Leitsatz (amtlich)

1. Die Versicherungsfreiheit nach RVO § 1236 richtet sich für Zeiten, die vor dessen Außerkrafttreten in der britischen Zone liegen, auch dann nach dieser Vorschrift, wenn der Versicherungsfall nach diesem Zeitpunkt eingetreten ist.

2. Das Recht, bis zum Eintritt des Versicherungsfalls der Invalidität freiwillige Beiträge zu entrichten (RVO § 1443), wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß infolge des Bezugs einer in RVO § 1236 genannten Rente Versicherungsfreiheit besteht.

3. Die materielle Rechtskraft eines Urteils, durch das eine Witwenrente aus der Invalidenversicherung zuerkannt worden ist, erstreckt sich nicht auf die in den Urteilsgründen festgestellte Invalidität.

4. Hat das Berufungsgericht verkannt, daß sich die die dem zuerkannten Anspruch zugrunde liegenden Feststellungen erstreckt, so hat das Revisionsgericht diesen Revisionsgrund von Amts wegen zu berücksichtigen.

 

Normenkette

RVO § 1236 Fassung: 1945-03-17, § 1443 Fassung: 1937-12-21; SGG § 141 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 559

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 26. Februar 1954 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht ... zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin hatte von 1911 bis 1921 Beiträge zur Angestellten- und Invalidenversicherung entrichtet. Die Wartezeit war erfüllt, die Anwartschaft jedoch erloschen, da sie bis 1941 keine weiteren Beiträge entrichtet hatte. Als ihr erster Ehemann, der ebenfalls invalidenversichert war, am 1. März 1941 gestorben war, beantragte sie am 29. März 1941 bei der Beklagten die Witwenrente aus der Invalidenversicherung. Der Antrag wurde durch rechtsmittelfähigen Bescheid vom 10. Juni 1941 mit der Begründung abgelehnt, daß sie nicht invalide sei. In dem ablehnenden Bescheid wurde ihr auch eröffnet, daß sie verpflichtet sei, Beiträge zu leisten, falls sie selbst eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausübe. Auf ihre Berufung hob das Oberversicherungsamt Schleswig durch Urteil vom 17. September 1941 den Bescheid der ... auf und verurteilte diese, der Klägerin die Witwenrente vom 1. April 1941 an zu zahlen, weil sie wegen ihrer allgemeinen körperlichen Schwäche nur noch in der Lage sei, leichte Arbeiten im Sitzen zu verrichten, es ihr aber wegen der ungünstigen Arbeitsmarktlage kaum möglich sei, solche Arbeiten in der Nähe ihrer Wohnstätte zu finden. Invalidität wurde vom Tage der Antragstellung, dem 29. März 1941, an angenommen. Vom 11. Mai 1941 bis 17. August 1941 und vom 19. September 1944 bis 30. April 1945 wurden für die Klägerin auf Grund versicherungspflichtiger Tätigkeit weitere Beiträge zur Invalidenversicherung entrichtet. Im Jahre 1946 wurde ihr die Witwenrente entzogen, weil sie eine neue Ehe einging. Im Jahre 1949 entrichtete sie weitere 26 Beiträge.

Am 22. Juli 1950 beantragte die Klägerin die Invalidenrente aus ihrer eigenen Versicherung, weil sie invalide sei (§ 1253 Abs. 1 RVO) und außerdem, weil sie als versicherte Ehefrau nach dem Tode ihres ersten Ehemannes das 55. Lebensjahr vollendet und vier lebende Kinder geboren habe (§ 1253 Abs. 2 RVO).

