Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitgeberbegriff iS von § 141b AFG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes, welcher einem Sozialleistungsträger erteilt wurde, ist ohne die besonderen Voraussetzungen des § 45 Abs 4 iVm Abs 2 S 3 SGB 10 zulässig. Jedoch steht die Rücknahme im pflichtgemäßen Ermessen.

2. Ein Bescheid der Bundesanstalt für Arbeit über die Zahlung von Versicherungsbeiträgen nach § 141n AFG darf im allgemeinen nicht zurückgenommen werden, soweit ein Anspruch auf Erstattung der bereits entrichteten Beiträge ausgeschlossen ist.

3. Auch die Erstattung der von der Bundesanstalt für Arbeit nach § 141n AFG gezahlten Beiträge richtet sich ausschließlich nach § 26 SGB 4.

 

Orientierungssatz

1. Eine erweiternde Auslegung des Arbeitgeberbegriffes in § 141b AFG, durch welche zusätzlich Personen eingeschlossen werden, die haftungsrechtlich von dem Arbeitnehmer in Anspruch genommen werden können, entspricht nicht dem Schutzzweck der Vorschrift.

2. Die Interessenabwägung des § 45 Abs 2 SGB 10 findet dann nicht statt, wenn es sich auch bei dem Begünstigten um einen Leistungsträger handelt, der nicht seine eigenen fiskalischen, sondern vielmehr ebenfalls in Erfüllung öffentlicher Aufgaben die Interessen der Öffentlichkeit wahrnimmt.

 

Normenkette

SGB 10 § 45 Abs 4 S 1, § 45 Abs 2 S 3, § 45 Abs 1, § 50 Abs 1; SGB 4 § 26 Abs 1; AFG § 141n Abs 1 S 1, § 141b Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 13.12.1985; Aktenzeichen L 6 Ar 32/85)

SG Speyer (Entscheidung vom 16.09.1982; Aktenzeichen S 1 Ar 261/81)

 

Tatbestand

Unter den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte berechtigt ist, Bescheide aus den Jahren 1975 und 1976 aufzuheben, mit welchen sie Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung einschließlich Zinsen gemäß § 141n des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) in Höhe von insgesamt knapp 30.000,-- DM bewilligte.

Die Fa. K.    F.         KG stellte ihren Betrieb im Jahre 1968 ein; im Februar 1969 ist die Firma erloschen. Anträge auf Eröffnung des Konkursverfahrens wurden zurückgenommen. Ein im Jahre 1975 erneut gestellter Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der Fa. F.         KG wurde von dem zuständigen Amtsgericht am 21. Januar 1982 als unzulässig zurückgewiesen; den erneuten Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen des persönlich haftenden Gesellschafters K.    F.         wies das zuständige Amtsgericht im Oktober 1975 mangels Masse ab.

Dem Antrag der Klägerin, rückständige Pflichtbeiträge einschließlich Zinsen zu zahlen, entsprach die Beklagte mit ihren Bescheiden vom 24. November 1975 und 13. Februar 1976. Mit Bescheid vom 26. Oktober 1981 nahm die Beklagte die genannten Bewilligungsbescheide über die Gewährung der Pflichtbeiträge zurück. Die Entrichtung der Beiträge im Rahmen der Konkursausfallgeldregelung sei nicht möglich gewesen, da nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über Konkursausfallgeld (Kaug) am 20. Juli 1974 kein rechtserhebliches Insolvenzereignis stattgefunden habe. Die Aufhebung der Leistungsbescheide erfolge vorsorglich, damit die in § 45 Abs 4 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) genannte Frist nicht versäumt werde. Über die Erstattungspflicht werde beim Vorliegen weiterer Voraussetzungen ein gesonderter Bescheid erteilt werden.

Das Sozialgericht (SG) Speyer hat die Klage durch Urteil vom 16. September 1982 abgewiesen.

Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz zunächst durch Urteil vom 13. Mai 1983 zurückgewiesen. Das Urteil des LSG ist vom erkennenden Senat wegen unterlassener notwendiger Beiladung aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen worden. Nach erfolgter Beiladung hat das LSG nunmehr durch Urteil vom 13. Dezember 1985 die Berufung der Klägerin erneut zurückgewiesen. Die Rücknahme der Bewilligungsbescheide aus den Jahren 1975 bzw 1976 sei mit Wirkung für die Vergangenheit zulässig gewesen; die Klägerin habe die Rechtswidrigkeit dieser Bescheide gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt. Insolvenzereignisse, welche vor dem 20. Juli 1974 (Inkrafttreten des Kaug) stattgefunden hätten, führten nicht zur Leistungsgewährung nach § 141n AFG. Dies hätte die Klägerin zur Zeit der Stellung ihrer Leistungsanträge im November 1975 bzw Februar 1976 erkennen müssen. Die Kommanditgesellschaft sei wie eine juristische Person Arbeitgeberin und demgemäß zur Abführung der Pflichtbeiträge verpflichtet gewesen. Ein Insolvenzereignis sei bei ihr nach dem 20. Juli 1974 nicht eingetreten. Wenn die Klägerin dennoch und zudem unklare Anträge gestellt habe, habe sie die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße außer acht gelassen. Die Aufhebung der Leistungsbescheide sei innerhalb der Einjahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 erfolgt. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 45 SGB 10. Ihr Irrtum, die Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der K. F.    KG sei mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse abgewiesen worden, rechtfertige nicht die Annahme, sie habe gegenüber der Beklagten die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße außer acht gelassen. Weiterhin verkenne das LSG § 45 Abs 1 SGB 10 insofern, als es annehme, die Beklagte habe ihr Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt. Da Erstattungen zwischen Versicherungsträgern lediglich zu Vermögensverschiebungen zwischen öffentlichen Haushalten führten, deren Finanzierung im wesentlichen von den gleichen Mitgliedergruppen durch Beitragszahlungen erfolge, lasse sich im allgemeinen kein Interesse dafür feststellen, die Rücknahme eines Verwaltungsaktes und eine Rückabwicklung der Begünstigung zwischen den verschiedenen Solidargemeinschaften vorzunehmen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Dezember 1985 abzuändern und den Bescheid der Beklagten vom 27. (richtig 26.) Oktober 1981 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Zwischen Sozialleistungsträgern müsse die Rückabwicklung rechtswidriger Vermögensverschiebungen der Regelfall sein, ohne daß eine Berufung auf Vertrauensschutz erfolgen könne.

Die Beigeladenen zu 1) und 2) beantragen,

das Urteil des Landessozialgerichtes Rheinland-Pfalz vom 13. Dezember 1985 abzuändern und den Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 1981 aufzuheben.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben.

Die Revision der Klägerin führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Die Feststellungen des LSG lassen eine endgültige Entscheidung nicht zu.

Mit dem in dieser Sache ergangenen Urteil des Senats vom 12. Dezember 1984 ist davon auszugehen, daß die vom SG nicht zugelassene Berufung zulässig ist und daß die beklagte B.        seinerzeit gegenüber der Klägerin durch Verwaltungsakte über die nach § 141n AFG zu zahlenden Beiträge entschieden hat.

Die Beseitigung der Bestandskraft der Verwaltungsakte vom 24. November 1975 und vom 13. Februar 1976 richtet sich nach den Vorschriften des SGB 10, obwohl sie vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erlassen wurden (Art 2 § 40 Abs 2 SGB 10). Die Voraussetzungen für die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte hat der Gesetzgeber in § 45 SGB 10 bestimmt. Diese Vorschrift setzt zunächst voraus, daß der begünstigende Verwaltungsakt rechtswidrig ist, § 45 Abs 1 SGB 10. Die Bewilligungsbescheide der Beklagten aus den Jahren 1975, 1976 waren rechtswidrig; denn seinerzeit fehlten die Voraussetzungen, unter denen nach § 141n AFG Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und zur gesetzlichen Rentenversicherung sowie Beiträge zur Beklagten zu entrichten waren. Nach den von dem LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen, welche nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen angefochten sind, traten nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über Kaug vom 17. Juli 1974, also nach dem 20. Juli 1974, irgendwelche Insolvenzereignisse iS von § 141b AFG in der mit Wirkung vom 20. Juli 1974 geänderten Fassung (Art 27 des Einführungsgesetzes zum Einkommensteuerreformgesetzes vom 21. Dezember 1974 - BGBl I 3656 ff, 3668 -) bei der beitragspflichtigen Arbeitgeberin, der KG, nicht ein. Das Insolvenzereignis bei dem persönlich haftenden Gesellschafter K.    F. ereignete sich dagegen zwar erst im Jahre 1975. Dieses muß jedoch außer Betracht bleiben, weil er nicht Arbeitgeber iSv § 141b AFG war. Eine erweiternde Auslegung des Arbeitgeberbegriffes in dieser Norm, durch welche zusätzlich Personen eingeschlossen werden, die haftungsrechtlich von dem Arbeitnehmer in Anspruch genommen werden können, entspricht nicht dem Schutzzweck der Vorschrift. Die Vorschrift des § 141b AFG soll den Arbeitnehmern einen schnellen und damit stärkeren Schutz verschaffen als dies durch eine Verweisung auf die zusätzliche Durchgriffshaftung des persönlich haftenden Gesellschafters geschehen könnte. Diese würde zu einer nicht gewollten Verschlechterung der Position des Arbeitnehmers führen, weil vor einer möglichst schnellen Zahlung des Kaug zunächst noch ein Insolvenzereignis bei dem Haftungsschuldner treten müßte (vgl dazu BSG SozR 4100 § 141 und Nr 8; SozR 7610 § 613a Nr 5). Die Leistungsbescheide der Beklagten waren daher wegen des Fehlens eines rechtserheblichen Insolvenzereignisses rechtswidrig. Der Senat brauchte infolgedessen nicht die Frage zu prüfen, ob die Beiträge überhaupt für Beschäftigungsverhältnisse vor Inkrafttreten des Gesetzes über Kaug von der Beklagten hätten entrichtet werden dürfen.

Die Rücknahme von begünstigenden Verwaltungsakten ist nach § 45 SGB 10 allerdings von weiteren Voraussetzungen abhängig. Sollen, wie hier, Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, müssen die in § 45 Abs 4 SGB 10 aufgestellten Regeln angewendet werden. Danach dürfen Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit nur - die 2. Alternative scheidet hier aus - in den Fällen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB 10 zurückgenommen werden. Diese Vorschrift ist Ausdruck der allgemeinen Zielsetzung des Gesetzgebers in § 45 SGB 10, wonach ein vorhandenes Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand eines Verwaltungsaktes nur unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Beseitigung des Verwaltungsaktes unbeachtet bleiben darf. Die Vorschrift soll dem besseren Rechtsverständnis des Bürgers dienen, seine Rechtsstellung und die Rechtssicherheit fördern (Begründung zum Entwurf des SGB 10, BT-Drucks Nr 8/2034 S 29). Der Grundsatz der Rechtmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit allen Verwaltungshandelns erfordert zwar grundsätzlich, daß rechtswidrige Verwaltungsakte beseitigt werden. Dem steht gegenüber, daß der Staatsbürger auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns grundsätzlich vertrauen darf. Um diesen Widerstreit zu lösen, hat im Einzelfall die beschriebene Interessenabwägung zu erfolgen. Geht es dabei um die Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit, müssen die besonders strengen Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB 10 vorliegen (vgl BSG SozR 1300 § 45 Nr 9).

Die vom Gesetzgeber verlangte Interessenabwägung zwischen dem Vertrauen des einzelnen Bürgers und dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme eines Verwaltungsaktes findet ausnahmsweise dann nicht statt, wenn es sich auch bei dem Begünstigten um einen Leistungsträger handelt, der nicht seine eigenen fiskalischen, sondern vielmehr ebenfalls in Erfüllung öffentlicher Aufgaben die Interessen der Öffentlichkeit wahrnimmt. So liegen die Dinge hier. Obwohl die Beklagte der Klägerin gegenüber entscheidungsbefugt war, ist auch die Klägerin in Erfüllung öffentlich-rechtlicher Aufgaben tätig geworden.

Der Gesetzgeber hat den hier gegebenen Fall, daß sowohl auf Seiten des Begünstigten als auch auf Seiten des Leistungserbringers öffentliche Aufgaben und Interessen wahrgenommen werden, in § 45 SGB 10 erkennbar nicht bedacht. Dies ergibt sich insbesondere aus der Fassung des hier interessierenden Absatzes 2 Satz 3. Darin wird die Befugnis zur Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit von näher beschriebenen subjektiven Merkmalen auf Seiten des Begünstigten abhängig gemacht, wie sie bei einem Sozialrechtsträger gewöhnlich nicht vorliegen oder jedenfalls kaum feststellbar sind.

Geht es in § 45 Abs 2 SGB 10 also dem Grunde nach um eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse einerseits und dem Vertrauensschutz des einzelnen Bürgers andererseits, und hat der Gesetzgeber in Satz 3 dieser Vorschrift subjektive Voraussetzungen auf Seiten des Bürgers für die Rücknahme von Verwaltungsakten mit Wirkung für die Vergangenheit gefordert, so leuchtet ohne weiteres ein, daß diese Vorschrift im Verhältnis zwischen Sozialleistungsträgern im allgemeinen nicht angewendet werden kann. Die durch die planwidrige Unvollständigkeit des § 45 Abs 4 iVm Abs 2 SGB 10 entstandene Gesetzeslücke ist mit Hilfe der den §§ 44 ff SGB 10 zu entnehmenden Grundsätze sowie des durch sie verfolgten Zwecks auszufüllen. Die genannten Vorschriften dienen in ihrer Gesamtheit der Herstellung materieller Gerechtigkeit. Deren Verwirklichung erfährt dann eine Einschränkung, wenn überwiegende schutzwürdige Interessen des Bürgers es erfordern. Eine solche Einschränkung bei der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit ist im allgemeinen nicht erforderlich und geboten, wenn es auf beiden Seiten darum geht, daß die Interessen der Öffentlichkeit durch einen Träger von Sozialleistungen wahrgenommen werden. Vielmehr erscheint es notwendig und geboten, daß deren Interessen in der Regel uneingeschränkt entsprechend der vom Gesetzgeber geschaffenen Rechtslage gewahrt werden. Gründe dafür, daß die wirkliche materielle Rechtslage außer Betracht zu bleiben hätte, sind in solchen Fällen im allgemeinen nicht erkennbar. Daher ist es notwendig, § 45 Abs 4 SGB 10 dahin auszulegen, daß die Rücknahme von Verwaltungsakten mit Wirkung für die Vergangenheit im allgemeinen nur dann entsprechend Satz 1 dieser Vorschrift eingeschränkt ist, wenn es sich bei dem Begünstigten um eine natürliche Person oder jedenfalls nicht um einen Sozialleistungsträger handelt.

SG und LSG haben danach im Ergebnis zutreffend angenommen, daß die Voraussetzungen gegeben waren, unter denen die Beklagte ihren Bescheid vom 26.Oktober 1981 erteilen, dh also die Bescheide aus den Jahren 1974 und 1975 grundsätzlich aufheben konnte. Diese Gerichte haben allerdings nicht beachtet, daß die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB 10 eine Ermessensentscheidung ist, wie sich dies bereits aus dem Wortlaut des Absatzes 1 Satz 1 ergibt. Danach "darf" ein solcher Verwaltungsakt beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen zurückgenommen werden. Infolgedessen hat der Sozialleistungsträger bei seiner Rücknahmeentscheidung sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und dabei die Grenzen des Ermessens einzuhalten (BSG SozR 1300 § 45 Nrn 12 und 19). Die Behörde muß bei der Ermessensentscheidung alle diejenigen Erwägungen und Gesichtspunkte beachten, welche trotz der vorhandenen Aufhebbarkeit der Bescheide für oder gegen die Rücknahme derselben mit Wirkung für die Vergangenheit sprechen. Sie darf die an sich bestandskräftigen Verwaltungsakte nur zurücknehmen, wenn dies dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entspricht.

Die Beklagte hat bei Erteilung des hier angefochtenen Bescheides vom 26. Oktober 1981 überhaupt keine Ermessensentscheidung getroffen, wie der Wortlaut des Bescheides zeigt. Danach ist in dem Rücknahmebescheid lediglich ausgeführt, der Aufhebungsbescheid ergehe vorsorglich, damit keine Frist versäumt werde. Damit hat die Beklagte aber erkennbar die Prüfung der Frage unterlassen, ob und aus welchen Gründen gegebenenfalls die an sich zulässige Rücknahme der Bewilligungsbescheide aus den Jahren 1974, 1975 erfolgen sollte. Ihr Bescheid entspricht insoweit nicht dem § 35 Abs 1 Satz 2 SGB 10.

