Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Terminsverlegungsantrag. Ablehnung. Verletzung des rechtlichen Gehörs. faires Verfahren
Leitsatz (amtlich)
Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und des Prozeßgrundrechts auf faires Verfahren bei der Behandlung von Verlegungsanträgen wegen Terminskollision des klägerischen Anwalts im Sozialgerichtsprozeß.
Normenkette
SGG § 62; GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 227 Abs 1; ZPO § 227 Abs. 2 S. 3 Fassung: 1976-12-03; GG Art. 19 Abs. 4; SGG § 110 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Voraussetzungen einer beruflichen Rehabilitation (Reha) durch die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA).
Der 1953 geborene Kläger ist nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) seit Oktober 1992 in dem erlernten Beruf eines Gebäudereinigers zur Zufriedenheit seines Arbeitgebers beschäftigt. Er verrichtet "alle anfallenden Arbeiten". Im Oktober 1991 beantragte er Leistungen zur beruflichen Reha bei der BA wegen Rückenbeschwerden und Schwindelerscheinungen nach Medikamenteneinnahme.
Die BA lehnte diesen Antrag nach arbeitsamtsärztlicher Untersuchung ab, weil im laborchemischen Befund Haschischkonsum nachgewiesen worden sei. Der Kläger sei derzeit weder physisch noch psychisch für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leistungsfähig. Daher komme allenfalls eine medizinische, keinesfalls aber eine berufliche Reha in Betracht (Bescheid vom 8. Juli 1992; Widerspruchsbescheid vom 6. August 1992).
Das Sozialgericht (SG) hat diese Entscheidung aufgehoben und die Beklagte verurteilt, berufsfördernde Leistungen zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, die von der Beklagten festgestellte Leistungsunfähigkeit des Klägers sei wegen dessen vollschichtiger Beschäftigung als Gebäudereiniger nicht nachvollziehbar (Urteil vom 25. Juni 1993).
Das LSG hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, der Kläger sei nicht Behinderter iS des § 56 Abs 1 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG), denn er könne nach der Arbeitgeberauskunft vom 19. Mai 1994 "alle anfallenden Arbeiten" verrichten. Auch die Arbeitsamtsärztin habe ihn trotz "einer leichten Wirbelsäulenfehlstatik und einer Bewegungseinschränkung im Lendenwirbelbereich" sowie eines röntgenologisch nachgewiesenen Bandscheibenvorfalls für weiterhin als Gebäudereiniger einsatzfähig gehalten. Diese Beurteilung der Leistungsfähigkeit decke sich mit dem tatsächlich geleisteten Arbeitseinsatz. Diesem komme für die Beurteilung des Leistungsvermögens ein höherer Beweiswert als entgegenstehende Bekundungen von Gutachtern oder dem Kläger selbst zu. Daher bestehe keine Veranlassung, der Anregung des Klägers im Schriftsatz vom 4. November 1994 zur Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens zu folgen. Auch der Orthopäde Dr. G. habe in einem Attest vom 19. März 1992 nur empfohlen, den Kläger für sechs Monate nicht in seinem Beruf als Glas- und Gebäudereiniger einzusetzen. Auch er halte ihn also wegen der Wirbelsäulenbeschwerden nicht für "berufsunfähig". Die Schwindelerscheinungen hätten den Kläger nicht gehindert, seiner Arbeit als Gebäudereiniger nachzugehen. Der Senat habe keinen Anlaß, den Auswirkungen der Schwindelerscheinungen, die im Zusammenhang mit dem Haschischkonsum zu sehen seien, aufzuklären. Sollte sich der Verdacht des Haschischkonsums bestätigen, so wirke sich dies auf das allgemeine Leistungsvermögen des Klägers mit der Folge aus, daß eine medizinische Reha in Betracht komme. Diese sei aber nicht Gegenstand des Rechtsstreits (Urteil vom 24. November 1994).
Zu dem Verhandlungstermin am 24. November 1994 ist der Prozeßbevollmächtigte des Klägers am 7. November 1994 geladen worden. Seinem Antrag vom 4. November 1994, diesen Termin aufzuheben, hat der Vorsitzende nicht entsprochen (Verfügung vom 8. November 1994). Die daraufhin vom Prozeßbevollmächtigten ausgesprochene Ablehnung des Vorsitzenden wegen Besorgnis der Befangenheit hat das LSG als unbegründet zurückgewiesen (Beschluß vom 21. November 1994). Daraufhin lehnte der Kläger die an diesem Beschluß beteiligten Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Gleichzeitig teilte er im Schriftsatz vom 23. November 1994 mit, daß der ursprüngliche Hinderungsgrund zur Teilnahme an dem Termin am 24. November 1994 - die Teilnahme des Prozeßbevollmächtigten des Klägers als Pflichtverteidiger an einem Termin des Schöffengerichts B. - mit Rücksicht auf eine Pflichtverteidigung vor der 11. Großen Strafkammer des Landgerichts Hannover entfallen sei. Er wies darauf hin, daß in dieser Strafsache bereits mehrere Tage verhandelt worden sei und eine Unterbrechung von mehr als zehn Tagen eine erneute Verhandlung erforderlich mache. Wegen des allein zur Verfügung stehenden Termins am 24. November 1994 hätten sich die Vorsitzenden der Großen Strafkammer und des Schöffengerichts ins Benehmen gesetzt und über eine Aufhebung des Termins vor dem Schöffengericht verständigt. Eine Kopie der Ladung zur Fortsetzung der Hauptverhandlung vor der 11. Großen Strafkammer vom 22. November 1994 war diesem Schriftsatz beigefügt. Im Verhandlungstermin am 24. November 1994, den der Prozeßbevollmächtigte des Klägers nicht wahrgenommen hat, hat das LSG - zunächst ohne Mitwirkung des nach der Geschäftsverteilung berufenen Vorsitzenden des 10. Senats - den Ablehnungsantrag gegen die am Beschluß vom 21. November 1994 mitwirkenden Richter für begründet erklärt. Die Niederschrift über die Äußerungen der abgelehnten Richter, die Verhandlung der Ablehnungsanträge und die Verlegung des Verhandlungstermins am 24. November 1994 10.15 Uhr auf 12.00 Uhr wurde dem Büro des Prozeßbevollmächtigten per Telefax übermittelt. Nach Verkündung des Beschlusses, mit dem der zweite Ablehnungsantrag für begründet erklärt worden war, übernahm der Vorsitzende des 10. Senats den Vorsitz, trug den Sachverhalt vor und erteilte der Vertreterin der Beklagten das Wort. Nach geheimer Beratung verkündete er das angefochtene Urteil.