Die Beklagte lehnte durch rechtsmittelfähigen Bescheid vom 27. November 1950 den Antrag ab, weil eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um mehr als die Hälfte nicht vorliege. In dem Bescheidvordruck hatte sie die Worte: "Unter diesen Umständen haben wir von einer Prüfung, ob die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten ist, Abstand genommen" gestrichen, weil sie bei einer Prüfung intern zu einer Bejahung dieser Fragen gekommen war. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Berufung ein mit der Begründung, daß sie entgegen den Feststellungen in dem angefochtenen Bescheid invalide sei und außerdem ihren Antrag auch auf § 1253 Abs. 2 RVO gestützt habe, hierauf aber in dem Bescheid überhaupt nicht eingegangen sei. Daraufhin trat die Beklagte in eine erneute Prüfung der Anwartschaft ein und teilte der Klägerin durch Schreiben vom 10. März 1951 mit, daß die Anwartschaft erloschen sei, da hinsichtlich ihrer ersten Versicherungszeit die letzten wirksamen Beiträge 1921 entrichtet worden seien. Die Beiträge für die Zeit vom 11. Mai 1941 bis 17. August 1941 und vom 19. September 1944 bis 30. April 1945 seien gemäß § 1236 RVO unwirksam, da sie während dieser Zeit - nämlich vom Tode ihres ersten Ehemannes bis zu ihrer Wiederverheiratung - eine Witwenrente bezogen habe. Diese Beiträge wurden von der Beklagten in dem Bescheid ausdrücklich beanstandet und es wurde der Klägerin anheimgestellt, ihre Erstattung zu beantragen. Die für 1949 entrichteten 26 Beitragsmarken könnten die Anwartschaft nach § 4 SVAG nicht erhalten, da sie nach dem 30. November 1948 entrichtet worden seien. Eine neue Wartezeit sei noch nicht erfüllt.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Berufung ein. Das Oberversicherungsamt ... wies durch Urteil vom 10. August 1951 die Berufung mit der Begründung zurück, daß die Klägerin nicht invalide sei, außerdem die Anwartschaft erloschen und eine neue Wartezeit nicht erfüllt sei. Gegen dieses Urteil erhob die Klägerin am 19. September 1951 - in Verbindung mit der Erklärung vom 10. August 1952 - Klage vor dem Oberverwaltungsgericht in ... Gemäß § 215 Abs. 8 SGG ist diese als Berufung auf das Landessozialgericht Schleswig übergegangen.

Das Landessozialgericht wies am 26. Februar 1954 die Berufung der Klägerin mit der Begründung zurück, daß die Anwartschaft aus den bis 1921 entrichteten Beiträgen nicht erhalten sei, insbesondere auch die Halbdeckung nicht erreicht sei. Auch nach § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes vom 17. Juni 1949 sei die Anwartschaft nicht erhalten, da die Klägerin in der Zeit vom 1. Januar 1924 bis zum 30. November 1948 keinen wirksamen Beitrag geleistet habe. Die in den Jahren 1941, 1944 und 1945 entrichteten Beiträge seien unwirksam, da die Klägerin während dieser Zeit eine Witwenrente bezogen und daher gemäß § 1236 RVO versicherungsfrei gewesen sei und diese Beiträge von der Beklagten fristgerecht beanstandet worden seien. Diese Beanstandung habe im Gegensatz zu der Auffassung der Klägerin vorgenommen werden dürfen, weil der Bescheid vom 10. Juni 1941, der einen Hinweis auf die Verpflichtung, bei versicherungspflichtiger Tätigkeit Beiträge zu leisten, enthielt, durch das Oberversicherungsamt wieder aufgehoben worden sei. Auch aus der Tatsache, daß die Beklagte in dem jetzigen Verfahren zunächst ihren ablehnenden Bescheid nur darauf gestützt habe, daß keine Invalidität vorliege, könne kein verbindliches Anerkenntnis der Erhaltung der Anwartschaft erblickt werden. Auch könne die Klägerin sich heute nicht darauf berufen, daß sie 1941 in Wirklichkeit nicht invalide gewesen sei, da das Urteil des Oberversicherungsamts vom 17. September 1941 rechtskräftig geworden und daher der Nachprüfung durch die Gerichte entzogen sei. Auch die Beklagte sei daran gebunden und könne sich daher mit Recht darauf berufen, daß die Klägerin damals zu einer Beitragsleistung nicht berechtigt war. Auch der Einwand der Klägerin, daß § 1236 RVO z. Zt. des Eintritts des jetzigen Versicherungsfalles nicht mehr gegolten habe, sei unberechtigt, da für die Frage der Gültigkeit von Beiträgen das Recht maßgebend sei, das z. Zt. der Beitragsleistung gelte. § 1236 habe aber zu diesem Zeitpunkt noch gegolten. Da die 1949 entrichteten Beiträge nicht mehr für die Erhaltung der Anwartschaft nach dem SVAG in Betracht kämen, sei die Anwartschaft erloschen. Weil die für 1949 entrichteten Beiträge außerdem für die Erfüllung einer neuen Wartezeit nicht ausreichten, sei der Anspruch der Klägerin auf Invalidenrente zu Recht abgelehnt worden.

Das Landessozialgericht ließ die Revision gegen dieses Urteil zu. Es wurde der Klägerin am 22. März 1954 zugestellt. Am 22. April 1954 legte Rechtsanwalt ... für die Klägerin unter Stellung eines Revisionsantrages Revision ein. Am 22. April 1954 wiederholte der Gewerkschaftssekretär Viertel von der Gewerkschaft ÖTV die Revisionseinlegung. Die Revision wurde unter Stellung eines Revisionsantrages am 14. Mai 1954 von dem Gewerkschaftssekretär ... von der Gewerkschaft ÖTV begründet.

Die Klägerin ist insbesondere der Ansicht, daß in dem Ablehnungsbescheid vom 27. November 1950, der sich nur darauf stützte, daß die Klägerin nicht invalide sei, ein dahingehendes bindendes Anerkenntnis liege, daß die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten sei,

daß die Beklagte diese Beiträge zudem nicht mehr zu einem Zeitpunkt rechtswirksam hätte beanstanden können, in dem der entscheidende § 1236 RVO in der britischen Zone nicht mehr gelte,

daß das Landessozialgericht es unterlassen habe zu prüfen, ob nicht auf Grund der §§ 21 und 31 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges vom 15. Januar 1941 eine Witwe, die eine Witwenrente Wegen Invalidität bezog, in ihrer eigenen Versicherung Pflichtbeiträge hätte zahlen dürfen,

daß es nach § 4 Abs. 2 SVAG nur auf die Tatsache der "Entrichtung" eines Beitrages ankomme und nichts davon gesagt sei, daß dieser rechtswirksam sein müsse,

daß die Klägerin im Zeitpunkt der Beitragsleistung im Jahre 1941 noch nicht invalide gewesen sei und auch keine Rente bezogen habe und ihr diese Rechtsstellung nicht durch die rückwirkende Kraft des Urteils des Oberversicherungsamts vom 17. September 1941 wieder hätte genommen werden können,

daß § 1236 RVO heute in der britischen Zone auch für die vor seinem Außerkrafttreten geleisteten Beiträge nicht mehr angewandt werden könne; falls man aber doch so verfahre, man dann gleichermaßen auch zur Beurteilung des Versicherungsanspruchs das frühere Recht anzuwenden habe.

Sie hat beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 26. Februar 1954 sowie das Urteil des Oberversicherungsamtes ... vom 10. August 1951 und den Bescheid der Beklagten vom 27. November 1950 aufzuheben und der Klage stattzugeben, hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen, evtl. festzustellen, daß die von der Klägerin in den Jahren 1941, 1944 und 1945 geleisteten Beiträge rechtswirksam entrichtet sind.

Die Beklagte hat beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie widerspricht dem Hilfsantrag der Revisionsklägerin bezüglich der begehrten Feststellung der rechtswirksamen Beitragsentrichtung, da sie darin eine unzulässige Klageänderung erblickt.

Sie hält die Begründung des Landessozialgerichts für zutreffend. Insbesondere ist sie nicht der Ansicht, daß in ihrem ablehnenden Bescheid vom 27. November 1950 ein Anerkenntnis hinsichtlich der Erfüllung der Wartezeit, der Erhaltung der Anwartschaft und der Versicherungsberechtigung zu erblicken sei. Alle von der Klägerin angeführten Anwartschaftsvergünstigungen seien bis auf § 4 SVAG für den zur Entscheidung stehenden Fall unanwendbar, da Versicherungsansprüche nach dem Recht zur Zeit ihrer Entstehung zu beurteilen seien und der Versicherungsfall vorliegend nach dem 1. Januar 1949 eingetreten sei. Dagegen richte sich die Wirksamkeit von Beiträgen nach den zur Zeit ihrer Entrichtung geltenden Vorschriften. In vorliegendem Falle sei daher § 1236 RVO anzuwenden, da er in den Jahren 1941 und 1944 auch in der britischen Zone noch gegolten habe. Da die Beiträge von ihr zu Recht beanstandet seien, sei kein einziger Beitrag in der Zeit vom 1. Januar 1924 bis 30. November 1948 entrichtet, so daß die Anwartschaft nicht erhalten sei.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist nach § 162 Abs. 1 Ziff. 1 SGG auch statthaft. Es konnte ihr der Erfolg nicht versagt werden.

