Leitsatz (amtlich)

Unter den Voraussetzungen des RVO § 1265 S 2 ist Hinterbliebenenrente zu gewähren, wenn die geschieden Frau zur Zeit des Todes des Versicherten ihren notwendigen Lebensbedarf nicht aus eigenem Vermögen und Einkommen bestreiten konnte.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Tatsache des Bezuges eines vorgezogenen Altersruhegeldes aus der gesetzlichen Rentenversicherung und das fortgeschrittene Alter einer geschiedenen Frau stehen der Möglichkeit, im Zeitpunkt des Todes des geschiedenen Ehemannes für sich selbst zu sorgen, nicht entgegen.

 

Normenkette

RVO § 1265 S. 2 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Oktober 1971 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Ehe der Klägerin war im Juni 1968 aus dem Verschulden des Mannes geschieden worden. Der Ehemann starb im September desselben Jahres. In diesem Jahre hatten beide Ehegatten Renteneinkünfte. Der Mann bezog monatlich 328,- DM, die Klägerin das vorzeitige Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) von monatlich 111,- DM. Außerdem erhielt die Klägerin in den Monaten zwischen der Scheidung und dem Tod des Mannes Sozialhilfe von je 117,30 DM. Die Klägerin war als Arbeiterin berufstätig gewesen.

Die Beklagte lehnte die Bewilligung einer Hinterbliebenenrente für die Klägerin ab (Bescheid vom 19. Februar 1969).

Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese zur Zahlung der Hinterbliebenenrente verurteilt (Urteil des SG Darmstadt vom 16. Februar 1970, Urteil des Hessischen LSG vom 21. Oktober 1971). Das Berufungsgericht ist von § 1265 Satz 2 RVO ausgegangen, wonach dann, wenn eine Witwe nicht vorhanden ist, die Fähigkeit des geschiedenen Mannes zur Erfüllung seiner Unterhaltspflicht unterstellt wird. Den Betrag des "angemessenen Unterhalts", durch den eine Unterhaltspflicht des Mannes begrenzt worden wäre, hat das LSG nicht, wie dies im allgemeinen geschieht, von dem Gesamtnettoeinkommen errechnet, das die Ehegatten zur Zeit der Scheidung hatten. Vielmehr hat das Berufungsgericht gemeint, daß der Satz des angemessenen Unterhalts niemals geringer anzusetzen sei als die Unterstützung, welche der geschiedenen Frau als Sozialhilfe zu gewähren wäre. Da der aus dem Einkommen beider Ehegatten auf die Klägerin entfallende Unterhaltsbetrag mit Sicherheit unter dem Sozialhilfesatz gelegen habe, sei er nicht maßgebend.

Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie ist der Ansicht, für den angemessenen Unterhalt der geschiedenen Frau sei nicht auf den Mindestbedarf abzuheben, der in den Richtsätzen des Sozialhilferechts anerkannt sei. Der Klägerin könnten nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 32, 197) nur ein Drittel bis drei Siebtel des Gesamteinkommens der Ehegatten zur Zeit ihrer Scheidung zugesprochen werden. Der danach zu berücksichtigende Betrag (ein Drittel von 439,- DM = 146,- DM) sei im wesentlichen von der Renteneinnahme (111,- DM) ausgefüllt worden. Als zu leistender Unterhalt wäre im Monat nur ein Rest von 35,- DM in Betracht gekommen. Eine solche Unterhaltsverpflichtung sei aber zu geringfügig, um den Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO zu rechtfertigen. Im übrigen sei die Klägerin nicht unterhaltsbedürftig gewesen; es sei ihr zuzumuten gewesen, daß sie durch Aufnahme einer Nebenbeschäftigung zur Bestreitung ihres Unterhalts selbst beigetragen hätte.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

Das Berufungsgericht ist zutreffend der Auffassung, daß der Unterhalt, den der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann der geschiedenen Frau nach § 58 Abs. 1 des Ehegesetzes (EheG) zu gewähren hat, stets den lebensnotwendigen Mindestbedarf der Frau umfaßt. Freilich wird die Unterhaltspflicht des Mannes auch in bezug auf dieses Minimum durch seine Leistungsfähigkeit, d.h. durch seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse begrenzt. Für diese Rechtsfolge ist allerdings der Begriff der Angemessenheit des Unterhalts nicht unmittelbar bedeutsam. Die Vorschrift des § 58 Abs. 1 Halbs. 1 EheG, wonach die Frau, die an der Scheidung keine oder nur die geringere Schuld trifft, Anspruch auf Unterhalt eines bestimmten Ausmaßes, nämlich auf den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten "angemessenen Unterhalt" hat, setzt die Sicherstellung des in Jedem Falle zu wahrenden Existenzminimums voraus oder schließt sie mit ein. Mit dem Begriff des angemessenen Unterhalts wird das Höchstmaß dessen gekennzeichnet, was der nach § 58 Abs. 1 EheG Verpflichtete zu erbringen hat (Reichsgerichtsräte-Kommentar - BGB - RGRK, 10. und 11. Aufl., 4. Band 3. Teil Anmerkung 26 zu § 58 Ehegesetz). Der Begriff stellt es - zum Unterschied von einem gegenwärtigen tatsächlichen Lebensbedarf des Berechtigten - auf die Lebensverhältnisse der geschiedenen Ehegatten zur Zeit der Scheidung ab. Der damit festgelegte Umfang des - normalen, "standesgemäßen" - Unterhalts soll nach oben begrenzt, durch spätere Einkommens- und Vermögensveränderungen, soweit sie im Augenblick der Scheidung nicht mit Sicherheit vorauszusehen waren, unberührt bleiben. Dieses Kriterium der Angemessenheit des Unterhalts wird indessen im Falle der Klägerin nicht erheblich.

