Entscheidungsstichwort (Thema)
Internierung ärztliche Behandlung. notwendige. Unterlassen. Schädigung. Kausalität. haftungsbegründende. Umkehr der Beweislast. Arzthaftungsrecht
Leitsatz (amtlich)
Ob das Unterlassen notwendiger ärztlicher Behandlung eine Schädigung zur Folge hat, ist im Versorgungsrecht unter Beachtung der Rechtsprechung zu beurteilen, die von der Zivilgerichtsbarkeit zum Arzthaftungsrecht entwickelt worden ist.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 3 S. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 18.10.1990; Aktenzeichen L 7 V 1677/88) |
SG Heilbronn (Entscheidung vom 20.07.1988; Aktenzeichen S 1 V 524/86) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Oktober 1990 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die 1933 in G. im Wolgagebiet in der UdSSR als Volksdeutsche geborene Klägerin siedelte im Dezember 1977 in die Bundesrepublik über. Im Februar 1978 beantragte sie als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Schwerhörigkeit anzuerkennen und Versorgungsleistungen zu gewähren. Sie sei, wie alle Volksdeutschen im Jahre 1941 aufgrund des Erlasses des Obersten Sowjet vom 28. August 1941 mit ihrer Familie von sowjetischen Truppen nach Sibirien verschleppt worden. Dort habe sie sich 1943 eine Erkrankung beider Ohren zugezogen, die ärztlich nicht habe behandelt werden können, weil die sowjetischen Behörden verboten hätten, das Dorf zu verlassen. Auf dem rechten Ohr sei sie dann 1944 völlig ertaubt und auf dem linken schwerhörig geworden. Der Antrag wurde abgelehnt, weil eine Internierung iS des § 1 Abs. 2c BVG nicht vorgelegen habe (Bescheid vom 15. Mai 1981; Widerspruchsbescheid vom 9. März 1983). Eine medizinische Sachaufklärung fand nicht statt.
Im April 1985 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Internierungsbegriff einen Zugunstenbescheid. Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 21. Mai 1985 ab, weil keine neuen Gesichtspunkte oder rechtserheblichen Tatsachen vorgebracht worden seien. Den Widerspruch der Klägerin wies er zurück (Widerspruchsbescheid vom 12. März 1986).
Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Heilbronn vom 20. Juli 1988). Die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 18. Oktober 1990 zurückgewiesen. Die Klägerin sei in Sibirien wohl interniert gewesen. Darauf komme es aber nicht an, weil ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den dargelegten schädigenden Einflüssen, der fehlenden ärztlichen Hilfe in den Jahren 1943/44 und der gesundheitlichen Schädigung der Klägerin nicht wahrscheinlich sei. Wahrscheinlichkeit bedeute, daß unter Berücksichtigung der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen den behaupteten ursächlichen Zusammenhang spreche und die für den Kausalzusammenhang sprechenden Umstände so gewichtig seien, daß ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausschieden. Ein in diesem Sinne wahrscheinlicher Kausalzusammenhang habe sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. R. nicht feststellen lassen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 1 Abs. 3 BVG und des § 44 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X). Sie macht geltend, nach § 1 Abs. 3 BVG genüge zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei der ursächliche Zusammenhang wahrscheinlich, wenn mehr dafür als dagegen spreche. Das LSG habe hingegen den Ausschluß ernster vernünftiger Zweifel verlangt. Das sei bereits voller Beweis. Unter Berücksichtigung des Gutachtens von Prof. Dr. R. bestehe der ursächliche Zusammenhang hier mit Wahrscheinlichkeit. Die Lebensverhältnisse in Sibirien erfüllten den Tatbestand des § 1 Abs. 2 Buchst c BVG. Entgegen der Auffassung des LSG lägen daher die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X vor, denn bei Erlaß des Bescheides vom 15. Mai 1981 sei das Recht unrichtig angewendet worden.
Die Klägerin beantragt,
- die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Oktober 1990 und des Sozialgerichts Heilbronn vom 20. Juli 1988 sowie den Bescheid vom 21. Mai 1985 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 1986 und den Bescheid vom 15. Mai 1981 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. März 1983 aufzuheben,
- den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 70 vH ab 1. Februar 1978 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil. Der Aufenthalt der Klägerin in Sibirien falle nicht unter den Begriff der Internierung. Zudem sei ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen und den geltend gemachten schädigenden Ereignissen nicht nachweisbar.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Die bisherigen Feststellungen rechtfertigen nicht die Klageabweisung. Sie reichen aber auch noch nicht aus, der Klage stattzugeben.
Das LSG ist in tatsächlicher Hinsicht den Angaben der Klägerin gefolgt. Insbesondere ist es davon ausgegangen, daß eine ärztliche Behandlung notwendig, wegen der Zwangsverhältnisse in Sibirien aber nicht zu erlangen gewesen sei. In rechtlicher Hinsicht hat es ausgeführt, es könne unentschieden bleiben, ob die Zwangsverhältnisse, unter denen die Klägerin zur Zeit ihrer Ohrenerkrankung lebte, als Internierung iS des als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden § 1 Abs. 2 Buchst c BVG zu beurteilen sei. Die Zweifel daran, ob das Fehlen der notwendigen ärztlichen Behandlung wirklich zu einer Verschlimmerung der Ohrenerkrankung geführt habe, gehe zu Lasten der Klägerin.
Die vom LSG erörterte, aber nicht entschiedene Frage, ob die Klägerin 1943/44 in Sibirien interniert war, ist zu bejahen. Der Begriff der Internierung stammt aus dem Völkerrecht. Der dort übliche Sprachgebrauch bestimmt auch seinen Inhalt im BVG (BSG SozR 3100 § 1 Nr. 2). Internierung ist völkerrechtlich der mit Festnahme beginnende, auf eng begrenztem und überwachtem Raum des Internierungsortes stattfindende und mit der Freilassung endende Freiheitsentzug einer Zivilperson fremder Staatszugehörigkeit durch die Gewahrsamsmacht. Für das BVG gilt davon abweichend die Besonderheit, daß der Betroffene nicht stets eine von der Internierungsmacht fremde Staatsangehörigkeit besitzen muß (BSG SozR BVG § 1 Nr. 42; BSGE 14, 50, 51 f = SozR BVG § 1 Nr. 54), Die Klägerin konnte also – anders als nach dem strengen völkerrechtlichen Begriff – als sowjetische Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit von der Sowjetunion interniert werden.
Während des Aufenthaltes in Sibirien war der Klägerin ihre Freiheit allgemein entzogen. Unter Freiheit ist dabei die Gesamtheit jener Rechte zu verstehen, durch die man seinen Aufenthalt, seine Lebensweise, seine Bewegungen und all seine sonstigen Lebensäußerungen nach eigenem Willen bestimmen kann (BVerwG NJW 1956, 642). Diese Möglichkeiten waren der Klägerin und ihrer Familie genommen. Sie konnte sich nicht frei bewegen, auch ohne in einem eingezäunten Lager untergebracht zu sein und bewacht zu werden. Angesichts der extremen geographischen Verhältnisse und der Lebenssituation der Familie war sie gehindert, den angewiesenen Aufenthaltsort in Sibirien zu verlassen. Einer besonderen Bewachung außer der Aufsicht durch den Vorsitzenden des Dorfsowjets und der Kolchose verbunden mit einer wöchentlichen Meldepflicht bedurfte es nicht. Die innerhalb des sibirischen Dorfes zugestandene Bewegungsfreiheit lockerte zwar den Gewahrsam durch die sowjetischen Behörden, Diese eng begrenzten Bewegungsmöglichkeiten sind aber kein Hinweis auf eine bloße Aufenthaltsbeschränkung, wie sie von der Rechtsprechung bei einer Arbeitsverpflichtung mit den sich daraus ergebenden Bindungen an den Betriebsort angenommen worden ist, wenn der Betroffene im übrigen in das örtliche Wirtschafts- und Erwerbsleben eingegliedert war (BSGE 14, 50, 52 = SozR BVG § 1 Nr. 54). Am örtlichen Wirtschaftsleben konnte die Familie der Klägerin nicht teilnehmen, weil die Mutter für 14stündige tägliche Zwangsarbeit auf den Feldern der Kolchose ausschließlich Nahrungsmittelrationen erhalten hat, so daß Geld für Einkäufe fehlte. Die Familie der Klägerin hatte danach durch das Zusammenwirken äußerer Umstände und staatlicher Zwangsmaßnahmen keine Möglichkeit, ihre Lebensweise nach eigenem Willen zu bestimmen.
Durch die Internierung ist es zu einem schädigenden Vorgang gekommen: Die Ohrenentzündung der Klägerin wurde nicht ärztlich behandelt, obwohl eine solche Behandlung erforderlich war und unter normalen Verhältnissen auch in Anspruch genommen worden wäre.
Die Entscheidung des LSG, die Zweifel an der Ursächlichkeit des Unterbleibens ärztlicher Behandlung gingen zu Lasten der Klägerin, beruht auf einem nicht zutreffenden Verständnis von der Bedeutung des ursächlichen Zusammenhangs, den § 1 Abs. 2 Buchst c und § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG verlangen. Die Meinung des LSG, es bestünden ernstliche Zweifel daran, ob sich die Ohrenerkrankung gerade infolge des Nichteingreifens eines Arztes verschlechtert habe, mag zutreffen. Es mag auch zutreffen, daß eindeutige Aussagen über das Fortschreiten der Krankheit etwa bis zur teilweisen Ertaubung der Klägerin nur gemacht werden könnten, wenn die Art der damaligen Ohrenentzündung bekannt wäre. Schließlich ist auch einleuchtend, daß nicht ausgeschlossen werden kann, daß die teilweise Ertaubung auf eine andere nicht internierungsbedingte Krankheit – etwa Scharlach oder Diphterie – zurückgehen kann, auch wenn nicht bekannt ist, daß die Klägerin eine solche Krankheit durchgemacht hat. Mit allen diesen Zweifeln, deren Berechtigung das Revisionsgericht unter Berücksichtigung des Rechts der freien Beweiswürdigung nicht beanstanden kann, ist aber nicht ausreichend begründet, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen dem schädigenden Vorgang, der eigentlichen Beschädigung und der Schädigungsfolge nicht festgestellt werden könne.
Das LSG hat nicht deutlich gemacht, daß es zwei Besonderheiten berücksichtigt hat, die bei der erforderlichen Prüfung der Ursächlichkeit zu beachten waren. Es handelte sich nicht wie sonst üblich um die Ermittlung eines realen Geschehens, sondern um die Nachzeichnung der Auswirkung eines gedachten Geschehens. Ferner war zu beachten, daß dieses gedachte Geschehen ein ärztliches Handeln war, dessen Bedeutung auch für ein reales Geschehen schwer abzuschätzen ist. Wenn, wie hier, zu prüfen ist, ob das Unterbleiben eines Handelns für einen Schaden verantwortlich ist, ist die Ursachenprüfung lediglich ein Denkvorgang, der die Frage beantworten soll, was geschehen wäre und wie sich der Fall entwickelt hätte, wenn gehandelt worden wäre. Hier lassen sich anders als bei einem wirklichen Geschehen nur selten zweifelsfreie Erkenntnisse gewinnen. Zweifelsfreie Erkenntnisse lassen sich praktisch nie gewinnen, wenn es, wie hier, um ein ärztliches Handeln geht, das unterlassen worden ist. Das ist besonders in den Fällen deutlich, in denen ein Arzt selber dafür zur Verantwortung gezogen wird, daß fehlerhaft oder pflichtwidrig nicht gehandelt wurde. Hier hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß sich der Arzt zwar darauf berufen kann, der Schaden wäre auch eingetreten, wenn er rechtmäßig gehandelt hätte. Die Beweislast trägt aber hier nicht der Geschädigte, sondern der Arzt (Nachweise bei Heinrichs – Palandt, BGB 52. Aufl. 1993, Vorbem vor § 249 RdNrn 105 ff).
Diese Rechtsprechung kann bei der Bewertung der Zweifel, die das LSG festgestellt hat, nicht unbeachtet bleiben. Hier ist zwar nicht ein Arzt für die Unterlassung ärztlichen Handelns verantwortlich. Infolge der Anerkennung der Zwangsverhältnisse als Internierung im Rahmen des Bundesversorgungsgesetzes ist aber die Bundesrepublik für das Unterlassen ärztlichen Handeins verantwortlich. Die gebotene Beachtung der Rechtsprechung der Zivilgerichtsbarkeit zum Beweisrecht im Arzthaftungsrecht zwingt allerdings nicht zur Umkehr der Beweislast. Das Beweisrecht im Bundesversorgungsgesetz ist schon so praxisgerecht geregelt, daß bisher jedenfalls auf die Rechtsfigur der Umkehrung der Beweislast verzichtet werden konnte. Wegen der Schwierigkeiten, medizinische Zusammenhangsfragen zu klären, sind die Beweisanforderungen für die Kausalität auf die Wahrscheinlichkeit und in besonderen Fällen sogar auf die Möglichkeit herabgestuft (§ 1 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 BVG). Der erkennende Senat hat die Umkehrung der Beweislast in zwei Fällen ausdrücklich abgelehnt (SozR 3850 § 52 Nr. 1; SozR 1500 § 160 Nr. 51). Diese Entscheidungen betrafen allerdings nur die sogenannte haftungsausfüllende Kausalität, für die die Beweisanforderungen ausdrücklich herabgesetzt sind. Im vorliegenden Fall hatte das LSG nicht nur Zweifel an dieser zweiten Kausalitätsstufe, also dem Zusammenhang zwischen Schädigung und Schädigungsfolge. Es hatte vielmehr bereits ernstliche Zweifel daran, ob das Unterlassen der gebotenen ärztlichen Hilfe überhaupt zu einer Schädigung geführt hat, ob also die haftungsbegründende Kausalität vorliegt. Es konnte nicht feststellen, daß ärztliche Hilfe wirklich geholfen hätte. Diese Zweifel dürften aber nicht dazu zwingen, die Frage der Umkehr der Beweislast im sozialen Entschädigungsrecht zu entscheiden. Es erscheint nämlich widersprüchlich, ärztliche Hilfe für geboten zu halten, die schädigende Wirkung des Unterbleibens dieser Hilfe aber zu verneinen.
Das LSG wird nach Zurückverweisung das Gewicht seiner Zweifel an der Wirkung der gebotenen, aber unterlassenen ärztlichen Hilfe unter Beachtung der geschilderten Beweisanforderungen zu prüfen haben. Ob es dabei noch die Hilfe eines Sachverständigen in Anspruch nehmen muß, wird es im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu prüfen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
BSGE, 37 |
NJW 1994, 2439 |
Breith. 1994, 755 |