Die Ausübung des Ermessens nach § 45 Abs 1 SGB 10 war auch nicht deshalb entbehrlich, weil auch der Adressat des Rücknahmebescheides ein Leistungsträger war. Wenn in solchen Fällen auch im allgemeinen die Herstellung des rechtmäßigen Zustandes im Vordergrund zu stehen hat, muß ein Leistungsträger gegenüber einem anderen Träger von Sozialleistungen nicht ausnahmslos von dem gegebenen Rücknahmerecht Gebrauch machen. Er hat hierbei vielmehr alle maßgeblichen Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen. Solche Erwägungen können nämlich auch maßgebend und bedeutsam werden, wenn der Begünstigte ein Träger öffentlicher Verwaltung ist (so - allerdings ohne Begründung - im Ergebnis auch OVG Rheinland-Pfalz DVBl 1988, 455 = DÖV 1988, 309). Das Absehen von der Rücknahme früherer Leistungsbescheide wäre beispielsweise dann vernünftig, wenn der Vollzug der Rücknahme angesichts des damit verbundenen Verwaltungsaufwandes unangemessen wäre. Das Absehen von der Rücknahme früherer Leistungsbescheide wäre aber beispielsweise auch dann ermessensgerecht oder sogar geboten, wenn der Begünstigte die erbrachte Leistung nicht zu erstatten brauchte. Es ist nämlich davon auszugehen, daß die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte nach § 45 SGB 10 nicht zweckfrei erfolgen soll. Vielmehr wird dadurch in erster Linie die Erstattung der zu Unrecht erbrachten Leistung vorbereitet. Da es im vorliegenden Falle um die Erstattung zu Unrecht entrichteter Beiträge geht, richtet sich der Erstattungsanspruch - anders als im Falle zu Unrecht erbrachter sonstiger Leistungen - nicht nach § 50 SGB 10, sondern nach § 26 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB 4). Nach dieser Sondervorschrift ist die Beitragserstattung von einschränkenden Voraussetzungen abhängig. Hat nämlich der Versicherungsträger bis zur Geltendmachung des Erstattungsanspruchs aufgrund der Beiträge oder für den Zeitraum, für den die Beiträge zu Unrecht entrichtet worden sind, Leistungen erbracht oder zu erbringen, ist die Erstattung nach § 26 Abs 1 SGB 4 ausgeschlossen. In diesem Falle wäre ein Ermessen der Beklagten, von der Aufhebung der damals erteilten Leistungsbescheide Gebrauch zu machen, praktisch nicht vorhanden. Die Aufhebung dieser Bescheide könnte nämlich ihren Zweck, die Vorbereitung der Erstattung der zu Unrecht gezahlten Beiträge, nicht erreichen. Damit wäre das Ermessen der Beklagten für die Rücknahme der Leistungsbescheide praktisch auf Null geschrumpft; sie müßte es bei den begünstigenden Verwaltungsakten belassen.

Ob die genannten Voraussetzungen hier erfüllt sind, läßt sich jedoch nicht abschließend entscheiden. Das LSG hat nämlich keinerlei Feststellungen zu der Frage getroffen, ob und bei welchen Versicherten im vorliegenden Falle eine Erstattung der zu Unrecht entrichteten Beiträge nach § 26 SGB 4 in Betracht kommt. Damit aber ist auch die Frage noch offen, ob und für welche Beiträge die Beklagte bei der Erteilung des nunmehr angefochtenen Bescheides überhaupt zur Ausübung von Ermessen verpflichtet war. Soweit letzteres bejaht werden muß, wäre - wie oben bereits ausgeführt ist - schon wegen fehlender Ermessensanwendung von der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auszugehen. Demgegenüber ist die Aufhebung der früheren Leistungsbescheide unnachholbar rechtswidrig, soweit eine Beitragserstattung ausgeschlossen ist. In diesem zuletzt genannten Fall bliebe es damit bei dem begünstigenden Verwaltungsakt, während bei fehlender Ermessensanwendung eine Nachholung desselben und damit eine erneute Bescheidung nicht ausgeschlossen ist.

Das LSG wird die erforderlichen Feststellungen zu treffen und dabei zu prüfen haben, ob und in welchem Umfange die Erstattung der zu Unrecht erbrachten Leistungen nach der Vorschrift des § 26 Abs 1 SGB 4 überhaupt noch gefordert werden kann. Zu diesem Zwecke wird es feststellen müssen, ob die durch die Beitragszahlung begünstigten Versicherungsträger für die betreffenden Versicherten aufgrund der Beiträge bis zur Geltendmachung des Erstattungsanspruchs oder für den Zeitraum, für den die Beiträge seinerzeit entrichtet wurden, Leistungen erbracht oder zu erbringen haben. Wenn und soweit die Voraussetzungen für die Erstattung der zu Unrecht entrichteten Beiträge nach § 26 Abs 1 SGB 4 vorliegen, war überhaupt nur die Aufhebung der Leistungsbescheide aus dem Jahre 1975 und 1976 nach § 48 SGB 10 möglich. Sie müßte dann jedoch ermessensgerecht erfolgen.

Das LSG wird auch über die Kosten für das Revisionsverfahren entscheiden müssen.

 

Fundstellen

BSGE, 24

NVwZ-RR 1990, 338

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