Leitsatz (amtlich)
Ist der Beschädigte allein wegen der Schädigungsfolgen arbeitsunfähig, so ist er auch erwerbsunfähig iS des BVG § 31 Abs 1, ohne daß zu prüfen wäre, welche Minderung der Erwerbsfähigkeit sich auf Grund der Funktionsausfälle ergäbe, wenn keine Arbeitsunfähigkeit bestünde.
Normenkette
BVG § 30 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28, § 31 Abs. 1 Fassung: 1966-12-28
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. Juni 1971 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Kläger erhält wegen verschiedener Schädigungsfolgen Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H.. Wegen Verschlimmerung seiner Schädigungsfolgen - eiternde Wunde an der beschädigten Hand - war er vom 6. Januar 1969 bis 3. Juni 1969 arbeitsunfähig erkrankt und während dieser Zeit vom 22. April bis 21. Mai 1969 in stationärer Behandlung. Nach Abschluß der Behandlung wurde die MdE wieder auf 30 v.H. geschätzt, weshalb der im März 1969 gestellte Verschlimmerungs- bzw. Rentenerhöhungsantrag des Klägers mit Bescheid vom 13. Januar 1970 abgelehnt wurde. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, er sei in der fraglichen Zeit schädigungsbedingt arbeitsunfähig gewesen; deshalb stehe ihm eine MdE um 100 v.H. zu. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 1970), weil der veränderte Zustand nicht länger als sechs Monate angehalten habe und deshalb keine wesentliche Änderung vorliege. Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) den Beklagten mit Urteil vom 8. Dezember 1970 verurteilt, dem Kläger wegen einer vorübergehenden Verschlimmerung der Schädigungsfolgen statt der Rente nach einer MdE um 30 v.H. für die Zeit vom 1. März 1969 bis 30. Juni 1969 eine solche nach einer MdE um 100 v.H. zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die zugelassene Berufung des Beklagten mit Urteil vom 3. Juni 1971 zurückgewiesen. Es hat ua ausgeführt, nach der Rechtsprechung des 8. und 10. Senats des Bundessozialgericht (BSG) liege eine wesentliche Änderung i.S. des § 62 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) schon dann vor, wenn sie wenigstens einen Monat anhalte. Das sei hier der Fall.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Beklagte Verletzung der §§ 30, 31 und 62 BVG. Auch wenn man bei einer Erkrankung von weniger als sechs Monaten eine wesentliche Änderung annehmen wolle, müsse doch die Frage, ob der seitherige MdE-Grad hierdurch unrichtig geworden sei, mit Hilfe des § 30 Abs. 1 und 2 BVG beantwortet werden. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift sei die MdE nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen. Dabei sei darauf abzustellen, inwieweit ein Funktionsausfall bzw. eine Funktionsbeschränkung bestehe (vgl. BSG Urt. vom 4. April 1963, SozR Nr. 23 zu § 62 BVG). Danach sei für den Leidenszustand in der fraglichen Zeit maximal eine Gesamt-MdE um 40 v.H. gerechtfertigt, denn der verschlimmerte Leidenszustand sei nie so schwerwiegend gewesen wie ein Handverlust. Wenn das LSG auf die Arbeitsunfähigkeit abgehoben habe, so gleiche dies der Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins. Als Ausgleich gegen schädigungsbedingte Arbeitsunfähigkeit werde aber Einkommensausgleich und Krankengeld gewährt.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. Juni 1971 und des Urteils des Sozialgerichts Aachen vom 18. Dezember 1970 die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er weist auf das Urteil des 9. Senats des BSG vom 26. August 1971 - 9 RV 436/68 - hin, das sich der Rechtsprechung des 8. und 10. Senats angeschlossen habe. Im übrigen komme es nicht nur auf den eingetretenen Funktionsausfall an, vielmehr seien auch die durch die Verschlimmerung bedingten Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten und der im Revisionsverfahren eingereichten Schriftsätze verwiesen.
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und deshalb zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sachlich konnte sie jedoch keinen Erfolg haben.
Der Senat konnte von einer näheren Darlegung der Rechtsprechung des 8. und 10. Senats (vgl. z.B. BSG 23, 192; 27, 126) absehen, nachdem sich schon das LSG hierauf gestützt und die Revision hiergegen keine ins einzelne gehenden Einwendungen mehr erhoben hat. Inzwischen hat sich auch der 9. Senat des BSG im Urteil vom 26. August 1971 - 9 RV 436/68 - dieser Rechtsprechung angeschlossen und entschieden, daß sich die für die Feststellung der Beschädigtengrundrente maßgebenden gesundheitlichen Verhältnisse schon dann wesentlich geändert haben, wenn sich der Grad der MdE mindestens für die Dauer eines Monats um 10 v.H. erhöht hat. In dieser Entscheidung ist auch betont worden, daß es - wie hier - nur um die Grundrente gehe, bei der neben den rein gesundheitlichen Folgen zwar auch seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen seien, die aber zu unterscheiden sei von anderen Leistungen, wie z.B. Einkommensausgleich, Ausgleichsrente und Berufs- und Witwenschadensausgleich, die ausschließlich wegen der wirtschaftlichen Folgen der Schädigung gewährt würden. An dieser Rechtsprechung ist jedenfalls für die hier strittige Zeit festzuhalten.
Die Revision beachtet den Charakter der Grundrente nicht hinreichend, wenn sie meint, die MdE könne im Falle einer schädigungsbedingten Arbeitsunfähigkeit deshalb nicht auf 100 v.H. erhöht werden, weil bei schädigungsbedingter Arbeitsunfähigkeit Einkommensausgleich (und Krankengeld) gewährt werde. Der 9. Senat hat hierzu in der genannten Entscheidung mit Recht betont, daß sich die Grundrente nicht mit dem Einkommensausgleich vergleichen lasse, weil beide Leistungen nach ihren Zweckbestimmungen grundverschieden seien. Die Grundrente ist hiernach insbesondere von einem konkreten Einkommensschaden unabhängig. Sie soll nach dem BVG einen Mehraufwand abgelten, der dem Beschädigten als Folge der Schädigung und dem Hinterbliebenen als Folge des Verlustes des Ernährers in allen Lebenslagen erwächst (vgl. Urt. des 9. Senats vom 8. Juli 1969, BSG 30, 21, 25f). Dieser Auffassung hat der Deutsche Bundestag, wie der 9. Senat dargelegt hat, in einem Beschluß bei der 3. Beratung zum 2. Neuordnungsgesetz (NOG) am 22. Januar 1964 zugestimmt (BT-Drucks. IV/1831 S. 13, 107. Sitzung S. 4887 A). Die Grundrente stellt hiernach, wie es in der Begründung zum 1. NOG heißt, "die Entschädigung für die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität dar", sie ist und bleibt "unantastbar", d.h. sie wird ohne Rücksicht auf sonstiges Einkommen gewährt und bei Bemessung anderer Leistungen unberücksichtigt gelassen (BT-Drucks. III/1239 S. 21 zu A 1; Wilke, Kommentar zum BVG, 3. Aufl., § 31, Anm. II). Diesem Sinn und Zweck der Grundrente entspricht es deshalb auch, dem Beschädigten, dessen schädigungsbedingte Gesundheitsstörungen sich für eine Dauer von mindestens einem Monat wesentlich verschlimmert haben, eine "Entschädigung für die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität", d.h. für größere Schmerzen und sonstige Beeinträchtigungen oder Störungen des körperlichen und seelischen Wohlbefindens, zuzubilligen, also eine höhere Grundrente. Dagegen soll der Einkommensausgleich lediglich eine durch Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung und stationäre Krankenhausbehandlung usw. entstandene Einkommensminderung ausgleichen, die konkret festzustellen ist.
Der Auffassung der Revision, bei der MdE-Bemessung nach § 30 Abs. 1 BVG gehe es nur um die Bewertung von Funktionsausfällen bzw. Funktionsbeschränkungen kann nicht zugestimmt werden, wenn damit zum Ausdruck kommen soll, daß eine durch die Schädigungsfolgen bedingte Arbeitsunfähigkeit bei der MdE-Bemessung nicht berücksichtigt werden dürfe. Die Revision räumt selbst ein, daß die MdE nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen sei, und daß sich die MdE grundsätzlich danach bemesse, in welchem Ausmaß der durch die Schädigungsfolge bedingte Zustand die Fähigkeit des Beschädigten, seine Arbeitskraft auf dem ihm zu Gebote stehenden Arbeitsmarkt wirtschaftlich zu verwerten, mindere. Diese Ausführungen treffen zu; sie stehen im Einklang mit der Entscheidung des 9. Senats des BSG vom 6. Mai 1969 - 9 RV 700/68 - (KOV 1970, 29) bzw. mit dem Gesetzeswortlaut des § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG. Insofern gilt auch für die Grundrente - obwohl sie ohne Rücksicht auf sonstiges Einkommen gewährt wird und hier der Gedanke im Vordergrund steht, eine Entschädigung für die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität zu gewähren - der Grundsatz des § 1 Abs. 1 BVG, daß die Versorgung die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung ausgleichen soll. Ist der Beschädigte sonach durch die Schädigungsfolgen - wie hier - in stationäre Behandlung gekommen und arbeitsunfähig geworden, so ist er damit außerstande, seine Arbeitskraft auf dem ihm zu Gebote stehenden Arbeitsmarkt wirtschaftlich zu verwerten. Damit ist eine MdE um 100 v.H. gegeben. Solange der Beschädigte daher allein wegen der Schädigungsfolgen arbeitsunfähig ist, ist er auch erwerbsunfähig i.S. des § 31 Abs. 1 BVG, ohne daß zu prüfen wäre, welche MdE sich auf Grund der Funktionsausfälle ergäbe, wenn keine Arbeitsunfähigkeit vorläge.
Die Revision beruft sich für ihre abweichende Rechtsauffassung auch zu Unrecht auf das Urteil des erkennenden Senats vom 4. April 1963 - 8 RV 457/61 - (SozR Nr. 23 zu § 62 BVG). Dort ist nicht nur auf die "Funktionstüchtigkeit" eines Körperteils abgestellt, vielmehr ausgeführt worden, bei der Festsetzung der MdE sei zu prüfen, inwieweit sich die gesamten Schädigungsfolgen auf die Funktionstüchtigkeit des Körpers "und die gesamte Erwerbsfähigkeit auswirken". Im übrigen war im dortigen Fall überhaupt keine Arbeitsunfähigkeit gegeben, vielmehr ging es nur darum, ob die MdE 40 oder 50 v.H. beträgt.
Sonach ist weder die Festsetzung einer MdE um 100 v.H. für die Dauer der Krankenhausbehandlung und Arbeitsunfähigkeit des Klägers noch die Verurteilung des Beklagten zu einer entsprechenden vorübergehenden Rentenerhöhung zu beanstanden, nachdem die Verschlimmerung mehr als einen Monat, nämlich fast fünf Monate angedauert hatte.
Da der Rechtsstreit Leistungen aus dem Jahre 1969 betrifft, konnte dahingestellt bleiben, wie die Rechtslage nach dem am 1. Januar 1972 in Kraft getretenen Art. 1 Nr. 14 des Dritten Gesetzes über die Anpassung der Leistungen des BVG vom 16. Dezember 1971 (BGBl I 1985) zu beurteilen ist (vgl. Art. 3 § 5), d.h. ob der jetzt geltende Satz in § 30 Abs. 1 BVG: "Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten" etwa nur für die Fälle des § 30 BVG (erstmalige Festsetzung der Rente) oder auch für die Frage einer wesentlichen Änderung i.S. des § 62 Abs. 1 BVG bedeutsam ist.
Nach alledem war die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen