Entscheidungsstichwort (Thema)
Witwenrente. Tod an Schädigungsfolgen. Beweisnotstand. unterlassene Obduktion. Beweisvereitelung. Beweissicherung. Beweislast
Leitsatz (amtlich)
Beweisvereitelung liegt nur vor, wenn der beweisbelastete Beteiligte durch pflichtwidriges Handeln oder Unterlassen eines anderen Beteiligten in Beweisnot gerät. Der Beweis ist nicht vereitelt, wenn der beweisbelastete Beteiligte ihn selbst hätte sichern können.
Normenkette
ZPO § 444; BVG § 38 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 09.09.1988; Aktenzeichen S 29b (35a) V 113/85) |
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.11.1991; Aktenzeichen L 6 V 126/88) |
Tatbestand
Die Klägerin verlangt Witwenrente nach § 38 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Streitig ist, ob der Klägerin eine Beweiserleichterung für die Todesursache zugute kommt, weil es der Beklagte unterlassen hat, die Leiche des Ehemannes zu obduzieren.
Die Klägerin ist Witwe des am 28. August 1984 verstorbenen Beschädigten M. H. (H.). Bei ihm war als Schädigungsfolge zuletzt eine seit 1959 inaktive Lungentuberkulose mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH anerkannt. Als Todesursache wurde Herzstillstand als Folge eines Re-Infarktes (nach Hinterwandinfarkt 1977) bescheinigt. Der Beklagte teilte der Klägerin am 3. September 1984 mit, daß er ihrer Anregung vom selben Tage, eine Obduktion vorzunehmen, nicht folge und lehnte den Antrag auf Witwenrente ab (Bescheid vom 25. September 1984; Widerspruchsbescheid vom 10. Mai 1985). Der durch Re-Infarkt herbeigeführte Tod des H. habe nicht im Zusammenhang mit der als Schädigungsfolge anerkannten Lungentuberkulose gestanden.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Düsseldorf abgewiesen (Urteil vom 9. September 1988). Der ursächliche Zusammenhang zwischen Tod und Schädigungsfolge sei möglich, er sei aber nicht wahrscheinlich. Der vom SG gehörte Sachverständige Prof. Dr. S. hatte auf Röntgenaufnahmen eine zumindest von 1972 an zunehmende Destruktion der fünften und später auch der sechsten Rippe erkannt und dies als tuberkulösen Prozeß eingeordnet, dessen mögliche Beteiligung am Re-Infarkt aber nur durch eine Obduktion hätte geklärt werden können. Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen zurückgewiesen (Urteil vom 5. November 1991). Auch nach dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. bestehe zwischen dem Tod des H. und dem Versorgungsleiden kein wenigstens wahrscheinlicher Zusammenhang. Die von der Klägerin gewünschte Beweislastumkehr finde nicht statt. Der Beklagte habe durch Unterlassen der Obduktion wohl objektiv seine Fürsorgepflicht verletzt. Die Klägerin sei aber nicht gehindert gewesen, die Obduktion selbst durchführen zu lassen.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision macht die Klägerin geltend, sie sei unverschuldet in nicht mehr behebbare Beweisnot geraten, weil der Beklagte zumindest fahrlässig die Obduktion unterlassen habe. Wegen dieser Beweisvereitelung kehre sich die Beweislast um, zumindest müsse das Verhalten des Beklagten bei der Beweiswürdigung erleichternd für die Klägerin berücksichtigt werden - etwa im Wege des Anscheinsbeweises -, so daß Witwenrente zu gewähren sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. November 1991 sowie das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 9. September 1988 zu ändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 25. September 1984 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1985 zu verurteilen, der Klägerin Witwenrente nach § 38 BVG zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Obduktion sei nicht schuldhaft unterlassen worden. Deshalb sei die Beweislast nicht umzukehren. Ebensowenig kämen aus diesem Grunde Beweiserleichterungen in Betracht.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das LSG hat einen Anspruch auf Witwenrente nach § 38 Abs 1 BVG zu Recht verneint, weil nicht hat festgestellt werden können, daß H. an den Folgen einer Schädigung gestorben ist. Die Beweislast kehrt sich wegen der unterlassenen Obduktion nicht um.
Die Rechtsvermutung des § 38 Abs 1 Satz 2 BVG, wonach der Tod als Folge der Schädigung gilt, wenn das Todesleiden rechtsverbindlich als Schädigungsfolge anerkannt war, kommt der Klägerin nicht zugute; denn unstreitig ist H. nicht an dem zuletzt noch anerkannten Versorgungsleiden (inaktive Lungentuberkulose) verstorben.
Ein Anspruch auf Witwenrente folgt auch nicht aus § 38 Abs 1 Satz 1 BVG. Nach dieser Bestimmung besteht Anspruch auf Witwenrente, wenn der Beschädigte an den Folgen einer Schädigung gestorben ist. Das ist der Fall, wenn das Todesleiden zwar eine Schädigungsfolge ist, aber als solche noch nicht oder nicht mehr anerkannt war. Das LSG hat es zu Recht nicht als bewiesen angesehen, daß die Tuberkulose wieder aktiv geworden war und als Todesleiden hätte in Betracht kommen können. Denn die Frage, ob eine reaktivierte Tuberkulose vorlag und ursächlich für den Herzinfarkt und das Todesleiden des H. gewesen ist, hätte sich nur durch die Ergebnisse einer Obduktion beantworten lassen. Da die Obduktion unterblieben und nicht nachzuholen ist, ließ sich der Sachverhalt nicht mehr aufklären. Das geht zu Lasten der Klägerin.
