Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 07.04.1993)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 7. April 1993 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger wegen einer Asbestose als Berufskrankheit (BK) Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 10 vH gemäß § 581 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren.

Der im Jahre 1932 geborene Kläger war in den Jahren 1947 bis 1954 mit Unterbrechungen als Ofenmaurer und Isolierer tätig. Er bezieht wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls aus dem Jahre 1959 Verletztenrente nach einer MdE um 25 vH. Aufgrund der ärztlichen Anzeige über eine BK vom 12. Oktober 1984, wonach er während seiner Tätigkeit als Ofenmaurer und Isolierer der Einwirkung asbest- und quarzhaltiger Stäube ausgesetzt gewesen sei, holte die Beklagte Gutachten von Prof. Dr. W. … vom 22. Januar 1986 und von Prof. Dr. R. … vom 14. Juli 1986 ein. Sie lehnte mit Bescheid vom 13. November 1986 Entschädigungsansprüche wegen der geltend gemachten BKen nach Nrn 4101 und 4103 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) ab, da nach den festgestellten Befunden den vorliegenden Lungenveränderungen kein Krankheitswert zukomme.

Das Sozialgericht Gießen (SG) hat von Prof. Dr. W. … ein Sachverständigengutachten vom 23. November 1988 mit ergänzenden Stellungnahmen eingeholt. Darin heißt es, beim Kläger bestehe eine berufsbedingte Mischstaubpneumokoniose und eine Pleuraasbestose als BK iS der Nr 4103 der Anlage 1 zur BKVO mit einer MdE um 10 vH. Die Beklagte hat daraufhin eine Stellungnahme von Prof. Dr. R. … vom 15. Februar 1989 eingereicht, der dargelegt hat, eine MdE um 10 vH sei durch die Befunde nicht belegt. Außerdem sei zu bedenken, daß angesichts der täglichen physiologischen Schwankungen des kardio-pulmonalen Systems von +/- 20 vH bei der Asbestose – wie bei der Silikose – eine MdE von 10 oder 15 vH nicht objektiviert werden könne. Gestützt auf die MdE-Einschätzung durch Prof. Dr. R. … hat das SG die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. September 1989).

Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten von Prof. Dr. K. … vom 12. Dezember 1991 eingeholt, der zu dem Ergebnis gekommen ist, beim Kläger bestehe eine Lungenasbestose als BK nach Nr 4103 der Anlage 1 zur BKVO mit einer MdE von 0 vH. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 7. April 1993). Die Voraussetzungen für die Gewährung einer sog Stützrente seien schon deshalb nicht erfüllt, weil beim Kläger keine bedeutsamen Funktionseinbußen des kardio-pulmonalen Systems nachweisbar seien, die eine MdE von 10 vH rechtfertigen könnten. Den von Prof. Dr. W. … zur Begründung einer MdE von 10 vH herangezogenen Bewertungskriterien sei nicht zu folgen.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision vertritt der Kläger die Ansicht, daß für die Bemessung der MdE infolge einer Asbestose als BK allgemein auf das Ausmaß der objektiv nachweisbaren pulmo-kardialen Einbuße abzustellen sei. Unter Berücksichtigung aktueller leistungsphysiologischer, chronobiologischer und arbeitsphysiologischer Erkenntnisse und der Fortschritte der differenzierten Lungendiagnostik sei „diese Annahme nicht mehr haltbar” und die Breite der tagesrhythmischen und physiologischen Schwankungen lägen nicht bei +/- 20 vH, sondern bei +/- 5 vH. Diese Frage könne nicht offenbleiben. Prof. Dr. W. … begründe nachvollziehbar eine MdE von 10 vH, die auch festzusetzen sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. April 1993 (gemeint ist offensichtlich vom 7. April 1993) aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 14. November 1986 (gemeint ist offensichtlich vom 13. November 1986) aufzuheben, ihm ab 1. Oktober 1984 eine Rente zu gewähren und die zu gewährenden Rentenleistungen ab 1. Oktober 1984 mit 4 vH zu verzinsen.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist unbegründet.

Das LSG hat auf der Grundlage seiner Tatsachenfeststellungen zutreffend entschieden, daß der Kläger wegen der bei ihm festgestellten Lungenasbestose keinen Anspruch auf Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH hat.

Nach § 581 Abs 1 Nr 2 RVO wird eine Verletztenrente grundsätzlich nur dann gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel, also um 20 vH gemindert ist. Abweichend von diesem Grundsatz ist nach § 581 Abs 3 RVO in den Fällen, in denen die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge mehrerer Arbeitsunfälle gemindert ist und die Vomhundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten MdE zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen, für jeden, auch einen früheren Arbeitsunfall, Verletztenrente zu gewähren, wenn die Erwerbsfähigkeit dadurch um mindestens 10 vH gemindert wird. Dies gilt auch für BKen (§ 551 Abs 1 RVO).

Nach den Feststellungen des LSG liegt beim Kläger eine asbestbedingte Lungenfibrose mit Pleuraplaques vor. Ebenso sind danach die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Anerkennung einer Asbestose als Folge beruflicher Asbeststaubbelastung gegeben. Hiergegen erheben die Beteiligten keine Einwendungen. Gleichwohl steht dem Kläger die beanspruchte Verletztenrente nach § 581 Abs 3 Sätze 1 und 2 iVm § 551 Abs 1 RVO nicht zu, weil nach den weiteren Feststellungen des LSG bei ihm eine durch die Asbestose bedingte MdE von 10 vH nicht vorliegt.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß für die Bemessung der MdE infolge einer Asbestose als BK – wie bei broncho-pulmonalen Erkrankungen allgemein – auf das Ausmaß der objektiv nachweisbaren pulmo-kardialen Einbuße abzustellen ist.

Das LSG hat festgestellt, daß beim Kläger keine bedeutsamen Funktionseinbußen des kardio-pulmonalen Systems gegeben sind. Hierzu hat es sich insbesondere auf die Gutachten von Prof. Dr. R. … und Prof. Dr. K. … gestützt und näher dargelegt, daß sich letztlich die von Prof. Dr. W. … in seinem Gutachten erhobenen Befunde nicht von denen des Prof. Dr. K. … unterschieden. An diese im Rahmen des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG getroffenen Feststellungen ist der Senat nach § 163 SGG gebunden, weil der Kläger sie nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen iS des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG angegriffen hat.

Ohne Feststellung asbestosebedingter wesentlicher, mehr als ganz geringfügiger Einschränkungen der kardio-pulmonalen Funktion beim Kläger konnte das LSG in Übereinstimmung mit den Gutachtern Prof. Dr. R. … und Prof. Dr. K. … eine durch die Asbestose bedingte MdE von mindestens 10 vH nicht begründen. Hiergegen erhebt der Kläger keine zulässigen und begründeten Rügen. Er macht dazu lediglich geltend, Prof. Dr. W. … begründe für ihn nachvollziehbar eine MdE von 10 vH; diese sei auch festzusetzen. Soweit Prof. Dr. W. … sein Schätzungsergebnis einer MdE von 10 vH neben der geringfügigen durch die Asbestose bedingten Funktionseinbuße auf ein beim Kläger zu berücksichtigendes Krebsrisiko abstellt, läßt er – wie das LSG zutreffend ausgeführt hat – in seine MdE-Bewertung eine ungewisse, für die Zukunft nicht auszuschließende Schädigung des Klägers einfließen. Dies verstößt gegen den Grundsatz, daß es in der Regel auf die Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens im Zeitpunkt der Feststellung der MdE ankommt; erst künftig möglicherweise eintretende Schäden haben deshalb grundsätzlich unberücksichtigt zu bleiben (BSG SozR 2200 § 581 Nr 6; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 568h). Auch der Hinweis von Prof. Dr. W. …, daß dem Kläger angesichts der bestehenden Asbestose der staubbelastete Teilbereich des Arbeitsmarktes verschlossen sei, rechtfertigt nicht die von ihm getroffene MdE-Einschätzung. Dieses Verbot, staubgefährdende Arbeiten zu verrichten, bedeutet nicht, daß die körperlichen oder geistigen Kräfte des Klägers durch die Asbestose eingeschränkt sind. Das Verbot zur Verrichtung staubgefährdender Arbeiten dient in solchen Fällen der Vorbeugung gegen eine drohende, also noch nicht bestehende BK. Es bleibt als solches unbeachtlich und kann nicht herangezogen werden, um eine noch nicht bestehende MdE erst zu begründen (BSG SozR 2200 § 551 Nr 34).

Ausgehend von der damit bindenden Feststellung des LSG, daß die beim Kläger vorliegenden durch die Asbestose bedingten Lungenveränderungen mit einer MdE von unter 10 vH zu bewerten sind, kann die auch vom LSG ausdrücklich offengelassene – medizinisch umstrittene (s Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 4. Aufl, S 827 mwN) – Frage unentschieden bleiben, ob eine asbestosebedingte Funktionseinbuße im Ausmaß einer MdE von unter 20 vH nach dem gegenwärtigen Stand medizinischer Untersuchungsmethoden und angesichts der täglichen physiologischen Schwankungen im Funktionsverhalten des kardio-pulmonalen Systems tatsächlich überhaupt feststellbar ist. Entgegen der Auffassung der Revision ist diese Frage nicht entscheidungserheblich.

Der Senat kann auch die Frage offenlassen, ob das Vorliegen bloßer Lungenveränderungen ohne eine dadurch bedingte funktionelle Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf als anzuerkennende BK ohne meßbare MdE zu behandeln ist (s dazu BSG SozR 2200 § 551 Nr 34 zur Silikose; BSG SozR 2200 § 551 Nr 35 zur Lärmschwerhörigkeit; s ferner Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften in HVBG RdSchr VB 38/92).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173492

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