Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 7. Dezember 1978 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Der 1935 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er war nach Abschluß der Hauptschule zunächst in Italien und seit Mai 1960 in der Bundesrepublik Deutschland als ungelernter Arbeiter beschäftigt. Von 1967 bis 1969 war er Laborgehilfe, seit 1969 ist er bei seinem jetzigen Arbeitgeber tätig, und zwar bis 1975 als Laborhelfer und Laborfachwerker; während dieser Zeit betrieb er seine Berufsfortbildung und bestand im Februar 1975 die Prüfung als Chemielaborant. Vom 1. März 1975 bis zum 15. Juni 1977 arbeitete er in diesem Beruf; seine Beschäftigung wurde durch Zeiten der Arbeitsunfähigkeit vom 6. Januar bis 14. März 1977 und vom 16. Mai bis 1. Juni 1977 unterbrochen. Wegen einer weitgehenden Erblindung seines linken Auges wurde er zum 16. Juni 1977 in die Hausverwaltung zu Boten- und Hilfsdiensten versetzt.
Die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte ab. Der dagegen erhobenen Klage gab das Sozialgericht (SG) statt. In der Begründung des Urteils ist ausgeführt, der Kläger könne aus gesundheitlichen Gründen in seinem bisherigen Beruf als Chemielaborant oder in Teilbereichen dieses Berufs nicht mehr tätig sein. Zur Ausübung eines ihm zumutbaren Verweisungsberufs sei er nicht in der Zage; auch gehobene ungelernte Tätigkeiten, die dem Kläger als Versicherten mit längerer Berufsausbildung zumutbar wären, schieden wegen seines mangelnden Sehvermögens aus. Auf seine derzeitige Botentätigkeit könne der Kläger nicht verwiesen werden, da er hierbei nur vergönnungsweise und vorübergehend in der Tarifgruppe T 3 – in der er auch als Chemielaborant eingestuft gewesen sei – entlohnt werde.
Mit der im angefochtenen Urteil zugelassenen Sprungrevision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des § 23 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). „Bisheriger Beruf” des Klägers sei wegen der Kürze seiner Ausübung nicht der eines Chemielaboranten; dem Berufsleben des Klägers gebe vielmehr eine einundzwanzigjährige Tätigkeit als Hilfskraft das Gepräge. Gehe man vom Beruf des Laborfachwerkers aus, den der Kläger während eines Zeitraums von mindestens drei Jahren ausgeübt habe, so sei ihm die Botentätigkeit zumutbar. Das gelte im übrigen aber selbst bei Zugrundelegung des Berufs eines Chemielaboranten, da sich die Botentätigkeit aus dem Kreis sonstiger einfacher Tätigkeiten als Vertrauensstellung sowie wegen der mit ihr verbundenen Verantwortung heraushebe.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist nicht begründet; die Annahme des SG, daß der Kläger berufsunfähig ist, läßt einen Rechtsfehler nicht erkennen.
Nach § 23 Abs. 2 Satz 1 AVG ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist; der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit der Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt nach § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und den besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Daß das Landessozialgericht (LSG) als bisherigen Beruf des Klägers den des Chemielaboranten angesehen hat, ist entgegen den Bedenken der Beklagten nicht zu beanstanden. Es trifft zwar zu, daß der „bisherige Beruf” nicht ohne weiteres mit der zuletzt bekleideten Position im Erwerbsleben gleichzusetzen ist (vgl. BSGE 32, 242, 243), sondern daß es sich bei ihm um eine Tätigkeit handeln muß, der sich der Versicherte mindestens auf eine gewisse längere Dauer zugewandt und die er in einem solchen Umfange ausgeübt hat, daß sie seiner Person im wirtschaftlichen Leben das Gepräge geben konnte (BSGE 19, 2179 219). Dabei kommt es aber nicht allein auf das Verhältnis der Zeiträume, in denen Versicherte verschiedenartige Tätigkeiten ausgeübt haben, und die Dauer der in Betracht kommenden Tätigkeit (vgl. dazu BSGE 16, 34, 36) an, sondern auf das Gesamtbild des beruflichen Werdegangs; läßt dieser eine stufenweise Aufwärtsentwicklung erkennen, die mit einer Prüfung abgeschlossen worden ist, so kann auch eine kurzzeitige, aber nicht nur vorübergehende Tätigkeit in der erworbenen Stellung ausreichen, um danach den bisherigen Beruf des Versicherten zu bestimmen und die frühere Erwerbsarbeit zurücktreten zu lassen (vgl. BSGE 21, 282, 283; 32, 242, 243). Dabei kommt dem Zeitfaktor insbesondere dann vermindertes Gewicht zu, wenn der Versicherte die erreichte Position infolge einer Einbuße in seiner Arbeitskraft verloren hat (BSGE 19, 217, 220; 21, 282, 283f).
Diese Grundsätze hat das SG nicht verkannt. Es ist zunächst darauf hinzuweisen, daß der Kläger nicht, wie die Beklagte im Anschluß an einen offenkundigen Rechenfehler des SG annimmt, nur 1 ⅓ Jahre, sondern etwa 2 ⅓ Jahre als Chemielaborant tätig war, also nicht nur während eines möglicherweise unbedeutenden oder vorübergehenden Zeitraums; es fehlt auch an einem Anhalt dafür, daß er dieser Tätigkeit von Anfang an aus Gesundheitsgründen nicht gewachsen war. Die erreichte Berufsstellung erscheint ferner als Ergebnis eines stetigen, durch eine die einschlägige Berufstätigkeit begleitende Fortbildung und eine Abschlußprüfung gekennzeichneten Aufstieges, der durch eine Erkrankung des Klägers sein Ende gefunden hat. Bei einer Gesamtwürdigung aller dieser Umstände durfte das SG zu dem Ergebnis gelangen, daß bisheriger Beruf des Klägers der des Laboranten ist. Diesen Beruf kann der Kläger nach den Feststellungen des SG aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben.
Das SG hat weiterhin festgestellt, daß es zumutbare Verweisungsberufe, die der Kläger nach seinem Leistungsvermögen noch auszuüben vermag, nicht gibt. Diese Feststellung ist in tatsächlicher Hinsicht jeder Nachprüfung im Revisionsverfahren entzogen (§§ 461 Abs. 4, 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-); der Senat ist auf die Prüfung beschränkt, ob das SG den Begriff der Verweisbarkeit verkannt hat. Ein dahingehender Fehler ist nicht ersichtlich; die Ausführungen des SG rechtfertigen insbesondere nicht den Schluß, daß es von einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung über den Umfang des in Betracht kommenden Arbeitsfeldes ausgegangen ist. Auch die Beklagte beschränkt sich insoweit auf einen Angriff gegen die Ansicht des SG, der Kläger könne nicht auf die von ihm ausgeübte Botentätigkeit verwiesen werden. Dieser Angriff geht fehl. Wenn das SG festgestellt hat, bei dieser Tätigkeit handele es sich nicht um eine gehobene ungelernte Tätigkeit, so ist es ersichtlich davon ausgegangen, daß der Kläger auch auf ungelernte Arbeiten verwiesen werden könnte, die sich aufgrund besonderer Merkmale aus dem Kreis sonstiger einfacher Arbeiten herausheben; ob dem darin zutage tretenden Gedanken einer Übertragung der für die Verweisbarkeit von Facharbeitern geltenden Grundsätze (vgl. SozR 2200 § 1246 Nr. 36) auf Fälle wie den vorliegenden uneingeschränkt beizupflichten ist, kann dahinstehen, da die Feststellungen des SG die Annahme ausschließen, der Botentätigkeit komme eine solche herausgehobene Stellung zu. Zu Recht hat das SG in diesem Zusammenhang auf die Kürze der Einarbeitungszeit und die tarifliche Entlohnung, auf die der Kläger Anspruch hat (vgl. SozR 2200 § 1246 Nr. 38; vgl. ferner Urt. des 4. Senats des Bundessozialgerichts -BSG- v. 19.3.1980 – 4 RJ 13/79 –), abgehoben. Daß es der Arbeitgeberauskunft, wonach die Botenstellung des Klägers mit besonderer Verantwortung verbunden sei und ein besonderes Vertrauensverhältnis voraussetze und erfordere, das über das übliche Maß der Zuverlässigkeit hinausgehe, keine Bedeutung beigemessen hat, ist unschädlich. Das SG konnte ohne Rechtsirrtum davon ausgehen, daß die Verweisbarkeit nicht lediglich mit allgemeinen und pauschalen Ausführungen begründet werden kann. Diese können leicht zu ständig wiederholbaren Leerformeln werden (vgl. SozR 2200 § 1246 Nr. 36). Es bedarf vielmehr konkreter Anhaltspunkte dafür, daß sich eine Tätigkeit wegen ihres qualitativen Wertes für den Arbeitgeber aus dem Kreis sonstiger einfacher Arbeiten heraushebt (vgl. SozR 2200 § 1246 Nr. 34); daß sich das SG Erwägungen dieser Art zu eigen gemacht hat, ergibt sich schon aus seiner Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 19. Januar 1978 (BSGE 45, 267, 269).
Nach alledem war die Revision mit der sich aus § 193 ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Fundstellen