Leitsatz (amtlich)

Werden Schwerbeschädigte in den Ausbildungswerkstätten einer Handwerkskammer nach Art der Lehrlingsausbildung in gewerblichen Betrieben mit dem Ziel der Ablegung der Gesellenprüfung ausgebildet, so sind sie als Lehrlinge sozialversicherungspflichtig.

 

Leitsatz (redaktionell)

Bei einer umgestellten und nach ArVNG Art 2 § 38 Abs 2 als Rente wegen EU geltenden Altrente handelt es sich um eine Rente iS des AVAVG § 57 S 2.

 

Normenkette

RVO § 165a Nr. 2 Fassung: 1956-06-12, § 1227 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVAVG § 57 S. 2; ArVNG Art. 2 § 38 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 26. September 1960 wird zurückgewiesen, soweit es sich um die Versicherungspflicht des Klägers in der Krankenversicherung und in der Arbeiterrentenversicherung handelt.

Im übrigen werden das genannte Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 17. Dezember 1959 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen, soweit sie sich auf die Feststellung der Arbeitslosenversicherungspflicht bezieht.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der am 22. Mai 1928 geborene Kläger konnte die von ihm begonnene Lehre als Maschinenschlosser nicht beenden, weil er am 1. August 1944 zum Wehrdienst eingezogen wurde. Bis zum Kriegsende war er Soldat. Mit der Kapitulation geriet er in russische Gefangenschaft. Ende April 1950 wurde er nach Mitteldeutschland entlassen. Ein halbes Jahr später siedelte er in die Bundesrepublik über. Hier nahm er seine Lehre wieder auf. Er mußte sie jedoch im Januar 1951 abbrechen, weil er an einer Lungentuberkulose erkrankt war, die als Wehrdienstbeschädigung anerkannt wurde. Er bezieht deshalb eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 % und seit dem 1. August 1952 außerdem von der beigeladenen Landesversicherungsanstalt (LVA) eine Invalidenrente.

Am 19. Mai 1958 schloß der Kläger mit den Ausbildungswerkstätten für Schwerbeschädigte der Handwerkskammer Lübeck als Lehrbetrieb einen "Ausbildungsvertrag" ab. Danach sollte er vom 19. Mai 1958 bis zum 31. Mai 1960 nach den "fachlichen Vorschriften zur Regelung des Lehrlingswesens im Feinmechanikerhandwerk" ausgebildet werden. Er wurde in die Lehrlingsrolle der Handwerkskammer eingetragen und war verpflichtet, die Berufsschule zu besuchen und eine Gesellenprüfung abzulegen. Er hat sie inzwischen auch bestanden und ist nunmehr als Feinmechaniker tätig.

Der Kläger erhielt während seiner Lehrzeit weder von den Ausbildungswerkstätten noch von der Handwerkskammer eine Entschädigung. Die durch seine Ausbildung entstandenen Kosten sowie sein und seiner Ehefrau Unterhalt wurden während der Ausbildungszeit vom Versorgungsamt und der Fürsorgebehörde getragen.

Die Handwerkskammer hatte bis Ende März 1959 an die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) für alle von ihr in den Lehrwerkstätten ausgebildeten Personen und somit auch für den Kläger Sozialversicherungsbeiträge abgeführt. Mit Schreiben vom 24. März 1959 teilte die Beklagte den Ausbildungswerkstätten jedoch mit, daß sie den Kläger sowie alle übrigen Besucher der Ausbildungswerkstätten als nicht versicherungspflichtige Umschüler ansehe und ab 1. April 1959 keine Beiträge auf Grund einer Pflichtversicherung mehr erheben werde; sie stellte jedoch freiwillige Weiterversicherung anheim.

Nachdem das Schreiben vom 24. März 1959 dem Kläger bekannt geworden war, legte er dagegen bei der Beklagten Widerspruch ein mit dem Antrage, die Entscheidung vom 24. März 1959 aufzuheben und Pflichtversicherungsbeiträge anzunehmen. Der Widerspruch wurde durch Bescheid vom 25. Juni 1959 zurückgewiesen.

Daraufhin erhob der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Lübeck Klage. Er vertrat die Ansicht, daß er Lehrling und damit versicherungspflichtig sei, und beantragte,

die Bescheide der Beklagten vom 24. März 1959 und 25. Juni 1959 aufzuheben sowie festzustellen, daß er auch über den 31. März 1959 hinaus als Lehrling der Sozialversicherungspflicht unterliege.

Das SG vernahm den Leiter der Ausbildungswerkstätten als Zeugen und erkannte alsdann entsprechend dem Klageantrag mit der Begründung, daß zwischen den Parteien ein echtes, der Sozialversicherungspflicht unterliegendes Lehrverhältnis bestehe.

Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung ist vom Landessozialgericht (LSG) Schleswig-Holstein zurückgewiesen worden. Dieses hat ein rechtlich begründetes Interesse des Klägers an der Feststellung seiner Sozialversicherungspflicht anerkannt und in der in den Lehrwerkstätten vorgesehenen Ausbildung ebenfalls ein echtes Lehrlingsverhältnis gesehen.

Dagegen hat die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt mit dem Antrage,

das Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 26. September 1960 und das Urteil des SG Lübeck vom 17. Dezember 1959 aufzuheben und festzustellen, daß die Ausbildung des Klägers in den Ausbildungswerkstätten für Schwerbeschädigte der Handwerkskammer Lübeck nicht der Versicherungspflicht zur Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung der Arbeiter unterlegen hat.

Zur Begründung macht die Beklagte geltend, Voraussetzung für die Versicherungspflicht von Lehrlingen sei, daß sie beschäftigt würden. Hieran fehle es in den Ausbildungswerkstätten. Eine Beschäftigung liege nur vor, wenn ein Arbeitnehmer seine Arbeitskraft in wirtschaftlicher und persönlicher Abhängigkeit seinem Arbeitgeber zur Verfügung stelle. Ein solches Arbeitgeber-Arbeitnehmerverhältnis habe nicht vorgelegen. Der Kläger sei nicht Arbeitnehmer und die Ausbildungswerkstätten nicht sein Arbeitgeber gewesen. Die Ausbildungswerkstätten für Schwerbeschädigte seien ein von der Handwerkskammer Lübeck ins Leben gerufener Schulbetrieb mit internatsmäßigem Charakter zum Zwecke der Umschulung von Beschädigten und nicht voll einsatzfähigen Personen, um sie wieder in das Berufsleben einzugliedern. Die Ausbildungswerkstätten würden von der Handwerkskammer ohne eigentliches Arbeitgeberrisiko unterhalten. Die Kosten für die Ausbildung der Umschüler würden von den zuständigen Stellen (Landesversicherungsanstalten, Landesarbeitsämtern, Versorgungsämtern, Sozialämtern und Berufsgenossenschaften) jeweils in voller Höhe übernommen. Die Ausbildungskosten hätten täglich 6,- DM betragen. Hierzu seien Lehr- und Lernmittel mit etwa 60,- DM pro Halbjahr sowie die Berufskleidung mit etwa 100,- DM jährlich gekommen. Auch für den Kläger seien die Kosten der Umschulung von einer der genannten Stellen, nämlich der zuständigen Fürsorgestelle getragen worden. Den Unterhalt seiner Familie habe ebenfalls die Fürsorgestelle übernommen. Der Kläger habe zur Bestreitung seiner persönlichen Bedürfnisse außer seiner Kriegsbeschädigtenrente zudem noch eine Unterhaltsbeihilfe erhalten. Er sei während seiner Ausbildung einem Beschädigten mit einer MdE von 100 % gleichgestellt worden.

Die Handwerkskammer Lübeck habe die Verträge ebenfalls nicht als Lehrverträge angesehen und deshalb als Ausbildungsverträge bezeichnet. Im allgemeinen dauere eine Feinmechanikerlehre 3 1/2 Jahre. Als Ausbildungszeit für die Umschüler seien dagegen nur 2 Jahre vorgesehen gewesen. Alles dies zeige, daß es sich um einen Schulbetrieb gehandelt habe. Dementsprechend hätten die Ausbildungswerkstätten nicht die Eigenschaften eines Arbeitgebers gehabt. Sie hätten die Ausbildungskosten auf die öffentlich-rechtlichen Kostenträger umgelegt und kein Risiko getragen.

Überdies sei die Krankenversicherung der Umschüler auch auf anderem Wege sichergestellt. Bereits mit Anordnung vom 9. Februar 1942 (AN S. 107) habe der damalige Reichsarbeitsminister (RAM) bestimmt, daß die Krankenversicherung versehrter Beschädigter während der Ein- und Umschulung nach § 363 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) von den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung durchzuführen sei. Diese Regelung sei allerdings durch das Bundesversorgungsgesetz (BVG) überholt. Nach diesem bestehe jetzt jedoch ein entsprechender Versicherungsschutz. Ähnliches gelte für die anderen Umschüler, deren Umschulungskosten von anderen Stellen getragen würden. Schließlich sei der Kläger bereits durch die Rentnerkrankenversicherung geschützt.

Im übrigen sei auch für die entsprechende Niedersächsische Landes-Versehrtenberufsfachschule in Bad Pyrmont schon seit mehr als 10 Jahren die Auffassung vertreten worden, daß es sich dabei um einen Schulbetrieb handele, so daß ihre Besucher Fachschüler und keine Lehrlinge seien.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er schließt sich der Auffassung des LSG an.

Die übrigen Beigeladenen haben keine ausdrücklichen Anträge gestellt. Die beigeladene LVA und die beigeladene Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb) halten jedoch ebenfalls das angefochtene Urteil für richtig.

Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte und nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision der beklagten AOK ist im wesentlichen nicht begründet.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß die in den staatlich anerkannten Ausbildungswerkstätten für Schwerbeschädigte der Handwerkskammer Lübeck tätigen "Auszubildenden" (so die Terminologie in den abgeschlossenen Ausbildungsverträgen) Lehrlinge im Sinne der Vorschriften über Versicherungspflicht in der Kranken- und Rentenversicherung sind.

Wie der Senat in BSG 18, 246 bereits für Jugendliche ausgeführt hat, sind diese Lehrlinge im Sinne des § 165 a Nr. 2 RVO und des § 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO, wenn sie in staatlich anerkannten Lehrwerkstätten eines Erziehungsheimes auf Grund von Anstaltslehrverträgen, die von der Handwerkskammer genehmigt sind und zur Eintragung der Lehrlinge in die Lehrlingsrolle geführt haben, nach Art der Lehrlingsausbildung in gewerblichen Betrieben mit dem Ziel der Ablegung der Gesellenprüfung ausgebildet werden. Dem steht auch nicht entgegen, daß die Ausbildung nicht in einer der Erzielung eines Arbeitsproduktes dienenden Arbeitsstätte, also in einem Betrieb mit Arbeitgeber und Arbeitnehmern durchgeführt wird. Wie der Senat aaO ebenfalls schon näher dargelegt hat, ist es für ein Lehrlingsverhältnis nicht wesensnotwendig, daß die Lehrlinge auch zu Arbeiten herangezogen werden, die für einen Betrieb von Nutzen sind. Hiermit im Einklang steht die Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamtes (RVA). In der Grundsätzlichen Entscheidung - GE - Nr. 4455 (AN 1932, 425) hat es ebenfalls die Ausbildung eines Körperbehinderten in einer Heilanstalt zur Erlernung eines Handwerks als ein die Versicherungspflicht begründendes Lehrverhältnis anerkannt.

Nach diesen Grundsätzen müssen die in den Ausbildungswerkstätten der Handwerkskammer Lübeck tätigen "Auszubildenden" gleichfalls als Lehrlinge angesehen werden und können nicht als nicht versicherungspflichtige Fachschüler gelten. Sie haben mit den Lehrwerkstätten einen Ausbildungsvertrag geschlossen mit dem Ziel der Ablegung der Gesellenprüfung. Zu diesem Zweck haben sie sich u. a. verpflichtet, sich nach Kräften zu bemühen, das Lehrziel zu erreichen, sich in die "im Betrieb bestehende Ordnung und in die Betriebsgemeinschaft" einzuordnen und die ihnen übertragenen Arbeiten fleißig und gewissenhaft auszuführen, ferner die Interessen des Betriebes zu wahren und die ihnen anvertrauten Werkstoffe und Geräte des Lehrbetriebes nur zu den ihnen aufgetragenen Aufgaben zu verwenden und sorgsam damit umzugehen. Sie sind damit zu Ausbildungszwecken dort beschäftigt. Sie sind ferner in die Lehrlingsrolle der zuständigen Handwerkskammer eingetragen worden. Daß sie kein Entgelt erhalten und internatsmäßig in den Lehrwerkstätten untergebracht sind, ist demgegenüber bedeutungslos. Auch in der freien Wirtschaft sind Lehrlinge vielfach in besonderen Lehrlingsheimen untergebracht. Ob die in den Lehrwerkstätten der beigeladenen Handwerkskammer Auszubildenden auch Lehrlinge im Sinne des Arbeitsrechts und der Handwerksordnung sind (vgl. insbesondere § 31 Abs. 3 der HandwO vom 17. September 1953 - BGBl I 1411 -), kann dahinstehen.

Somit ist, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, die Versicherungspflicht des Klägers in der Krankenversicherung und in der Rentenversicherung der Arbeiter gegeben. Lediglich in der Arbeitslosenversicherung bestand Versicherungsfreiheit. Hier ist vom LSG übersehen worden, daß der Kläger seit 1952 eine Invalidenrente bezieht. Diese gilt seit dem 1. Januar 1957 nach Art. 2 § 38 Abs. 2 ArVNG als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Nach § 57 Satz 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) idF der Bekanntmachung vom 3. April 1957 (BGBl I 321) war versicherungsfrei eine Beschäftigung während einer Zeit, für die dem Berechtigten Rente wegen Invalidität oder Berufsunfähigkeit zuerkannt ist. Allerdings ist § 57 Satz 2 AVAVG durch das 2. Änderungsgesetz zum AVAVG vom 7. Dezember 1959 (BGBl I 705) geändert worden. Mit Wirkung vom 1. Dezember 1959 ist nunmehr u. a. nur noch versicherungsfrei, wem eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zuerkannt ist. Hierunter fallen jedoch auch die umgestellten und nach Art. 2 § 38 Abs. 2 ArVNG als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit geltenden Altrenten (vgl. Fangmeyer/ Ueberall § 57 AVAVG S. 357; Krebs, 2. Aufl. § 57 AVAVG Note 6; Schieckel § 57 AVAVG Anm. 1 a; Leder, BABl 1959, 805).

Somit mußte die Revision im wesentlichen mit der aus der Urteilsformel ersichtlichen Maßgabe zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei ist berücksichtigt worden, daß der Kläger mit seiner Rechtsverfolgung im wesentlichen Erfolg gehabt hat.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI929576

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