Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorpraktikum als Berufsausbildung iS des BKGG

 

Orientierungssatz

1. Ein Vorpraktikum, das nach einer für den angestrebten Beruf maßgeblichen Ausbildungsordnung nicht zwingend vorgeschrieben ist, ist jedenfalls dann keine Berufsausbildung, wenn es über die maßgebliche Ausbildungsordnung hinaus nur von der ausbildenden Einrichtung im Einzelfall oder nur von einzelnen Ausbildungseinrichtungen gefordert oder gar nur empfohlen wird.

2. Ein Vorpraktikum, das zwar nicht gesetzlich vorgeschrieben, aber von allen in Betracht kommenden Lehranstalten praktisch als Voraussetzung für die Aufnahme der Ausbildung verlangt wird, ist unter bestimmten Voraussetzungen der gesetzlich vorgeschriebenen praktischen Tätigkeit mit Ausbildungscharakter der Berufsausbildung iS des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BKGG zuzuordnen. Ein unter derartigen Umständen abzuleistendes Vorpraktikum ist dann für die spätere Ausübung des angestrebten Berufes in gleicher Weise erforderlich, wie wenn es in der Ausbildungsordnung selbst vorgeschrieben wäre.

3. Eine Berufsausbildung iS des BKGG ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn faktisch der Zugang zur Ausbildung zu einem bestimmten Beruf nicht ohne eine entsprechende Vorausbildung erreicht werden kann.

4. Ob ein Ausnahmefall der der Berufsausbildung zuzuordnenden faktisch unvermeidlichen Vorausbildung vorliegt, richtet sich - jedenfalls bei bundeseinheitlich geregelter Ausbildung - grundsätzlich nach den Verhältnissen im Geltungsbereich des BKGG, also danach, ob alle Ausbildungsstätten die Ausbildung von der Ableistung eines entsprechenden Vorpraktikums abhängig machen.

5. Gesunden volljährigen Ausbildungsbewerbern ist im Bereich des Bundesgebietes ein Umzug an den Ort der Ausbildung in gleicher Weise zuzumuten, wie etwa den Studienanfängern zur Aufnahme des Studiums an einer auswärtigen Universität.

 

Normenkette

BKGG § 2 Abs 2 S 1 Nr 1

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 03.04.1984; Aktenzeichen L 14 Kg 14/83)

SG Berlin (Entscheidung vom 04.11.1983; Aktenzeichen S 59 Kg 18/83)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger auch für die Zeit von August 1982 bis März 1983 Kindergeld unter Berücksichtigung seiner am 31. Juli 1964 geborenen Tochter Sabine K. zu zahlen hat.

Sabine K. hatte im Juli 1982 den Realschulabschluß erlangt. Sie hatte sich bereits im August 1981 bei der staatlich anerkannten Krankengymnastik- und Massageschule des Prof. Dr. V. in B. um einen Ausbildungsplatz zur Krankengymnastin beworben. Die Schule hatte ihr den Ausbildungsplatz zum 1. April 1983 zugesagt, die Aufnahme der Ausbildung jedoch von der Ableistung eines vierteljährigen Krankenpflegepraktikums abhängig gemacht. Sabine K. leistete in der Zeit vom 1. Oktober 1982 bis 1. April 1983 ein ganztägiges und unentgeltliches Praktikum an der Sch.-Klinik in B. ab.

Die Beklagte hob mit dem Bescheid vom 29. September 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 1983 die Gewährung des Kindergeldes mit Wirkung vom 1. August 1982 auf, weil das von Sabine K. abgeleistete Pflegepraktikum an der Sch.-Klinik keine Berufsausbildung iS des § 2 Abs 2 Nr 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) sei.

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Die Ausbildungslage habe dazu geführt, daß der Besuch einer Krankengymnastikschule in B. "praktisch" nur nach Ableistung eines Pflegevorpraktikums möglich sei, weil ein derartiges Praktikum in B. generell gefordert werde.

Die Beklagte macht zur Begründung ihrer - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision geltend, die Auslegung des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG durch das Berufungsgericht sei fehlerhaft, weil nur solche Vorpraktika Teil der Berufsausbildung seien, die von der maßgeblichen Ausbildungs- und Prüfungsordnung zwingend vorgeschrieben sind. Der Umstand, daß infolge der derzeitigen Ausbildungssituation ein Vorpraktikum praktisch zur Bedingung werde, sei nicht rechtserheblich.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 3. April 1984 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. November 1983 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des Urteils des LSG und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht, weil noch nicht abschließend beurteilt werden kann, ob Sabine K. sich während der Ableistung des Pflegepraktikums in einer Berufsausbildung iS des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG befunden hat.