Daran ändert auch der Umstand nichts, daß der Beklagte trotz entsprechender Anregung der Klägerin wenige Tage nach dem Tod des H. dessen Leiche nicht hat obduzieren lassen. Dieses Verhalten der Versorgungsverwaltung ist kein Grund für eine Beweislastumkehr oder auch nur für eine Beweiserleichterung zugunsten der Klägerin. Die Entlastung eines beweisbelasteten Beteiligten ist nach den aus § 444 der Zivilprozeßordnung (ZPO) entwickelten Rechtsgrundsätzen nur möglich, wenn dem durch die Beweislastverteilung begünstigten Beteiligten eine Beweisvereitelung vorzuwerfen ist. Nach § 444 ZPO können die Behauptungen des Gegners über die Beschaffenheit und den Inhalt einer Urkunde als bewiesen angesehen werden, wenn die Urkunde von einer Partei in der Absicht, ihre Benutzung dem Gegner zu entziehen, beseitigt oder zur Benutzung untauglich gemacht worden ist. Den hierin zum Ausdruck kommenden Grundgedanken hat die Rechtsprechung über die an sich geforderte Arglist hinaus auch auf Fälle fahrlässigen Handelns und auch auf andere Beweismittel als Urkunden erweitert (Hartmann in Baumbach, ZPO, 51. Aufl 1993, § 444 RdNrn 2 bis 4). Es genügt, daß dem beweispflichtigen Beteiligten die an sich mögliche Beweisführung durch schuldhaftes Handeln unmöglich gemacht wird. Auch in den von dem Amtsermittlungsgrundsatz beherrschten Prozeßordnungen ist dieser Grundgedanke mit seinen Erweiterungen anwendbar (Hartmann aaO RdNr 5; BSG SozR § 128 SGG Nr 60; BSGE 24, 25, 27 f; BVerwGE 10, 270, 271 f). Es kann unterstellt werden, daß eine Beweiserleichterung auch dann in Betracht kommt, wenn eine Beweisführung nicht durch aktives Handeln, sondern durch pflichtwidriges Unterlassen verhindert worden ist. Das ist besonders in Verfahren von Bedeutung, in denen wie hier der durch die Beweislastverteilung begünstigte Beteiligte kraft Gesetzes verpflichtet ist, auch im Interesse des anderen Beteiligten an der Wahrheitsfindung im Prozeß mitzuwirken und schon vor dem Prozeß notwendige Ermittlungen durchzuführen.
Unabdingbare Voraussetzung für eine Beweiserleichterung ist aber, daß das pflichtwidrige Handeln oder Unterlassen den beweisbelasteten Beteiligten in eine Beweisnot, dh in eine ausweglose Lage gebracht hat. Nur dann kann von einer Vereitelung gesprochen werden. Das ist hier nicht der Fall. Die Klägerin ist zwar heute in Beweisnot, weil nur durch eine heute nicht mehr mögliche Obduktion die nach Prof. Dr. S. mögliche und für den Anspruch der Klägerin günstige Krankheitsentwicklung des H. hätte nachgewiesen werden können. Die Klägerin hatte aber selbst die Möglichkeit, eine Obduktion rechtzeitig zu veranlassen. Sie hatte sogar die Möglichkeit, ein Beweissicherungsverfahren nach § 76 SGG durchführen zu lassen. Gerade die Obduktion ist eines der Beweismittel, für die § 76 SGG gedacht ist (Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, § 76 RdNr 5; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, § 76 RdNr 2).
Abgesehen davon hat die Versorgungsverwaltung durch die Ablehnung der Obduktion auch nicht ihre Ermittlungspflicht verletzt. Für die Ermittlungspflicht der Behörde im Verwaltungsverfahren nach § 20 Abs 1 Satz 2 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) gelten im wesentlichen die gleichen Grundsätze wie für die Ermittlungspflicht des Gerichts nach § 103 SGG. Das Ausmaß der Ermittlungen steht im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde (Hauck/Haines, SGB X, § 20 RdNr 6). Die Behörde bestimmt mithin Art und Umfang der Ermittlungen. Bei ihren Nachforschungen hat sie sich allein an den Notwendigkeiten des jeweiligen Sachverhalts zu orientieren. Durch Anträge oder Anregungen der Beteiligten ist sie nicht gezwungen, auch in unerhebliche Richtungen Prüfungen vorzunehmen. Innerhalb dieser Grenzen hat der Beklagte den Sachverhalt hier vollständig ermittelt. Eine Obduktion brauchte er nicht vornehmen zu lassen, weil es an jedem Anhaltspunkt dafür fehlte, daß der Tod mit einer Schädigungsfolge zusammenhängen könnte. Hinweise darauf hat erst das drei Jahre später erstellte Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. erbracht.
Anders als von der Klägerin angenommen, könnte ein für sie günstiges Ergebnis auch durch Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises nicht gewonnen werden. Diese Grundsätze knüpfen an einen typischen, erfahrungsgemäßen Geschehensablauf an. Beweiserleichterungen iS des Anscheinsbeweises scheiden schon dann aus, wenn mehrere gleichwertige Möglichkeiten in Betracht kommen. Nicht einmal dieser Fall liegt hier vor. Der Sachverständige Prof. Dr. S. hat vielmehr den ursächlichen Zusammenhang zwischen Coronarsklerose und Todesleiden für wahrscheinlicher gehalten, als die erst von ihm diskutierte Möglichkeit von Auswirkungen der wieder aktiv gewordenen Tuberkulose auf den Herzinfarkt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 927612 |
NJW 1994, 1303 |
Breith. 1994, 471 |