Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfolgte. fiktive Beitragszeit. Haushaltshilfe bei Verwandten
Orientierungssatz
Für die Anwendbarkeit des WGSVG § 14 Abs 2 reicht es nicht aus, daß für ein an sich versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis keine Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt wurden, selbst wenn sowohl der Arbeitgeber als auch der Beschäftigte Verfolgte iS des BEG waren. Der allgemeine Verfolgungsdruck gegenüber jüdischen Mitbürgern allein reicht nicht aus, erforderlich sind vielmehr individuelle und konkrete Verfolgungsmaßnahmen gegen den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer (so auch BSG 1974-03-27 1 RA 197/73 = SozR 5070 § 14 WGSVG Nr 1).
Normenkette
WGSVG § 14 Abs 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anrechenbarkeit der Zeit von Juni bis August 1936 nach § 14 Abs 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) auf die Wartezeit für eine Versichertenrente.
Die im Jahre 1920 geborene Klägerin ist als Verfolgte nach § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt. Sie besuchte von 1926 bis 1930 die Volksschule und im Anschluß daran die höhere Schule. Diese mußte sie im Jahre 1935 als Jüdin verlassen. Während der streitigen Zeit arbeitete sie als Haushaltshilfe bei den Eheleuten L (L) in T (Tante und Onkel). Im November 1937 wanderte sie in die USA aus, wo sie noch heute lebt. Beiträge zur deutschen Sozialversicherung nicht nicht entrichtet worden.
Im Dezember 1975 beantragte sie bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) zunächst formlos die Gewährung von Leistungen. Im Januar 1977 beantragte sie die Gewährung von Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Hierzu gab sie ua an, während der streitigen Zeit versicherungspflichtig beschäftigt gewesen zu sein. Als Entgelt für ihre Tätigkeit als Haushaltshilfe habe sie neben freier Kost und Wohnung monatlich ca 50,-- Reichsmark erhalten. Nach der hierzu abgegebenen eidesstattlichen Erklärung der Frau Elsa L, der früheren Arbeitgeberin der Klägerin, vom 4. Januar 1977 wurden Beiträge zur Sozialversicherung nicht abgeführt, da dies unter den damals herrschenden Umständen sinnlos erschienen sei. Im Hinblick auf zwischenzeitlich aufgetretene finanzielle Schwierigkeiten sei sie gezwungen gewesen, die Klägerin im August 1936 wieder zu entlassen. Durch Bescheid vom 31. März 1977 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab mit der Begründung, eine anrechenbare Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten sei nicht vorhanden. Das Beschäftigungsverhältnis während der streitigen Zeit sei nicht versicherungspflichtig gewesen. Die Angaben der Frau Elsa L über die Höhe der Barbezüge könnten nicht zutreffen. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 1977).
Klage und Berufung der Klägerin blieben erfolglos. In den Entscheidungsgründen des Urteils des Landessozialgerichts (LSG) Rheinland-Pfalz vom 22. August 1979 ist ua ausgeführt, nach der glaubhaften Darstellung der Klägerin und ihrer früheren Arbeitgeberin Frau L habe es sich seinerzeit um ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gehandelt. Die Entrichtung von Versicherungsbeiträgen sei jedoch nicht aus Verfolgungsgründen unterblieben, weil insoweit keine konkreten individuellen Verfolgungsmaßnahmen gegen die Klägerin oder ihre Familie vorgelegen hätten oder zu befürchten gewesen wären.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, sie sei nicht nur einem allgemeinen Verfolgungsdruck, sondern ganz konkreten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen. Im Jahre 1935 habe sie ihre Schulausbildung abbrechen müssen. In der Folgezeit sei es ihr nicht gelungen, eine andere Ausbildung oder Anstellung zu finden. Die Beendigung der Beschäftigung nach drei Monaten sei durch den verfolgungsbedingten Rückgang des Geschäftes ihrer Arbeitgeber verursacht worden. Aufgrund der konkreten Situation der Klägerin sowie ihrer Arbeitgeber sei die Entrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen unterblieben.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die
Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 31. März
1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
13. Oktober 1977 zu verurteilen, der Klägerin ab
1. Januar 1976 Versichertenrente wegen
Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen
Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Die Voraussetzungen des § 14 Abs 2 WGSVG sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Wenn auch das Beschäftigungsverhältnis während der streitigen Zeit nach den damals geltenden Vorschriften (§ 1226 der Reichsversicherungsordnung -RVO- aF) der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung unterlegen hat, so ist doch die Beitragsentrichtung nicht aus Verfolgungsgründen unterblieben. Insoweit ist dem angefochtenen Urteil beizupflichten.
Für die Anwendbarkeit des § 14 Abs 2 WGSVG reicht es nicht aus, daß für ein an sich versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis keine Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt wurden, selbst wenn sowohl der Arbeitgeber als auch der Beschäftigte Verfolgte iS des BEG waren. Der allgemeine Verfolgungsdruck gegenüber jüdischen Mitbürgern allein reicht nicht aus, erforderlich sind vielmehr individuelle und konkrete Verfolgungsmaßnahmen gegen den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer (so BSG vom 1974-03-27 - 1 RA 197/73 - SozR 5070 § 14 WGSVG Nr 1). Derartige konkrete Verfolgungsmaßnahmen lagen aber nach den bindenden Feststellungen des LSG nicht vor.
Es deutet nichts darauf hin, daß die Klägerin das Beschäftigungsverhältnis aufgrund einer gezielten Verfolgungsmaßnahme begründen mußte. Die letzte Verfolgungsmaßnahme bestand in dem erzwungenen Abbruch ihrer Schulausbildung. Mehr ist den Feststellungen des LSG und dem Vorbringen der Klägerin nicht zu entnehmen. Man kann allenfalls davon ausgehen, daß die Klägerin nicht unerhebliche Schwierigkeiten hatte, einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden. Dieser Umstand jedoch hätte den Arbeitgeber der Klägerin, die Familie L, nicht daran zu hindern brauchen, Beiträge zur Rentenversicherung abzuführen. Es spricht nichts dafür, daß durch eine ordnungsgemäße Beitragsentrichtung eine verfolgungsbedingte Gefahr für die Klägerin oder den Arbeitgeber eingetreten wäre. Eine solche Gefahr hätte zB bestehen können, wenn die Klägerin dieses Beschäftigungsverhältnis eingegangen wäre, um auf diese Weise unterzutauchen und sich damit nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen zu entziehen. Diese Gefahr hätte auch dann bestehen können, wenn der Arbeitgeber bei Bekanntwerden dieses Beschäftigungsverhältnisses konkrete Verfolgungsmaßnahmen hätte befürchten müssen. Für beide Möglichkeiten bestehen hier keinerlei Hinweise. Diese lassen sich auch nicht daraus entnehmen, daß eine Beitragsentrichtung seinerzeit für sinnlos gehalten wurde. Diese Überlegung kann ohne weiteres auf der allgemeinen Beurteilung der damaligen Situation der Juden im nationalsozialistischen Deutschland beruhen. Die Klägerin trägt selbst vor, daß die Ausstellung einer Versicherungskarte sowie die Anmeldung bei dem Betrieb der Familie L unmittelbar keine Verfolgungsmaßnahmen ausgelöst hätte. Gerade dies wäre aber für eine Anrechnung von Beiträgen nach § 14 Abs 2 WGSVG erforderlich gewesen (vgl auch Urteil des erkennenden Senats vom 1979-09-27 - 4 RJ 66/78 -).
Soweit im übrigen die Rechtsprechung (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 1976-05-26 - 4 RJ 359/74 - = SozR 5070 § 14 WGSVG Nr 4) keine konkreten Verfolgungsmaßnahmen für die Unterlassung der Beitragsentrichtung gefordert hat, kann dies nicht für den vorliegenden Fall gelten. Es handelte sich dort jeweils um Sachverhalte, in denen nach 1933 jüdische Selbsthilfeorganisationen Betriebsstätten (Ausbildungsstätten) errichteten und für die dort beschäftigten Verfolgten keine Beiträge entrichteten. Über diese Betriebsstätten übte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) die Kontrolle in der Weise aus, daß andere an sich zuständige Stellen, wie die Arbeits- und Versicherungsämter praktisch ausgeschaltet waren. Auf diese Weise wurde entsprechend den Intentionen der Gestapo auch die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen verhindert, falls Versicherungspflicht bestanden haben sollte (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 1979-12-20 - 4 RJ 111/76 - sowie Urteil des LSG NRW vom 1977-07-01 - L 3 J 28/74 - mit Anmerkung von Schmiedinger in Sozialversicherung 1978 S 270, 272). Diese besondere Organisation der Betriebsstätten bewirkte die Nichtabführung von Rentenversicherungsbeiträgen aus Verfolgungsgründen. Das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin fand aber gerade nicht in einer solchen Betriebsstätte statt. Vielmehr unterlag der Arbeitgeber der Klägerin wie jeder andere private Haushalt der Kontrolle durch die zuständigen Sozialversicherungsträger. Diese hätten die Anmeldung der Klägerin und die Abführung von Beiträgen veranlassen können.
Nach alldem sind die Voraussetzungen des § 14 Abs 2 WGSVG bei der Klägerin nicht erfüllt. Andere Rechtsgrundlagen für eine Anrechnung der streitigen Zeit bestehen nicht. Vor der Aufnahme der Beschäftigung während der streitigen Zeit hat die Klägerin keine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt und deshalb keinen verfolgungsbedingten Schaden gerade in der Sozialversicherung erlitten, der außerhalb der Vorschriften des BEG nach dem WGSVG zu ersetzen wäre.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen