Leitsatz (redaktionell)

"Berufsausbildung" als Voraussetzung für den Anspruch auf die verlängerte Waisenrente ist nicht anzunehmen, wenn sich die Ausbildung im Rahmen einer Erwerbstätigkeit vollzieht, die den vollen Unterhalt der Waise sichert.

 

Normenkette

RKG § 67 S. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1267 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19. August 1965 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind unter den Beteiligten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der am 4. Januar 1940 geborene Kläger ist der Sohn des im 2. Weltkrieg gefallenen Versicherten F K. Er war zunächst von März 1954 bis März 1957 Vermessungstechniker-Lehrling bei der Stadt W; anschließend leistete er dort einen zweijährigen Ausbildungsdienst für die Laufbahn des vermessungstechnischen Behördenangestellten, den er mit der Prüfung als behördlich geprüfter Vermessungstechniker abschloß. Von April 1960 bis Juli 1962 besuchte er mit Erfolg die Staatliche Ingenieurschule in E; während dieser Zeit erhielt er von der Beklagten die verlängerte Waisenrente nach seinem verstorbenen Vater.

Von Oktober 1962 an wurde der Kläger für den gehobenen vermessungstechnischen Dienst bei der Stadt W (W.) ausgebildet und hat im März 1965 die Prüfung zum Vermessungsinspektor abgelegt. Während dieser Zeit erhielt er Bezüge nach Gruppe V a des Bundes-Angestellten-Tarifvertrages (BAT).

Mit Bescheid vom 9. November 1962 lehnte die Beklagte die vom Kläger beantragte Weiterzahlung der Waisenrente mit der Begründung ab, der Kläger befinde sich seit dem 1. Oktober 1962 als technischer Angestellter im Dienste der Stadt W. und erhalte eine Vergütung, die ein Entgelt für einen bereits ausgeübten Beruf darstelle. Der Widerspruch des Klägers, mit dem er geltend machte, die Vergütung sei kein Entgelt, sondern eine Unterhaltsbeihilfe während seiner Ausbildung zum Inspektor, wurde zurückgewiesen. In dem Widerspruchsbescheid wird ausgeführt, das Gehalt des Klägers in Höhe von 697,- DM liege nur um 63,95 DM unter dem eines Stadtinspektors gleichen Alters und Familienstandes. Es könne daher nicht nur als Unterhaltszuschuß angesehen werden, selbst wenn der Kläger als Ingenieur sonst bessere Verdienstmöglichkeiten habe.

Das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen hat - dem Antrag des Klägers entsprechend - die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide verurteilt, für die Zeit vom 1. Oktober 1962 bis zum 31. Januar 1965 Waisenrente zu gewähren. Es ist der Auffassung, dem unverheirateten Kläger stehe für diese Zeit die Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus zu, weil er sich von Oktober 1962 an bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres noch in Berufsausbildung i.S. von § 67 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) befunden habe. Berufsausbildung sei die Ausbildung für einen zukünftig gegen Entgelt auszuübenden Lebensberuf; der Vorbereitungsdienst der Anwärter für den gehobenen vermessungstechnischen Dienst in der Fachrichtung Kataster- und Gemeindevermessung sei eine solche Ausbildung. Der Anwärter durchlaufe während dieser Zeit die verschiedenen Abteilungen der Ausbildungsbehörden. So sei es auch beim Kläger gewesen. Zwar habe er während seines Vorbereitungsdienstes praktische Arbeiten entsprechend seiner bisherigen Ausbildung verrichtet, doch habe es sich dabei nicht um selbstverantwortliche und den Bezügen nach der Gruppe V a BAT entsprechende Tätigkeiten gehandelt; der Ausbildungscharakter des Vorbereitungsdienstes werde dadurch nicht ausgeräumt.

Wenn aber, wie hier, ein Berufsausbildungsverhältnis vorliege, komme es für die Annahme einer Berufsausbildung i.S. von § 67 RKG nicht auf die Einkünfte der Waise an. Insoweit sei der Wortlaut der Vorschrift eindeutig; eine einengende Auslegung sei nicht möglich. Die Höhe der Bezüge könne allenfalls als Indiz in den Fällen von Bedeutung sein, in denen es zweifelhaft sei, ob überhaupt ein Ausbildungsverhältnis vorliege. Das sei hier aber auf Grund der Auskunft der Stadt W. vom 16. April 1964 und des Ausbildungsplans vom 26. November 1962 nicht zweifelhaft. Die Stadt habe zudem darauf hingewiesen, daß sie nur deshalb die Vergütung nach Gruppe V a BAT leiste, weil bei Zahlung des - geringeren - Unterhaltszuschusses kaum mit Bewerbungen für den gehobenen vermessungstechnischen Dienst zu rechnen sei.

Das SG hat die Berufung zugelassen. Die Beklagte hat mit schriftlich erklärter Einwilligung des Klägers gegen das Urteil die Sprungrevision eingelegt. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 67 Satz 2 RKG. Die Waisenrente solle den durch den Tod des Versicherten bedingten Wegfall des Unterhalts ersetzen. Bei der Prüfung, ob eine Berufsausbildung vorliegt, komme es daher nicht nur auf die Art der Tätigkeit der Waise, sondern auch auf die Höhe des Einkommens an. Das damalige Einkommen des Klägers von 697,- DM habe es ihm aber ermöglicht, sich selbst zu unterhalten; da er nicht unterhaltsbedürftig gewesen sei, habe er keines Unterhaltsersatzes bedurft. Bei einer Vergütung in der genannten Höhe sei auch nicht anzunehmen, daß der Kläger sich damals in einer Berufsausbildung befunden habe. Schließlich könne auch mit Rücksicht auf die bereits voraufgegangene gediegene Berufsausbildung des Klägers seine Tätigkeit ab 1. Oktober 1962 nicht als echtes Ausbildungsverhältnis anerkannt werden. Ein solches liege nicht vor, wenn Personen, die bereits einen erlernten Beruf ausübten, sich dabei nur qualifizieren wollten; es handele sich dann nicht um eine Berufsausbildung, sondern um eine Weiterbildung im Beruf.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig. Ergänzend trägt er vor, der Begriff der Berufsausbildung könne nicht auf seine Grundausbildung zum Vermessungstechniker beschränkt bleiben, umfasse vielmehr auch seine von Anfang an vorgesehene weiterführende Ausbildung für den gehobenen vermessungstechnischen Dienst.

II

Da die in § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) aufgestellten Voraussetzungen für die Einlegung der Sprungrevision gegeben sind, ist die ordnungsgemäß eingelegte Revision zulässig. Sie ist auch begründet; der Kläger hat keinen Anspruch auf Waisenrente für die Zeit, für die sie ihm das SG zugesprochen hat.

Gemäß § 67 Satz 2 RKG (entsprechend: § 1267 Satz 2 Reichsversicherungsordnung - RVO - und § 44 Satz 2 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -) wird die Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus für ein unverheiratetes Kind u.a. dann gewährt, wenn es sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Da einerseits die Voraussetzungen für die Gewährung der sogenannten verlängerten Waisenrente hier im übrigen ohne Zweifel vorliegen und andererseits keine der anderen Alternativen in Betracht kommt, hängt die Entscheidung des Rechtsstreits davon ab, ob sich der Kläger in der genannten Zeit in einer "Berufsausbildung" im Sinne der o.a. Vorschriften befunden hat. Das ist nach Ansicht des Senats nicht der Fall.

Zwar werden keine Bedenken gegen die Annahme einer Berufsausbildung daraus herzuleiten sein, daß der Kläger schon eine Ausbildung zum behördlich geprüften Vermessungstechniker erfolgreich abgeschlossen hatte. So hat der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits entschieden, daß Waisenrente aus der Rentenversicherung grundsätzlich auch dann zu gewähren ist, wenn die Waise nach abgeschlossener Berufsausbildung für einen weiteren Beruf ausgebildet wird (BSG 23, 166 = SozR Nr. 17 zu § 1267 RVO); der 4. Senat hat in einer anderen Entscheidung zu dieser Frage ausgeführt, daß die Waisenrente demjenigen nicht versagt werden kann, der vor seinem 25. Lebensjahr ernstlich und ohne Fehleinschätzung seiner Kräfte und Fähigkeiten eine zweite, höherwertige Ausbildung anstrebt (BSG 23, 227 = SozR Nr. 19 zu § 1267 RVO). Das muß insbesondere dann gelten, wenn es sich, wie hier, um eine auf der bisherigen Ausbildung aufbauende weitere Ausbildung für eine höhere Stufe innerhalb des gleichen Faches handelt. Demgemäß hat die Beklagte dem Kläger auch die Waisenrente für die Zeit des Besuchs der Ingenieurschule gewährt. Auch die Art und Weise der Ausbildung, die der Kläger während des hier streitigen Zeitraums erfahren hat, dürfte nach den Feststellungen des SG einer Einordnung unter den Begriff der Berufsausbildung i.S. von § 67 Satz 2 RKG nicht entgegenstehen. Der 4. Senat des BSG hat bereits in seiner Entscheidung vom 5. März 1959 (BSG 9, 196, 198) dargelegt, daß der Vorbereitungsdienst eines Inspektoranwärters beim Versorgungsamt eine echte Ausbildung darstellt. Das wird auch auf die Ausbildung für den gehobenen vermessungstechnischen Dienst, die der Kläger während der streitigen Zeit durchlaufen hat, zutreffen. Indessen war über die vorerwähnten Fragen hier letztlich nicht zu entscheiden, weil eine Berufsausbildung i.S. von § 67 Satz 2 RKG schon aus einem anderen Grunde nicht vorliegt.

Das BSG hat bereits mehrfach entschieden, daß nicht jede Ausbildung, der sich eine Waise nach Vollendung des 18. Lebensjahres unterzieht, als Schul- oder Berufsausbildung i.S. von § 1267 Satz 2 RVO anzusehen ist. Der allgemeine sozialpolitische Sinn und Zweck der Waisenrente als Unterhaltsersatz sowie der Vergleich mit den anderen Alternativen in § 1267 Satz 2 RVO (freiwilliges soziales Jahr und Erwerbsunfähigkeit wegen Gebrechen) machen deutlich, daß die Regelungen über einen zeitlich verlängerten Anspruch auf Waisenrente diejenigen Fälle erfassen sollen, in denen ein Kind - anders als im angenommenen Regelfall - auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres noch auf elterliche Unterhaltsleistungen angewiesen wäre, weil es sich nicht selbst unterhalten kann. Eine Schul- oder Berufsausbildung vermag deshalb einen Anspruch auf verlängerte Waisenrente nur zu begründen, wenn das Kind infolge dieser Ausbildung daran gehindert ist, sich selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dementsprechend liegt eine Schul- oder Berufsausbildung im Sinne der o.a. Vorschriften dann nicht vor, wenn die Ausbildung Zeit und Arbeitskraft des Kindes nicht ausschließlich oder überwiegend beansprucht, sondern neben einer Berufstätigkeit durchgeführt werden kann (vgl. BSG 14, 285; 21, 185). Das gleiche muß aber auch dann gelten, wenn die Ausbildung sich im Rahmen einer Berufstätigkeit vollzieht, die den vollen Unterhalt des Kindes sichert, so daß es auf elterliche Unterhaltsleistungen nicht mehr angewiesen wäre. Das ist insbesondere dann anzunehmen, wenn das Kind wegen dieser Berufstätigkeit bereits volle Dienstbezüge erhält. Demgemäß hat der 4. Senat des BSG (SozR Nr. 15 zu § 1267 RVO) entschieden, daß ein Polizeibeamter auf Probe sich während der Teilnahme an einem einjährigen Grundlehrgang an einer Landespolizeischule nicht in Berufsausbildung i.S. von § 1267 RVO befunden hat. Aus den gleichen Gründen hat der 11. Senat (BSG 25, 289) einem Verwaltungssekretär, der bei Weiterzahlung seiner beamtenrechtlichen Dienstbezüge auf den gehobenen Dienst vorbereitet wurde, für die Zeit dieses Vorbereitungsdienstes keine Waisenrente zugebilligt. Schließlich hat der 1. Senat (SozR Nr. 31 zu § 1267 RVO) entschieden, daß sich ein Offiziersanwärter, der als Soldat auf Zeit Dienstbezüge nach dem Bundesbesoldungsgesetz erhält, nicht in Berufsausbildung im Sinne des § 44 Satz 2 AVG befindet.

Für den Kläger kann im vorliegenden Fall nichts anderes gelten. Er hat wegen seiner Tätigkeit nicht etwa nur einen Unterhaltszuschuß oder eine Ausbildungsbeihilfe, sondern die volle Vergütung eines Berufstätigen erhalten, die nicht wesentlich geringer war als das Gehalt in dem angestrebten Beruf, und die seinen Unterhalt in einem Maße, das seiner bis dahin bereits erreichten beruflichen Ausbildung entsprach, sicherstellte. Demgegenüber bezweckt der Unterhaltszuschuß eines Beamtenanwärters nur, seine wirtschaftliche Lage während des Vorbereitungsdienstes zu erleichtern. Daß der Kläger bei einem privaten Arbeitgeber möglicherweise mehr verdient haben würde, ist demgegenüber ohne Bedeutung; die ihm gewährte Vergütung erhält dadurch ebensowenig den Charakter eines bloßen Unterhaltszuschusses wie durch den Umstand, daß er noch nicht die vollen Bezüge nach der Berufsstellung erhielt, für die er erst vorbereitet wurde.

In den vorerwähnten Entscheidungen des BSG handelte es sich allerdings jeweils um ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis als Beamter bzw. Soldat, auf Grund dessen gesetzlich zustehende Bezüge gezahlt wurden und in dessen Rahmen die Ausbildung durchgeführt wurde. Im vorliegenden Fall sind keine Feststellungen darüber getroffen worden, ob der Kläger als Beamtenanwärter angenommen worden ist und nur statt des vorgeschriebenen Unterhaltszuschusses eine Vergütung nach dem BAT erhielt oder ob er als Behördenangestellter eingestellt worden ist und im Rahmen dieses arbeitsrechtlichen Verhältnisses den Vorbereitungsdienst ableistete. Indessen kommt es hierauf auch nicht an. Entscheidend ist unter dem hier maßgeblichen Gesichtspunkt der Unterhaltssicherung vielmehr, daß die tatsächlich geleisteten Bezüge nicht den Charakter eines Unterhaltszuschusses oder einer entsprechenden Beihilfe, sondern den einer normalen Vergütung für einen Berufstätigen von der Art des Klägers hatten. Dabei ist es unerheblich, daß die Stadt W. diese höhere Vergütung nicht oder nicht ausschließlich als Gegenleistung für die während des Vorbereitungsdienstes erbrachte praktisch verwertbare Arbeit gewährte, sondern wegen Nachwuchsmangels jedenfalls auch im Hinblick auf die erwartete spätere Tätigkeit des Klägers im gehobenen technischen Dienst. Das Gesagte gilt jedenfalls für den Dienst bei Behörden oder Körperschaften des öffentlichen Rechts; ob etwa die nur vergönnungsweise während einer Ausbildung gewährten Bezüge bei einem privaten Arbeitgeber anders zu bewerten wären, braucht hier nicht entschieden zu werden. Schließlich kann es auch nicht darauf ankommen, ob sich die Ausbildung - wie in dem o.a. Fall des Verwaltungssekretärs - in einem bereits bestehenden Dienstverhältnis an eine "echte" Tätigkeit anschließt oder ob - wie offenbar im vorliegenden Fall - das Dienstverhältnis im Anschluß an eine Schulausbildung erst zum Zwecke der praktischen Ausbildung neu begründet wird.

Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374983

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