Entscheidungsstichwort (Thema)

Medizinische Sachaufklärung. Gutachten nach Aktenlage

 

Orientierungssatz

Zur Pflicht des Gerichts, eine nochmalige ärztliche Untersuchung sowie eine Begutachtung durch einen Sachverständigen anzuordnen, weil frühere Untersuchungen in Polen die Ursächlichkeit heutiger Leiden nicht sicher nachweisen konnten.

 

Normenkette

SGG § 103 S. 1, § 128 Abs. 1

 

Verfahrensgang

SG Münster (Entscheidung vom 28.11.1989; Aktenzeichen S 11 V 70/88)

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 25.10.1990; Aktenzeichen L 7 V 61/90)

 

Tatbestand

Die Revision betrifft die Frage, ob das Landessozialgericht (LSG) einen vom Kläger gestellten Beweisantrag auf Untersuchung durch einen deutschen Arzt übergehen durfte.

Der 1927 geborene, in Polen lebende Kläger begehrt aufgrund eines Antrages vom Juli 1985 Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen der Folgen einer als Soldat im zweiten Weltkrieg erlittenen Kopfverletzung. Der Antrag wurde abgelehnt (Bescheid vom 13. November 1986; Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 1987), die Klage abgewiesen (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Münster vom 28. November 1989). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen, soweit sie diese Versorgung betrifft (Urteil vom 25. Oktober 1990). Es ist zwar von der glaubhaften Angabe des Klägers ausgegangen, daß er am 29. April 1945 in der Nähe von Potsdam durch einen sowjetischen Granatsplitter am Kopf verletzt wurde, hat aber Folgen dieser Schädigung die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um wenigstens 25 vH bedingten, nicht festgestellt. Das ergebe sich aus den versorgungsärztlichen Gutachten, in denen Befunde aus Polen verwertet wurden. Auch aus einem polnischen Rentenversicherungsgutachten vom 22. Mai 1985 sei nichts über fortdauernde Auswirkungen einer Schädelverletzung zu erkennen. Vielmehr erklärten die dort beschriebenen schädigungsunabhängigen Befunde (Hirngefäßsklerose und Kreislaufinsuffizienz) die vom Kläger geklagten Kopfschmerzen und Schwindelerscheinungen.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und sich auf Verfahrensfehler berufen. Das LSG habe seinem schriftlich gestellten Antrag ein Gutachten nach Untersuchung durch einen Sachverständigen im Bundesgebiet einzuholen, ohne hinreichende Begründung nicht stattgegeben. Zu Unrecht habe es den Sachverhalt durch Befundbeschreibungen aus Polen, deren gutachtliche Auswertung durch Versorgungsärzte und durch das polnische Rentenversicherungsgutachten vom 22. Mai 1985 als geklärt angesehen. Die schwierige Frage, ob Schwindelerscheinungen und Kopfschmerzen Verletzungsfolgen sind oder von der erst 1985 im Rentenversicherungsverfahren festgestellten Sklerose und Kreislaufinsuffizienz herrühren, habe nur von einem Psychiater und Neurologen nach Untersuchung des Klägers beantwortet werden können.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. Oktober 1990 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte hat dazu keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Das Urteil des LSG beruht auf dem gerügten Verfahrensfehler (Verletzung der §§ 103, 128 Abs 1 SGG). Das LSG hätte den Antrag auf eine ärztliche Untersuchung und Begutachtung durch einen Sachverständigen nicht ablehnen dürfen. Es durfte nicht zu Lasten des Klägers davon ausgehen, daß der Sachverhalt genügend aufgeklärt und weitere Ermittlungen nicht geeignet seien, die Auffassung des Klägers zu bestätigen.

Zu beantworten war hier die Frage, ob Schwindelerscheinungen und Kopfschmerzen des Klägers Folgen der 1945 erlittenen Granatsplitterverletzung am Kopf sind oder auf der erst 1985 im Rentenversicherungsverfahren festgestellten Sklerose und Kreislaufinsuffizienz beruhen.

Dazu hätte das LSG aufklären müssen, ob der Kläger am Kopf nur eine Weichteilnarbe hat oder ob darüber hinaus ein knöcherner Defekt vorliegt. Von Art und Umfang der äußeren Verletzungsfolgen kann auf den Grad der Gewalteinwirkung geschlossen werden, und davon kann abhängen, ob auch die weiteren Leiden des Klägers (Kopfschmerzen und Schwindelerscheinungen) als wahrscheinliche Folgen der Verletzung anzusehen sind. Ausreichende Ermittlungen zu Art und Umfang der Verletzungen hat das LSG nicht getroffen. Der polnische Chirurg hat in seinem Bericht vom 25. Februar 1986 nach körperlicher Untersuchung des Klägers eine Narbe und einen kleinen, flachen Knochenverlust im Bereich des linken Warzenfortsatzes geschildert. Demgegenüber läßt sich nach dem Gutachten des Röntgenologen Dr. O. vom ärztlichen Dienst beim Versorgungsamt die klinisch bestehende Knochenimpression im Bereich des linken Warzenfortsatzes auf der in Polen gefertigten Übersichtsaufnahme nicht sicher nachweisen. Das LSG hätte klären müssen, ob durch moderne Untersuchungsmethoden, etwa Computertomographie oder Kernspintomographie, festgestellt werden kann, wie erheblich die Kopfverletzung ist, insbesondere ob eine Hirnverletzung vorliegt, die für die heutigen Leiden des Klägers ursächlich sein könnte.

Das LSG durfte die Frage nach der Ursache von Schwindelerscheinungen und Kopfschmerzen auch nicht mit dem Chirurgen Dr. H. in dessen versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 1. Juli 1987 dahin beantworten, daß die allgemeine Sklerose im Bereich der Hirngefäße und in den unteren Extremitäten sowie eine Kreislaufinsuffizienz, insbesondere auch im Bereich der Hirngefäße, wie sie im polnischen Rentengutachten vom 22. Mai 1985 beschrieben sind, die Beschwerden des Klägers hinreichend erklären. Die Abgrenzung der erst 1985 im Rentenversicherungsverfahren festgestellten Sklerose und Kreislaufinsuffizienz, die Schwindelerscheinungen und Kopfschmerzen erklären sollen, von umstrittenen Hirnverletzungsfolgen, die gleiche Beschwerden verursachen können, ist selbst für Psychiater und Neurologen sehr schwierig und ohne eine persönliche Untersuchung im allgemeinen nicht hinreichend zu klären. Dabei wird auch geklärt werden können, ob eine weitere radiologische Untersuchung angezeigt ist. Eine Untersuchung durch einen Psychiater oder Neurologen hat bisher nicht stattgefunden, obwohl schon der polnische Chirurg in seinem Gutachten vom 25. Februar 1986 die zusätzliche Beurteilung durch einen Neurologen für angezeigt gehalten hat. Sie wird jetzt nachzuholen sein, weil nicht auszuschließen ist, daß eine zureichende Begutachtung aufgrund fachärztlicher Untersuchungen durch einen Sachverständigen in Deutschland Schädigungsfolgen in einem Ausmaß ergibt, welches eine MdE von mindestens 25 vH bedingt. Es bleibt dem LSG überlassen, ob es mit dieser Untersuchung und Begutachtung einen deutschen Arzt - etwa im grenznahen Gebiet zu Polen - beauftragt, oder ob es einen geeigneten polnischen Sachverständigen heranzieht.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174714

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