenen Tätigkeit ist. Denn Personen, die eine Arbeit übernehmen, die vertraglich mit der Ableistung von außerhalb der normalen Arbeitszeit liegendem Bereitschaftsdienst verbunden ist, pflegen diesen als einen normalen - und nicht als irregulären - Teil ihrer Arbeit anzusehen und die dafür zu zahlende Vergütung von vornherein bei ihrem Lebenszuschnitt zu berücksichtigen. Das zeigt sich bei dem Personenkreis der Assistenzärzte und Medizinalassistenten, dem der Kläger angehört, besonders deutlich. Für diese im Krankenhaus tätige Berufsgruppe ist es ein Teil der übernommenen Aufgabe, neben der Regelarbeitszeit zur Aufrechterhaltung des Krankenhausbetriebes, insbesondere zur Versorgung von Notfällen, Bereitschaftsdienst zu leisten. Diese zusätzliche Dienstpflicht wird dementsprechend schon bei Eintritt in die Tätigkeit arbeitsvertraglich geregelt. Die Tätigkeit der betreffenden Personen wird damit zugleich wirtschaftlich durch die Bereitschaftsdienstvergütung geprägt und gegenüber derjenigen von anderen Empfängern der gleichen Gehaltsstufe besonders herausgehoben. Die Vergütung für einen solchen - als Teil der übertragenen Aufgabe anzusehenden - Bereitschaftsdienst stellt somit einen Teil des regelmäßigen JAV iS von § 165 Abs 1 Nr 2 RVO dar (ebenso Peters-Mengert aaO Am 6c mwN).
Ob Bereitschaftsdienst im Krankenhaus sich auch deshalb von echten Überstunden unterscheidet, weil er nur zu 10 bis 25 % mit der Ableistung von Arbeit angefüllt ist (so das LSG), läßt der Senat unentschieden. Wie der Kläger mit Recht ausführt, kommt es für die Einbeziehung der Bereitschaftsdienstvergütung in den JAV entscheidend darauf an, daß es sich bei dieser Vergütung um einen bei Aufnahme der Tätigkeit mit hinreichender Sicherheit einplanbaren Gehaltsteil handelt (vgl insoweit auch das Ergebnis der Besprechung der Sozialversicherungs-Spitzenverbände vom 9. und 10. Februar 1981, Die Beiträge 1981, 135, zu Nr 1). Die Entschädigung für den Bereitschaftsdienst könnte sogar durch eine entsprechende Bemessung des Lohnes für die eigentliche Arbeit mitabgegolten werden (vgl Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Erster Band, 7. Aufl 1963, S. 36 f, Fn 8), was bei Überstunden nicht möglich ist oder allenfalls in Form einer "Mehrarbeitspauschale" (s dazu BSGE 18, 65; die Entscheidung bedarf im übrigen einen Sonderfall und war schon zu der Zeit, als noch der Erlaß vom 24. Oktober 1944 galt, nicht zweifelsfrei). Dagegen ist es ohne Bedeutung, wie der über die übliche Arbeitszeit hinausgehende Dienst im einzelnen ausgestaltet ist. Er muß nur von vornherein vereinbart sein und regelmäßig, wenn auch nicht immer in gleichem Umfange anfallen, weil es sich anderenfalls um Überstunden handeln könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen