Entscheidungsstichwort (Thema)
Grenzen der Sachaufklärungspflicht
Leitsatz (redaktionell)
Die Sachaufklärungspflicht des Gerichts ist nicht völlig losgelöst von der Mitwirkungspflicht der Beteiligten und hat dort ihre Grenzen, wo die Beteiligten selbst keine Anhaltspunkte für bestimmte tatsächliche Umstände vortragen.
Normenkette
SGG § 103 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 5. August 1966 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt aus der Angestelltenversicherung (AnV) ihres am 26. November 1961 verstorbenen Ehemannes (nachfolgend "der Versicherte" genannt) die Gewährung einer Witwenrente für die Zeit ab 1. April 1964.
Der 1894 geborene Versicherte, der im ersten Weltkrieg verwundet wurde und nach Kriegsende einen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb bewirtschaftete, wurde zu Beginn des zweiten Weltkrieges als Postamtsleiter in L/Kreis W (Westpreußen) dienstverpflichtet. In der Zeit von Januar bis Dezember 1942 wurden für ihn 12 Pflichtbeiträge zur AnV entrichtet. Nach seiner Vertreibung aus Westpreußen im Januar 1945 kam er in das Gebiet der heutigen DDR. Dort gewährte ihm die Sozialversicherungsanstalt Thüringen mit Bescheid vom 9. Juni 1948 wegen der Folgen der Wehrdienstbeschädigung ("Lähmung der unteren Extremitäten durch Querschnittverletzung des Rückenmarks und Störung der Blasen- und Darmtätigkeit") eine Kriegsinvalidenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 90 v.H. Außerdem erhielt er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes ab 1. Oktober 1950 ein Pflegegeld. Nachdem der Versicherte im November 1961 an einem Schlaganfall (Apoplexie) gestorben war, bezog die Klägerin ab 1. Dezember 1961 in der DDR eine Kriegswitwenrente. Im Januar 1963 verzog sie in die Bundesrepublik; hier erhielt sie vom Versorgungsamt (VersorgA) O im Wege des Härteausgleichs eine Witwenbeihilfe. Ihr Antrag auf Witwenrente nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wurde abgelehnt, weil der Tod des Versicherten nicht auf seine Wehrdienstbeschädigung zurückzuführen sei.
Den im April 1964 gestellten Antrag der Klägerin auf Witwenrente lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die hierfür erforderliche Wartezeit sei nicht erfüllt (Bescheid vom 14. Dezember 1964). Die dagegen erhobene Klage hatte Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Osnabrück vom 5. April 1966). Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen mit Urteil vom 5. August 1966 das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab: Der Witwenrentenanspruch der Klägerin sei nicht begründet, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei und auch nicht als erfüllt gelte. Das SG habe den Witwenrentenanspruch zu Unrecht aufgrund der Wartezeitfiktion des § 29 Ziff. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) für gegeben erachtet; es habe dabei übersehen, daß § 29 AVG idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nicht für Versicherungsfälle gelte, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten seien. Der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit (BU) des Versicherten sei im Januar 1948 eingetreten und könne daher nur nach den vor 1957 geltenden Rechtsvorschriften beurteilt werden (§ 31 AVG aF i.V.m. § 1263 a Abs. 1 Ziffern 2 und 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF); die Voraussetzungen zu deren Anwendung seien aber nicht erfüllt. Der im Jahre 1961 eingetretene Versicherungsfall des Todes sei zwar nach § 29 Ziff. 2 AVG idF des AnVNG zu beurteilen; die Anwendbarkeit dieser Vorschrift scheitere aber daran, daß der Tod des Versicherten nicht als Folge des im ersten Weltkrieg geleisteten Wehrdienstes angesehen werden könne.
Die Klägerin legte fristgemäß und formgerecht die vom LSG zugelassene Revision ein; sie beantragte sinngemäß,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG habe zwar mit Recht zwischen dem Versicherungsfall der BU und dem des Todes des Versicherten unterschieden und den Witwenrentenanspruch nach den von ihm in Betracht gezogenen Anspruchsgrundlagen zutreffend verneint. Das LSG hätte aber hinsichtlich des Versicherungsfalles des Todes die Wartezeitfiktion des § 29 Ziff. 6 AVG als gegeben erachten müssen; es habe nicht geprüft, ob die der Vertreibung des Versicherten aus seiner Heimat folgende spätere Vertreibung aus Pommern neben seiner Wehrdienstbeschädigung als wesentliche Ursache für die 1948 eingetretene BU in Betracht komme und ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Vertreibung und dem Tod des Versicherten gegeben sei. Zu einer solchen Prüfung habe das LSG Anlaß gehabt, weil es aktenkundig sei, daß der Versicherte Vertriebener gewesen und daß er nach seiner Vertreibung im August 1947 schwer erkrankt sei. Das LSG habe somit seine Amtsermittlungspflicht verletzt, weil es die tatsächlichen Umstände, die für den Anspruch nach § 29 Ziff. 6 AVG von Bedeutung seien, unaufgeklärt gelassen habe.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist nicht begründet.
Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung einer Witwenrente aus der AnV ihres verstorbenen Ehemannes beurteilt sich nach § 40 Abs. 2 AVG. Die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Vorschrift sind jedoch weder nach der bis zum 30. Juni 1965 geltenden Fassung (aF) noch nach der am 1. Juli 1965 in Kraft getretenen Neufassung (nF) durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) erfüllt.
Nach den mit der Revision nicht angegriffenen und deshalb (§ 163 SGG) für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG hat der Versicherte bis zum Zeitpunkt seines Todes nur 12 Beiträge zur AnV entrichtet. Selbst bei Berücksichtigung der im Januar 1945 einsetzenden Vertreibungszeit - die nach den vom LSG zugezogenen Beiakten längstens bis August 1947 gedauert haben kann - konnte er nicht die für die Rente wegen BU erforderliche Wartezeit von 60 Kalendermonaten zurücklegen (vgl. dazu §§ 23 Abs. 3, 27 Abs. 1 Buchst. b, 28 Abs. 1 Ziff. 6 AVG). Ob ihm dennoch nach der 1. Alternative in § 40 Abs. 2 AVG nF zur Zeit seines Todes Rente wegen BU oder möglicherweise sogar wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) zustand, hängt, da ihm tatsächlich bis zu seinem Tode keine Versichertenrente gezahlt worden ist, von den gleichen Voraussetzungen ab, von denen auch die Gewährung der Hinterbliebenenrente abhängt, nämlich davon, ob die Wartezeit nach § 29 AVG als erfüllt gilt; dabei ist die Frage, ob der Versicherte infolge einer der in § 29 AVG genannten Gründe berufsunfähig geworden ist, entscheidend für die 1. Alternative in § 40 Abs. 2 AVG nF, während ein etwaiger Zusammenhang zwischen dem Tod des Versicherten und § 29 Ziff. 1 bis 6 AVG für die 3. Alternative in § 40 Abs. 2 AVG von Bedeutung ist. Für beide Versicherungsfälle - dem der BU und dem des Todes - hat das LSG mit Recht die Wartezeitfiktion des § 29 Ziff.2 AVG verneint. Nach dieser Vorschrift gilt die Wartezeit zugunsten eines Versicherten als erfüllt, wenn er während oder infolge eines im Kriege geleisteten militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 BVG berufsunfähig geworden oder gestorben ist. Das LSG hält diese Vorschrift nur auf den 1961 eingetretenen Versicherungsfall des Todes für anwendbar; den 1948 erfolgten Versicherungsfall der BU hat es dagegen nach dem vor Inkrafttreten des AnVNG geltenden Recht beurteilt. Hiergegen bestehen im Hinblick auf Art. 2 § 6 AnVNG keine Bedenken (vgl. dazu BSG SozR Nr. 3 zu § 1252 RVO). Die Frage, inwieweit altes oder neues Recht auf die beiden Versicherungsfälle anwendbar ist, kann jedoch offenbleiben, weil sowohl nach § 29 AVG als auch nach § 31 AVG aF i.V.m. § 1263 a Abs. 1 Ziff. 2 und 3 RVO aF die Wartezeitfiktion nur einem "Versicherten" zugute kommen kann. Es muß also bereits vor dem Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses - das hier nicht mit dem Versicherungsfall der BU zusammenfällt - ein Rentenversicherungsverhältnis bestanden haben, d.h. ein wirksamer Beitrag zur Rentenversicherung entrichtet worden sein (vgl. BSG 24, 85, 87; SozR Nr. 14 zu § 1263 a RVO aF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Bd. III 1. bis 7. Aufl. S. 680 a; Verbandskomm. zur RVO Bd. I 6. Aufl. § 1252 Anm. 4). An dieser Voraussetzung fehlt es, weil der erste Beitrag des Versicherten zur Sozialversicherung erst im Jahre 1942, also nach seiner im 1. Weltkrieg erlittenen Verwundung, geleistet worden ist.
Die von der Revision erhobene Rüge, das LSG habe es unterlassen zu prüfen, ob der Witwenrentenanspruch aufgrund der Wartezeitfiktion des § 29 Ziff. 6 AVG gegeben sei, und es habe insoweit seine Sachaufklärungspflicht verletzt, greift nicht durch. Zwar wäre eine Wartezeiterfüllung nach § 29 Ziff. 6 AVG nicht grundsätzlich ausgeschlossen, weil jedenfalls vor der Vertreibung des Versicherten aus Westpreußen ein wirksames Versicherungsverhältnis bestanden hat. Die Vorschrift wäre auch auf den nach dem 30. Juni 1944 eingetretenen Versicherungsfall der BU des Versicherten anwendbar (vgl. Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. c AnVNG). Die Anwendbarkeit des § 29 Ziff. 6 AVG scheitert jedoch daran, daß der Versicherte nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht als Vertriebener im Sinne der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes durch Folgen der Vertreibung berufsunfähig geworden oder gestorben ist und daß insoweit ein Verfahrensfehler von der Revision nicht hinreichend substantiiert dargetan ist.