Das Berufungsgericht hat auf Grund des bisher festgestellten Sachverhalts mit Recht angenommen, daß der Klägerin die Invalidenrente nach § 1253 Abs. 2 RVO dann zusteht, wenn die Wartezeit als erfüllt und die Anwartschaft als erhalten angesehen werden kann. Es kann dem Berufungsgericht auch weiterhin gefolgt werden, wenn es annimmt, daß die Wartezeit aus den von 1911 bis 1921 entrichteten Beiträgen erfüllt, daß dagegen eine neue Wartezeit aus den im Jahre 1949 entrichteten Beiträgen nicht erfüllt ist. Dagegen ist das Berufungsgericht einem Rechtsirrtum unterlegen, wenn es bei dem bisher von ihm festgestellten Sachverhalt zu dem Ergebnis kommt, die Anwartschaft sei erloschen.

Aus den bis 1921 entrichteten Beiträgen war die Anwartschaft nach § 1264 RVO sicherlich erloschen, da die Klägerin in der Zeit von 1921 bis 1941 keine Beiträge entrichtet hatte; sie könnte - wie das Berufungsgericht mit Recht feststellt - nur dann als erhalten angesehen werden, wenn die Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 SVAG erfüllt sind, d. h. wenn nach dem 31. Dezember 1923 bis zum 30. November 1948 wenigstens ein Beitrag entrichtet worden ist und der Versicherungsfall nicht vor dem 1. Januar 1949 eingetreten ist. Für die Klägerin sind in den Jahren 1941 und 1944 bis 1945 Beiträge geleistet worden, weil sie versicherungspflichtige Arbeiten ausgeführt hat. Diese sind jedoch, wie das Berufungsgericht ohne Rechtsirrtum festgestellt hat, nicht rechtswirksam geleistet, weil die Klägerin zu dieser Zeit nach § 1236 RVO versicherungsfrei war; denn sie bezog seit dem 1. April 1941 eine Witwenrente. Bei ihrem Einwand, daß sie während der Beitragsleistung bis zum Erlaß des Urteils des Oberversicherungsamts am 17. September 1941 noch keine Witwenrente bezogen habe, übersieht die Klägerin, daß sie durch die rückwirkende Gewährung der Rente auch schon für die Zeit vom 1. April bis 17. September 1941 die Witwenrente tatsächlich bezogen hat.

Maßgebend ist nicht der Zeitpunkt der Auszahlung, sondern der Zeitraum, für den die Rente gezahlt wird. Nur eine solche Auslegung entspricht dem Zweck des Gesetzes, das eine Versicherungspflicht während der Zeit, für welche eine Rente bezogen wird, vermeiden wollte. Die bis zur Rechtskraft des Urteils des Oberversicherungsamts entrichteten Beiträge waren wegen des schwebenden Verfahrens von vornherein also nicht etwa wirksam, wie die Klägerin meint, sondern waren schwebend unwirksam. Mit der Rechtskraft des die Rente rückwirkend zusprechenden Urteils wurden sie endgültig unwirksam. Der Hinweis der Klägerin auf §§ 21 und 31 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges vom 15. Januar 1941 (RGBl. I S. 34) geht schon deshalb fehl, weil diese Vorschriften nur Fragen der Entziehung von Renten behandeln und weitere Schlußfolgerungen, wie die Klägerin möchte, nicht möglich sind, da § 1236 RVO während des Krieges noch voll in Geltung war. Dem Berufungsgericht ist auch in vollem Umfang beizutreten, wenn es verneint, daß die Beklagte durch ihr bisheriges Verhalten die Gültigkeit dieser Beitragsmarken beziehungsweise die Erhaltung der Anwartschaft anerkannt habe. Ein in dieser Richtung liegender Wille ist in keiner ihrer abgegebenen Erklärungen zu erkennen. Auch bestehen keine Bedenken, daß sie diese Beiträge noch nach Außerkrafttreten des § 1236 RVO in der britischen Zone beanstandet hat; eine entsprechende Beschränkung dieses Rechts ist aus dem Gesetz nicht zu entnehmen. Da die Beklagte die Beitragsmarken vor Ablauf der zehnjährigen Frist des § 1445 Abs. 3 RVO, also berechtigterweise, beanstandet hat, müssen sie als rechtsunwirksam angesehen werden. Der Ansicht der Klägerin, daß § 4 SVAG nur von der "Entrichtung", nicht aber von der "wirksamen" Entrichtung von Beiträgen spreche, und es daher auf die Wirksamkeit der Beiträge überhaupt nicht ankomme, kann nicht beigepflichtet werden; es ist so selbstverständlich, daß nur wirksame Beiträge anerkannt werden können, daß der Gesetzgeber dies nicht ausdrücklich zu erwähnen brauchte. Die Ansicht der Klägerin, daß § 1236 RVO auf den vorliegenden Fall deshalb nicht angewandt werden könne, weil er in der britischen Zone vor Eintritt des Versicherungsfalles außer Kraft getreten sei, kann nicht beigepflichtet werden. Es ist ein anerkannter Grundsatz, daß neue Rechtssätze, die die Wirkung einer Tatsache bestimmen, sich in aller Regel nur auf zukünftig eintretende Tatsachen beziehen (vgl. Enneczerus - Nipperdey, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, 14. A., 1. Halbband § 62). Die durch die Aufhebung des § 1236 RVO in der britischen Zone erfolgte Neuregelung, die zur Folge hatte, daß trotz Bezugs einer der dort genannten Renten Pflichtbeiträge wirksam geleistet werden konnten, hat also nur Bedeutung für die von diesem Zeitpunkt ab entrichteten Beiträge. Daraus ergibt sich, daß sich die Versicherungsfreiheit nach § 1236 RVO für Zeiten, die vor dessen Außerkrafttreten in der britischen Zone liegen, nach dieser Vorschrift richtet, obwohl sie inzwischen aufgehoben worden ist. Die Tatsache, daß der Versicherungsfall erst nach dem Außerkrafttreten dieser Bestimmung eingetreten ist, ist hierbei ohne Bedeutung.

Es ist ebenso allgemein anerkannt, daß Versicherungsansprüche grundsätzlich nach dem Recht zur Zeit ihrer Entstehung zu beurteilen sind, so daß der Einwand der Klägerin, das Berufungsgericht habe seiner Entscheidung frühere, inzwischen außer Kraft getretene Gesetze zugrunde legen müssen, fehl geht.

Es muß somit festgestellt werden, daß das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat, daß die Beiträge der Klägerin aus den Jahren 1941 sowie 1944 bis 1945 als Pflichtbeiträge unwirksam waren.

Das Berufungsgericht hat es aber unterlassen zu prüfen, ob diese Beiträge nicht als freiwillige Beiträge anerkannt werden müssen. Würde auch nur einer dieser Beiträge als freiwilliger Beitrag anerkannt werden, würden die Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 SVAG, soweit der bisher festgestellte Sachverhalt dies erkennen läßt, erfüllt sein. Nach § 1446 RVO gelten Beiträge, die in der irrtümlichen Annahme der Versicherungspflicht entrichtet worden sind und nicht zurückgefordert werden, als freiwillige Beiträge, wenn das Recht sie zu entrichten in der Zeit der Entrichtung bestanden hat. Es bestehen keine Bedenken, anzunehmen, daß zumindest die Beiträge, die im Jahre 1941 bis zur Zustellung des Urteils des Oberversicherungsamts entrichtet wurden, in der irrtümlichen Annahme der Versicherungspflicht entrichtet worden sind; denn sowohl die Klägerin als auch ihr Arbeitgeber konnten mit Recht der Auffassung sein, daß diese Beiträge zu leisten seien. Es war nicht nur der Antrag der Klägerin auf Gewährung der Witwenrente abgelehnt worden, sondern es war ihr darüber hinaus noch mitgeteilt worden, daß sie bei Aufnahme von Arbeit versicherungspflichtig sei. Weiterhin hat die Klägerin von ihrem Recht, die Beiträge zurückzufordern, keinen Gebrauch gemacht, und zwar weder in der Frist des Abs. 1 noch der des Abs. 2 des § 1445 c RVO. Fraglich ist allerdings, ob die weitere Voraussetzung des § 1446 RVO, daß die Klägerin z. Zt. der Entrichtung dieser Beiträge zu ihrer Entrichtung berechtigt war, erfüllt ist. Die Voraussetzungen des § 1244 RVO liegen zweifelsohne vor, da die Klägerin bis 1921 weit mehr als 26 Wochenbeiträge entrichtet hat. Gemäß § 1443 RVO können allerdings freiwillige Beiträge nur bis zum Eintritt des Versicherungsfalles der Invalidität oder des Todes entrichtet werden. Während § 1236 RVO Versicherungsfreiheit nicht nur beim Vorliegen von Invalidität, sondern unabhängig davon auch beim Bezug einer der dort aufgezählten Renten anordnet, stellt es § 1443 RVO nur auf den Eintritt des Versicherungsfalles der Invalidität oder des Todes ab. Beide Bestimmungen gelten unabhängig voneinander. Das Recht, bis zum Eintritt des Versicherungsfalles der Invalidität freiwillige Beiträge zu entrichten, wird daher nicht dadurch ausgeschlossen, daß infolge des Bezugs einer der in § 1236 RVO genannten Renten Versicherungsfreiheit besteht. Entscheidend ist, ob bei der Klägerin der Versicherungsfall der Invalidität bei Entrichtung dieser Beiträge bereits eingetreten war.

Das Berufungsgericht hat eine eigene Feststellung in dieser Hinsicht nicht getroffen, sondern hat sich darauf berufen, daß es an die rechtskräftige Entscheidung des Oberversicherungsamts vom 17. September 1941, in welcher festgestellt ist, daß die Klägerin invalide ist, gebunden sei. Das Berufungsgericht ist insofern einem Rechtsirrtum erlegen. Urteile erwachsen nur in Rechtskraft, soweit über den Streitgegenstand, also den Anspruch, entschieden ist (§ 141 SGG). Es ist in Rechtsprechung und Lehre allgemeine Ansicht, daß die dem Anspruch zugrunde liegenden Feststellungen, also hier die über die Invalidität, dagegen nicht in Rechtskraft erwachsen. Es bedarf keiner Untersuchung, ob dieser Grundsatz für alle der Sozialgerichtsbarkeit unterliegenden Rechtsgebiete uneingeschränkt anwendbar ist, jedenfalls bestehen keine Bedenken, ihn für Leistungsklagen aus der Invalidenversicherung in der Regel anzuwenden. Das Berufungsgericht hätte also selbst feststellen müssen, ob die Klägerin zur Zeit ihrer Beitragsleistungen invalide war und hätte darüber befinden müssen, ob die geleisteten Beiträge als freiwillige Beiträge anzurechnen seien. Der durch diese nicht richtige Anwendung des § 141 SGG gegebene Revisionsgrund mußte von dem erkennenden Gericht auch ohne Rüge beachtet werden, da es sich nicht um einen wesentlichen Mangel des Verfahrens, sondern um die falsche Beurteilung eines außerhalb des vorliegenden Rechtsstreits liegenden Umstandes handelt. Es bestand keine Veranlassung, von dem zu dieser Frage vom Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung entwickelten Grundsatz abzuweichen. (Vgl. dazu Rosenberg, Lehrbuch der ZPO, 16. Aufl., S. 663; RG 132 S. 335; 79 S. 81, JNr. 1912 S. 462 und 1910 S. 28.)

Das angefochtene Urteil mußte somit in vollem Umfange aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.

Das Berufungsgericht wird nunmehr selbst festzustellen haben, ob und ggfs. von welchem Zeitpunkt an und u. U. bis wann die Klägerin invalide war. Es wird hierbei nicht nur die ärztlichen Gutachten, die in dem Verfahren aus dem Jahre 1941 erstattet worden sind, sondern auch alle sonstigen bedeutsamen Umstände, insbesondere auch die Tatsache zu würdigen haben, daß die Klägerin im Jahre 1941 sowie in den Jahren 1944, 1945 und 1949 tatsächlich versicherungspflichtige Tätigkeiten ausgeübt hat. Auch wird es berücksichtigen müssen, daß selbst die Gutachten, die in dem jetzigen Verfahren erstattet worden sind, das Vorliegen von Invalidität verneinen. Sollte es aber trotzdem zu dem Ergebnis kommen, daß Invalidität vorgelegen hat, müßte es prüfen, ob nicht die Voraussetzungen des § 1444 Abs. 2 RVO vorliegen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324022

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