Wie der erkennende Senat in Fortführung seiner Rechtsprechung zur Zuordnung der Vorpraktika zur Berufsausbildung (vgl die Urteile vom 12. Dezember 1984 - 10 RKg 1/84, 10 RKg 12/84 und 10 RKg 15/84 -) in dem Urteil vom 29. Januar 1985 - 10 RKg 16/84 - (zur Veröffentlichung bestimmt) speziell für die Ableistung eines Vorpraktikums vor der Aufnahme einer Ausbildung zur Krankengymnastin ausgeführt hat, hängt die Gewährung des sogenannten Ausbildungskindergeldes zunächst davon ab, ob das Vorpraktikum Ausbildungscharakter in dem Sinne hat, daß ein gewisses Maß an berufsbezogenen Kenntnissen vermittelt wird. Ein solches Vorpraktikum ist nur dann Berufsausbildung, wenn die in diesem Praktikum zu erwerbenden Kenntnisse und Fertigkeiten notwendige fachliche Voraussetzungen für den angestrebten Beruf sind, wenn sie also als Teil der Ausbildung im weiteren Sinne angesehen werden müssen. Nicht schon um Ausbildung handelt es sich hingegen, wenn das Vorpraktikum dazu dient, bestimmte Eignungskriterien oder nur das Vorhandensein einer gewissen Erfahrung, eines Einblickes in das Berufsleben oder allgemein einer gewissen Reife zu ermitteln, oder wenn die geforderte praktische Tätigkeit nur die Neigung und Eignung für den angestrebten Beruf erproben und den Bewerber mit den Anforderungen und Problemen des angestrebten Berufes vertraut machen soll. Ob das von Sabine K. abgeleistete Pflegepraktikum nur eine Eignungsprüfung in dem zuvor dargelegten Sinne sein sollte oder bereits eine (Vor-)Ausbildung gewesen ist, läßt sich den Feststellungen des LSG nicht entnehmen. Diese wird es nachzuholen haben, wenn auch die weiteren Anspruchsvoraussetzungen zu bejahen sind. Denn auch wenn das von der Tochter des Klägers abgeleistete Vorpflegepraktikum Ausbildungscharakter im vorgenannten Sinne hat, ist es nur dann eine Berufsausbildung iS des BKGG, wenn es notwendige Voraussetzung für die Aufnahme der weiteren Ausbildung zu dem angestrebten Beruf ist.

Dazu hat der erkennende Senat bereits wiederholt entschieden, daß dann, wenn die Berufsausbildung in einer Ausbildungsordnung geregelt ist, nur solche Tätigkeiten die Voraussetzungen des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG erfüllen, die in der Ausbildungsordnung vorgeschrieben sind (Urteile vom 12. Dezember 1984 aaO). Andere Tätigkeiten oder Beschäftigungen fallen dagegen auch dann nicht unter diesen Tatbestand, wenn sie für den angestrebten Beruf nützlich, förderlich oder gar erwünscht sind (BSG SozR 5870 § 2 Nr 29). Dementsprechend ist ein Vorpraktikum, das nach einer für den angestrebten Beruf maßgeblichen Ausbildungsordnung nicht zwingend vorgeschrieben ist, jedenfalls dann keine Berufsausbildung, wenn es über die maßgebliche Ausbildungsordnung hinaus nur von der ausbildenden Einrichtung im Einzelfall oder nur von einzelnen Ausbildungseinrichtungen gefordert oder gar nur empfohlen wird.

Der erkennende Senat hat jedoch in seinem Urteil vom 12. Dezember 1984 - 10 RKg 1/84 - offen gelassen, ob ein Vorpraktikum dann als Berufsausbildung im Sinne des BKGG anzusehen ist, wenn es von den Ausbildungsstätten über die gesetzliche Ausbildungsregelung hinaus allgemein gefordert wird. Das ist nach den Feststellungen des LSG im Lande Berlin der Fall und beruht möglicherweise darauf, daß das Vorpraktikum für angehende Krankengymnasten ohnedies gesetzlich eingeführt werden sollte. Denn ursprünglich war bereits in § 9 des Entwurfes zum Gesetz über die Ausübung der Berufe des Masseurs, des Masseurs und medizinischen Bademeisters und des Krankengymnasten (MassG) und dann später - nachdem Zweifel an der Kompetenz des Bundesgesetzgebers zur Regelung dieser Frage im MassG geäußert worden waren (Stellungnahme des Bundesrats und der Bundesregierung in den Anlagen 2 und 3 zur BT-Drucks III/41, S 8, 10) - in § 2 Abs 2 Nr 2b der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Krankengymnasten (APrO) vom 7. Dezember 1960 der Nachweis einer vierteljährigen pflegerischen Tätigkeit in einer Krankenanstalt vor Beginn des Lehrganges gefordert worden. Diese Regelung wurde jedoch durch die Verordnung zur Änderung der APrO für Krankengymnastik vom 25. Juni 1971 (BGBl I 847) offenbar im Hinblick darauf gestrichen, daß das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 27. November 1969 (Buchholz 418.1. Nr 1) das Fehlen einer Ermächtigung des Verordnungsgebers zur Regelung dieser Frage im MassG beanstandet hatte. Dies läßt aber vermuten, daß auf eine bundeseinheitliche Regelung des Pflegepraktikums für Krankengymnasten möglicherweise nur wegen der streitigen Kompetenzfrage verzichtet worden ist, daß die betreffenden Ausbildungsstätten das Vorpraktikum aber gleichwohl als erforderlichen Teil der Ausbildung ansehen. Diese Praxis ändert aber nichts daran, daß auch ein aus diesen Gründen allgemein gefordertes Vorpraktikum nicht Teil der gesetzlich geregelten Ausbildung ist.

Es kann dahingestellt bleiben, ob es den Krankengymnastikschulen im Hinblick darauf, daß § 8 MassG nur eine Lehrgangsdauer von "mindestens" zwei Jahren vorschreibt, freisteht, ein Vorpraktikum zu fordern.

Auch bei fehlender Berechtigung ist es erforderlich, ein "Vorpraktikum", das zwar nicht gesetzlich vorgeschrieben, aber von allen in Betracht kommenden Lehranstalten praktisch als Voraussetzung für die Aufnahme der Ausbildung verlangt wird, unter bestimmten Voraussetzungen der gesetzlich vorgeschriebenen praktischen Tätigkeit mit Ausbildungscharakter der Berufsausbildung iS des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BKGG zuzuordnen. Ein unter derartigen Umständen abzuleistendes "Vorpraktikum" ist dann für die spätere Ausübung des angestrebten Berufes in gleicher Weise erforderlich, wie wenn es in der Ausbildungsordnung selbst vorgeschrieben wäre. Auch eine an Art 12 Abs 1 des Grundgesetzes orientierte Auslegung gebietet es, eine Berufsausbildung im Sinne des BKGG jedenfalls dann anzunehmen, wenn faktisch der Zugang zur Ausbildung zu einem bestimmten Beruf nicht ohne eine entsprechende Vorausbildung erreicht werden kann. Diese Situation wird auch nicht von der am 1. Januar 1982 in Kraft getretenen Vorschrift des § 2 Abs 2 Satz 4 BKGG aufgefangen. Denn diese Norm regelt nur die Übergangszeiten zwischen zwei Ausbildungsabschnitten, die selbst nicht den Charakter einer Berufsausbildung im vorgenannten Sinne haben.

Ob ein solcher Ausnahmefall der der Berufsausbildung zuzuordnenden faktisch unvermeidlichen Vorausbildung vorliegt, richtet sich - jedenfalls bei bundeseinheitlich geregelter Ausbildung - grundsätzlich nach den Verhältnissen im Geltungsbereich des BKGG, also danach, ob alle Ausbildungsstätten die Ausbildung von der Ableistung eines entsprechenden Vorpraktikums abhängig machen. Eine Einschränkung kann insoweit nur gelten, wenn der einzelne Bewerber aus besonderen Gründen nicht alle im Geltungsbereich des BKGG tätigen Ausbildungsstätten zumutbar erreichen kann, etwa wenn er wegen einer Behinderung darauf angewiesen ist, eine Ausbildungsstätte in einem näheren Bereich zu besuchen. Für gesunde volljährige Ausbildungsbewerber ist eine solche Ausnahme jedoch im allgemeinen nicht gerechtfertigt. Ihnen kann im Bereich des Bundesgebietes ein Umzug an den Ort der Ausbildung in gleicher Weise zugemutet werden, wie etwa den Studienanfängern zur Aufnahme des Studiums an einer auswärtigen Universität.

Ob im Falle der Tochter des Klägers die Ableistung eines Krankenpflegepraktikums als Vorpraktikum zur Ausbildung als Gymnastin praktisch unumgänglich war, hat das LSG nicht hinreichend festgestellt. Es hat nur auf die Ausbildungsverhältnisse im Lande Berlin abgehoben und für diesen Bereich festgestellt, daß die Ableistung eines Krankenpflegepraktikums "praktisch zum Zwang geworden" sei. Diese Feststellung reicht für die Bejahung einer Ausnahmesituation für den Fall der Tochter des Klägers nicht aus, weil sie in der streitigen Zeit bereits volljährig war und ihr deshalb - bei Fehlen sonstiger Gründe - zugemutet werden konnte, sich um die Ausbildung nicht nur in B., sondern im gesamten Geltungsbereich des BKGG zu bemühen. Erst wenn feststeht, daß das Kind von keiner Ausbildungsstätte auch im übrigen Bundesgebiet ohne Ableistung eines Krankenpflegevorpraktikums zur Ausbildung als Krankengymnastin zugelassen worden wäre, kann auch das von der von ihr gewählten Schule geforderte Praktikum als Ausbildung im Sinne des BKGG angesehen werden. Aber auch dann ist nur die geforderte und nicht die tatsächlich abgeleistete Zeit des Vorpraktikums Ausbildung iS des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BKGG. Wartezeiten sowie Zeiten, in denen das Krankenpflegepraktikum über die geforderte Mindestzeit hinaus abgeleistet worden ist, können nur berücksichtigt werden, soweit die Voraussetzungen des § 2 Abs 2 Satz 3 BKGG erfüllt sind.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660877

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