Dem Gesamtzusammenhang des Berufungsurteils ist zu entnehmen, daß das LSG - rechtsfehlerfrei - davon ausgegangen ist, der Witwenrentenanspruch der Klägerin hänge davon ab, ob eine der in § 29 AVG enthaltenen Wartezeitfiktionen für die Versicherungsfälle der BU und des Todes vorliegt. Wenn es dabei näher nur auf § 29 Ziff. 2 AVG eingegangen ist, so ist dies hier nicht zu beanstanden. Zwar ist das Gericht im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 103 Satz 2 SGG); es muß vielmehr in seine Ermittlungen und Feststellungen auch Umstände einbeziehen, die von den Beteiligten nicht vorgebracht, aber auch nicht auszuschließen sind oder über die sie sich nur unvollständig oder unklar geäußert haben (vgl. Urteil des 11. Senats vom 12. Dezember 1969 - 11 RA 154/69 -). Die Sachaufklärungspflicht des Gerichts ist aber gleichwohl nicht völlig losgelöst von der Mitwirkungspflicht der Beteiligten und hat dort ihre Grenze, wo die Beteiligten selbst keine Anhaltspunkte für bestimmte tatsächliche Umstände vortragen (vgl. BGH in MDR 1955, 347, 349; BVerwG in DV-Blatt 1964, 192; SozR Nr. 3 zu § 103 SGG; Haueisen in NJW 1966, 764, 765). Die Klägerin selbst hat in den Tatsacheninstanzen nichts vorgebracht, was auf einen Kausalzusammenhang zwischen etwaigen Vertreibungsfolgen und der BU sowie dem Tod des Versicherten hätte schließen lassen. Sie hat nur ausgeführt (Bl. 18 der Gerichtsakten), es bestehe kein Zweifel, daß der Versicherte infolge der Kriegsbeschädigung berufsunfähig geworden sei. Aus den beigezogenen Akten der Beklagten und des VersorgA O ergab sich kein Anhaltspunkt für etwaige Vertreibungsschäden; aus diesen Akten konnte das Gericht nur die Tatsache entnehmen, daß der Versicherte bei Kriegsende vertrieben worden ist. Dem LSG lag aber andererseits der Bescheid der Sozialversicherungsanstalt Thüringen vom 9. Juni 1948 vor, wonach bei dem Versicherten im Jahre 1948 allein infolge seiner Wehrdienstbeschädigung eine MdE um 90 v.H. bestand. Unter diesen Umständen bestand für das LSG kein Anlaß, die Frage des Kausalzusammenhangs zwischen etwaigen Vertreibungsfolgen und der BU sowie dem Tod des Versicherten zu erörtern. Im übrigen hätte die Vertreibung als Ursache für die BU und den Tod des Versicherten nur dann rechtlich bedeutsam sein können, wenn sie die wesentliche Bedingung für den Eintritt eines der beiden Versicherungsfälle gewesen wäre (BSG 10, 173, 175). In dieser Beziehung fehlte dem LSG aber zur Zeit seiner Entscheidung jeglicher Anhaltspunkt.
Bei dieser Sachlage hätte die Revision im einzelnen darlegen und unter Beweis stellen müssen, auf Grund welcher im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Urteils bekannten tatsächlichen Umstände das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen in bezug auf die Wartezeitfiktion des § 29 Ziff. 6 AVG anzustellen, und in welcher Richtung derartige Ermittlungen im einzelnen hätten vorgenommen werden müssen (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG; SozR Nr. 14 zu § 103 SGG). Die Revisionsbegründung enthält jedoch insoweit keine weiteren Darlegungen. Die Behauptung, der Versicherte sei im Anschluß an seine Vertreibung im August 1947 schwer erkrankt, ist als neues Vorbringen im Revisionsverfahren unbeachtlich; sie ist - wie bereits erwähnt - in den Tatsacheninstanzen nicht vorgebracht worden; aus den vom LSG zugezogenen Beiakten hat sich hierüber nichts ergeben. Da weitere Tatsachen und Beweismittel von der Klägerin nicht bezeichnet worden sind, ist weder ein Verstoß des LSG gegen die §§ 103, 106 SGG noch gegen § 128 SGG dargetan.
Die Revision der Klägerin ist somit unbegründet; sie muß deshalb zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen