Entscheidungsstichwort (Thema)

Unzulässige Rechtsausübung. widersprüchliches Verhalten

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Antragspflichtversicherter iS des § 2 Abs 1 Nr 11 AVG, dessen Versicherungsverhältnis erst nach dem Beginn der Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versicherungs- oder Versorgungswerk begründet worden ist, kann sich jedenfalls dann nicht gemäß § 7 Abs 2 AVG von der Antragspflichtversicherung befreien lassen, wenn seit dem Antrag keine wesentliche Änderung seiner persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse eingetreten ist (Fortführung von BSG 1982-04-28 12 RK 30/80 = SozR 2400 § 7 Nr 3).

 

Orientierungssatz

Ein widersprüchliches und deshalb mit dem Grundsatz von Treu und Glauben unvereinbares Verhalten - venire contra factum proprium - ist auch im Sozialversicherungsrecht unzulässig und führt zum Verlust des geltend gemachten Rechts. In einem solchen Fall übt der Versicherte das ihm grundsätzlich zustehende Recht, hier das Gestaltungsrecht aus § 7 Abs 2 AVG, mißbräuchlich aus (vergleiche zuletzt BSG vom 1981-07-21 7 RAr 37/80 = DBlR 2486a, AFG/§ 119).

 

Normenkette

AVG § 2 Abs. 1 Nr. 11 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 Fassung: 1972-10-16; AVG § 7 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1230 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 7 Abs. 2 Hs. 2 Fassung: 1979-06-25, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18

 

Verfahrensgang

SG Ulm (Entscheidung vom 22.01.1980; Aktenzeichen S 4 An 1175/79)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger, der seit 1960 als Facharzt niedergelassen ist, seit 1962 einem berufsständischen Versorgungswerk angehört und seit Dezember 1974 nach § 2 Abs 1 Nr 11 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) der Pflichtversicherung als Selbständiger unterliegt, nach § 7 Abs 2 AVG von der Pflichtversicherung befreit werden kann. Der Kläger hat im Revisionsverfahren ferner ein Recht auf Rücktritt von der Antragspflichtversicherung geltend gemacht.

Mit einem am 19. Februar 1979 bei der Beklagten eingegangenen Formblatt stellte der Kläger den auf § 7 Abs 2 AVG gestützten Antrag, ihn ab 19. Februar 1979 von der Versicherungspflicht zur Rentenversicherung der Angestellten zu befreien. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 3. April 1979 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 1979 mit der Begründung ab, dem Kläger stehe das Befreiungsrecht nach § 7 Abs 2 AVG nicht zu, weil er den Antrag auf Pflichtversicherung erst nach dem Beginn seiner Zugehörigkeit zu einem berufsständischen Versorgungswerk gestellt habe. Mit gleichlautender Begründung hat auch das Sozialgericht (SG) Ulm die Klage durch Urteil vom 22. Januar 1980 abgewiesen.

Der Kläger macht zur Begründung seiner Sprungrevision geltend, § 7 Abs 2 AVG eröffne ihm sogar das Recht zum "Rücktritt" von der Rentenversicherung ohne zeitliche Beschränkung, die er deshalb nunmehr in erster Linie begehre. Zumindest habe er aber vom Zeitpunkt der Stellung seines entsprechenden Antrages das in § 7 Abs 2 AVG geregelte Befreiungsrecht, das allein an eine bestehende Doppelsicherung anknüpfe und deshalb auch den Antragspflichtversicherten zustehe, deren gesetzliches Versicherungsverhältnis erst nach dem Beginn der Zugehörigkeit zu einer berufsständischen Versorgungseinrichtung begründet worden ist.

Der Kläger beantragt, das Urteil des SG Ulm vom 22. Januar 1980, den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 31. Juli 1979 und deren Bescheid vom 3. April 1979 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger für die Zeit ab 1. Dezember 1974, hilfsweise für die Zeit ab 19. Februar 1979, von der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung zu befreien.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision des Klägers ist nicht statthaft, soweit er sein Rechtsmittel darauf stützt, daß er rückwirkend zum 1. Dezember 1974 von der Pflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG zurückgetreten sei. Dieses sich auf die Zeit vor der Stellung seines Antrages vom 19. Februar 1979 beziehende Klagebegehren, das der Kläger erstmals mit der Revision verfolgt, stellt eine im Revisionsverfahren gemäß § 168 SGG unzulässige Klageänderung dar. Soweit der Kläger nunmehr sein Klagebegehren darauf stützt, daß er im Hinblick auf das veränderte Leistungsgefüge der gesetzlichen Krankenversicherung zu einem auf den 1. Dezember 1974 zurückwirkenden "Rücktritt" aus der gesetzlichen Rentenversicherung berechtigt sei, macht er einen neuen Klagegrund geltend. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob ein Antragpflichtversicherter iS des § 2 Abs 1 Nr 11 AVG ein Recht zum Rücktritt oder auf Anfechtung oder Beendigung der Pflichtversicherung hat oder ob gegebenenfalls das Fehlen eines solchen Rechts mit dem Grundgesetz unvereinbar ist (vgl dazu auch die Vorlagebeschlüsse des erkennenden Senats an das Bundesverfassungsgericht vom 16. Februar 1982 - 12 RK 81/79 - und 12 RK 16/80 -). Ein derartiges außerordentliches Recht auf Aufhebung oder Beendigung der Antragspflichtversicherung würde auf einem anderen Rechtsgrund beruhen als das Befreiungsrecht iS des § 7 Abs 2 AVG. Soweit der Kläger ein solches Recht geltend macht, stützt er sein Klagebegehren mithin auf einen anderen Klagegrund, dem auch ein anderer Sachverhalt zugrunde liegt. Insoweit handelt es sich um eine Antragserweiterung unter Änderung des Klagegrundes, die, wie aus dem einleitenden Halbsatz des § 99 Abs 3 SGG folgt, eine Klageänderung ist.

Im Gegensatz dazu handelt es sich nicht um eine Klageänderung, sondern um eine auf demselben Klagegrund beruhende und daher gemäß § 99 Abs 3 Nr 2 SGG statthafte Antragserweiterung, soweit der Kläger sein bereits im ersten Rechtszuge verfolgtes Anfechtungs- und Verpflichtungsbegehren bezüglich des auf § 7 Abs 2 AVG gestützten Befreiungsantrages nunmehr auf die vor der Stellung dieses Antrages liegende Zeit erweitert hat. Insoweit wird auch das erweiterte Klagebegehren auf ein und denselben und damit nicht auf einen geänderten Klagegrund gestützt.

Der Antrag auf Befreiung von der Pflichtversicherung zur Angestelltenversicherung für die Zeit vom 1. Dezember 1974 bis 18. Februar 1979 ist jedoch offensichtlich unbegründet. Im Falle des Klägers wäre nämlich unabhängig davon, wie der Begriff "Beginn des Beschäftigungsverhältnisses" in § 7 Abs 3 AVG für die Befreiungsfälle iS des § 7 Abs 2 AVG abzugrenzen ist, die in § 7 Abs 3 AVG bestimmte zweimonatige Rückwirkungsfrist in jedem Falle lange vor der Antragstellung abgelaufen, so daß die zulässigerweise geänderte Klage insoweit unbegründet ist.

Die Sprungrevision ist auch nicht begründet, soweit der Kläger die Befreiung von der Pflichtversicherung für die Zeit ab Antragstellung - 19. Februar 1979 - begehrt; insoweit stellt sich sein Verlangen als unzulässige Rechtsausübung dar.

Der erkennende Senat hat bereits in dem Urteil vom 28. April 1982 - 12 RK 30/80 - (SozR 2400 § 7 Nr 3) darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber mit der durch Art 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl I S 88) in das Angestelltenversicherungsgesetz eingefügten Vorschrift des § 7 Abs 2 AVG den Angehörigen der von dieser Vorschrift erfaßten Berufsgruppen die Möglichkeit eröffnen wollte, sich im Hinblick auf die als gleichwertig angesehene Mitgliedschaft in einer berufsständischen Sicherungseinrichtung von der - in der Regel durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung begründeten - Versicherungspflicht nach dem AVG befreien zu lassen. Dabei hat es der Gesetzgeber den Betroffenen überlassen, von dieser Befreiungsmöglichkeit Gebrauch zu machen oder die doppelte - dann freilich entsprechend kostenintensive - Sicherung beizubehalten. Der erkennende Senat (aaO) hat schließlich auch bereits entschieden, daß die Vorschrift des § 7 Abs 2 iVm Abs 3 AVG, obwohl nicht auf die Antragspflichtversicherten gemäß § 2 Abs 1 Nr 11 AVG zugeschnitten, auch diesem Personenkreis nach ihrer Zielsetzung grundsätzlich ein Befreiungsrecht gibt. Der Senat hat deshalb die Befreiung eines Antragspflichtversicherten, dessen Zugehörigkeit zu einem berufsständischen Versorgungswerk erst nach der Begründung der Antragspflichtversicherung begonnen hat, im Hinblick auf die auch bei ihm im Ergebnis unfreiwillig eingetretene Doppelsicherung für zulässig gehalten.

Eine differenzierte Beurteilung erfordern, was die Ausübung eines - grundsätzlich bestehenden - Befreiungsrechts betrifft, aber die Fälle, in denen -wie hier - die Antragspflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG erst nach dem Beginn der Mitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk begründet worden ist. In einem solchen Fall ist die doppelte Sicherung gegen ein und dasselbe Risiko nicht zwangsläufig eingetreten. Vielmehr hat hier der Kläger unbeschadet seiner bereits bestehenden Pflichtzugehörigkeit zu einem berufsständischen Versorgungswerk den Antrag auf Begründung der Pflicht-Mitgliedschaft zur Angestelltenversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG gestellt. Er hat damit bewußt und freiwillig eine doppelte Sicherung gegen ein und dasselbe Risiko geschaffen, die der Gesetzgeber in § 2 Abs 1 Nr 11 AVG nicht ausgeschlossen hat. Dem Kläger war hier bei der Antragstellung auch bekannt, daß das wirksam begründete Pflichtmitgliedschaftsverhältnis im Sinne des § 2 Abs 1 Nr 11 AVG den nach den anderen Tatbeständen des § 2 Abs 1 AVG gesetzlich begründeten Pflichtversicherungsverhältnissen inhaltlich gleichsteht und daß nach Eintritt der Bindung des von der Beklagten erteilten Bescheides über den Beginn der Versicherungspflicht weder der Antrag zurückgenommen noch das Versicherungsverhältnis durch Kündigung, Rücktritt oder Austritt beendet werden kann. Die danach allein noch offene Frage, ob dem Antragpflichtversicherten ein außerordentliches Recht auf Beendigung der Pflichtversicherung wegen einer wesentlichen Änderung des Leistungsgefüges zustehen kann (s. dazu die Vorlagebeschlüsse des erkennenden Senats vom 16. Februar 1982 aaO) ist, wie schon ausgeführt wurde, in diesem Verfahren nicht zu prüfen.

Begehrt der Versicherte aber gleichwohl nach § 7 Abs 2 AVG die Beendigung der von ihm freiwillig und bewußt eingegangenen Antragspflichtversicherung, so setzt er sich jedenfalls dann in Widerspruch zu seinem - gerade auf die Schaffung einer dauernden doppelten Sicherung gerichteten- Verhalten, wenn die Geltendmachung des Befreiungsrechtes nicht durch besondere, in seinen individuellen Verhältnissen begründete Umstände gerechtfertigt ist. Es ist in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seit langem anerkannt (vgl aus der neueren Rechtsprechung: BSGE 50, 213, 216; Urteil vom 21. Juli 1981 - 7 RAr 37/80 - mwN), daß ein widersprüchliches und deshalb mit dem Grundsatz von Treu und Glauben unvereinbares Verhalten - venire contra factum proprium - auch im Sozialversicherungsrecht unzulässig ist und zum Verlust des geltend gemachten Rechts führt. In einem solchen Fall übt der Versicherte das ihm grundsätzlich zustehende Recht, hier das Gestaltungsrecht aus § 7 Abs 2 AVG, mißbräuchlich aus. Aus dem vom SG unangefochten festgestellten Sachverhalt ergibt sich kein Anhalt dafür, daß die Geltendmachung des Befreiungsrechtes gem § 7 Abs 2 AVG durch eine Änderung der persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers zwingend geboten ist. Er hat - auch noch in der Revisionsbegründung - sein Befreiungsverlangen allein auf die Änderung des Leistungsgefüges gestützt. Der Umstand, daß der Gesetzgeber den Umfang der Leistungen, die der Versicherte aus dem Versicherungsverhältnis zu erwarten hat, nach der Begründung des Antragspflichtversicherungsverhältnisses in nicht geringem Umfange geändert hat, ist hier aber nicht rechtserheblich. Auch wenn in einer wesentlichen Änderung im Versicherungssystem eine Änderung der Geschäftsgrundlage für die Begründung der Antragspflichtversicherung durch den Kläger läge (der Senat hat das in den Beschlüssen vom 16. Februar 1982 verneint), wäre diese Rechtsfolge für die Zulässigkeit des Befreiungsantrages nach § 7 Abs 2 AVG ohne Bedeutung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660230

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