In diesem Rechtsstreit geht es allein darum, ob der schuldig geschiedene Mann verpflichtet war, den zur Zeit seines Todes notwendigen Bedarf der Klägerin - ihren "notwendigen Unterhalt" (vgl. § 12 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG -, § 114 Abs. 1 Satz 1, § 850 d Abs. 1 Satz 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) - zu bestreiten. Dies ist im gegebenen Zusammenhang zu bejahen. Da eine Witwenrente nicht zu gewähren ist, kommt es nach § 1265 Satz 2 RVO auf das Leistungsvermögen des - an sich - unterhaltspflichtigen Mannes nicht an. Daraus folgt, daß unter den Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO die unterhaltsberechtigte Frau Hinterbliebenenrente zu erhalten hat, wenn sie zur Zeit des Todes des Versicherten entweder ihren angemessenen Unterhalt oder ihren notwendigen Lebensbedarf aus eigenen Kräften nicht oder nicht voll zu tragen vermochte. Hiervon mag lediglich der Fall auszuschließen sein, daß die ungedeckte Unterhaltslücke nur geringfügig war (vgl. BSG 22, 44; SozR Nr. 49 zu § 1265 RVO). Die aus Satz 2 des § 1265 RVO hergeleitete Rechtsfolge wird der mit dieser Vorschrift verfolgten Absicht des Gesetzgebers gerecht. Sofern eine Konkurrenz mit einer Witwenrente ausscheidet, sollte der Anspruch der schuldlos geschiedenen Frau auf Hinterbliebenenrente aus der Unterhaltsersatzfunktion gelöst werden. Auf das Bestehen einer konkreten Unterhaltsverpflichtung des Mannes sollte es nicht mehr ankommen (Schriftlicher Bericht des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik, zu Drucksache IV/3233 S. 6).

Dagegen läßt § 1265 Satz 2 RVO das Erfordernis, daß die geschiedene Frau beim Tode des Versicherten unterhaltsbedürftig gewesen sein muß, unangetastet (BSG SozR Nr. 31 zu § 1265 RVO). Zu dieser Frage ist in den Gründen des angefochtenen Urteils keine Stellung genommen worden. Der Pflicht zur Untersuchung dieser Seite des Sachverhalts war das Berufungsgericht nicht deshalb enthoben, weil die Klägerin zur maßgeblichen Zeit bereits 62 Jahre alt war, das vorzeitige Altersruhegeld aus der Arbeiterrentenversicherung bezog und nach ärztlicher Einschätzung nur noch körperlich leichte im Sitzen zu verrichtende Teilzeitarbeiten für 4 1/2 bis 6 Stunden täglich verrichten konnte. Aus diesen Gründen mochten die Aussichten einer Erwerbsmöglichkeit für die Klägerin nur sehr gering zu veranschlagen sein. Es mochte auch der durchschnittliche Reinertrag, den eine der Klägerin angemessene Arbeit hätte bringen können, so niedrig gelegen haben, daß er nicht ins Gewicht fiel. Aus Rechtsgründen ist aber nicht von vornherein auszuschließen, daß die Klägerin ihre Arbeitskraft zu nutzen und sich selbst die zum Lebensbedarf benötigten Mittel zu beschaffen hatte. Da sie vor und während ihrer Ehe erwerbstätig gewesen war, konnte ihr eine Berufsarbeit auch nach der Scheidung nicht als unangemessen erscheinen. Die Tatsache des Bezugs der vorgezogenen Altersrente und ihr fortgeschrittenes Lebensalter waren jedenfalls keine Gegebenheiten, die sie im Verhältnis zu ihrem geschiedenen Mann davon entbanden, für sich selbst nach Möglichkeit zu sorgen. Eine feste Altersgrenze gibt es im zivilen Unterhaltsrecht nicht (vgl. Brühl, Unterhaltsrecht 2. Aufl., 119).

In bezug auf die Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin zur Zeit des Todes ihres geschiedenen Mannes ist der Sachverhalt noch aufzuklären. Damit dies geschehen kann, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1669364

NJW 1973, 388

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