Der Kläger rügt mit der vom Senat zugelassenen Revision die Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Amtsermittlungsgrundsatzes. Die Ladung zu dem Verhandlungstermin, der am 24. November 1994 um 12.24 Uhr stattgefunden habe, habe seinen Prozeßbevollmächtigten am gleichen Tage um 11.21 Uhr erreicht. In dem Schriftsatz vom 23. November 1994 sei das Gericht darauf hingewiesen worden, daß der Prozeßbevollmächtigte am 24. November 1994 wegen einer Pflichtverteidigung vor der 11. Großen Strafkammer des Landgerichts Hannover verhindert sei. Die Strafverhandlung habe den ganzen Tag in Anspruch genommen. Es sei zu erwarten gewesen, daß der Senat den Termin verlege und mit ausreichender Ladungsfrist einen neuen Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt hätte. Das LSG habe den Amtsermittlungsgrundsatz verletzt, weil der Kläger in vorbereitenden Schriftsätzen mehrfach vorgetragen habe, er sei wegen eines computertomographisch festgestellten medialen Bandscheibenvorfalls gehindert, dauerhaft seiner erlernten Beschäftigung als Gebäudereiniger nachzugehen. Der Verdacht, er sei wegen Haschischkonsums außerstande, eine Beschäftigung unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben, sei durch die vom LSG eingeholte Auskunft seines Arbeitgebers widerlegt gewesen. Über den schriftsätzlich gestellten Antrag, durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu klären, daß der Kläger wegen seines Rückenleidens den Belastungen eines Gebäudereinigers nicht gewachsen sei, sei das LSG zu Unrecht mit dem Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 14. September 1987 (BSGE 47, 57) hinweggegangen. Die Ausführungen des LSG, nach denen das Vorbringen des Klägers über die Auswirkungen seines Rückenleidens widersprüchlich seien, blieben nicht nachvollziehbar.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. November 1994 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 25. Juni 1993 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie vertritt die Ansicht, der Kläger könne nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten, seiner Berufsbiographie und der vom LSG eingeholten Arbeitgeberauskunft auch ohne Hilfe zur beruflichen Wiedereingliederung seinen Beruf als Gebäudereiniger nachgehen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet. Die Verfahrensweise des LSG verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫; § 62 SGG). Das angefochtene Urteil ist deshalb mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
1. Die Rüge, das LSG habe dem Kläger das rechtliche Gehör versagt, indem es den Termin am 24. November 1994 durchgeführt hat, obwohl der Prozeßbevollmächtigte des Klägers durch einen anderweitigen Termin an der Teilnahme verhindert war, greift durch.
1.1 Der Kläger hat die Verletzung des rechtlichen Gehörs ordnungsgemäß gerügt. Allerdings gehört zur Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs außer den Verfahrensmangel ergebenden Tatsachen (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) in der Regel auch die Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist (BSGE 69, 280, 284 = SozR 3-4100 § 128a Nr 5 mwN). Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt ist (§ 202 SGG; § 551 Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫) wie im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (§ 138 Nr 3 Verwaltungsgerichtsordnung), ist "wegen des besonderen Rechtswertes der mündlichen Verhandlung" im allgemeinen davon auszugehen, daß eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran hindert, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, für die Entscheidung ursächlich geworden ist. Insoweit erübrigen sich zur Kennzeichnung des Verfahrensmangels Ausführungen darüber, daß das Urteil auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG; dazu näher: BSGE 53, 83, 85 = SozR 1500 § 124 Nr 7 mwN). Gründe, die die Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensfehlers für das angefochtene Urteil ausschließen könnten, sind hier nicht ersichtlich. Aus der Revisionsbegründung ergibt sich im übrigen, daß der Kläger vorgetragen hätte, sein Rückenleiden schließe einen dauerhaften Einsatz als Gebäudereiniger aus. Außerdem ergibt der Hinweis auf den schon schriftsätzlich angekündigten Beweisantrag, daß er durch die Verfahrensweise des LSG gehindert worden ist, diesen - schon verfahrensrechtlich bedeutsamen Antrag (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG; dazu: BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9) - in der mündlichen Verhandlung zu stellen.
1.2 Die Rüge greift durch, denn das LSG war auf den Verlegungsantrag vom 23. November 1994 verpflichtet, den Termin am 24. November 1994 zu verlegen. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muß den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden, sich zur Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung zu äußern. Ein erheblicher Grund für die Terminsverlegung eröffnet nicht nur die Möglichkeit, sondern begründet die Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (BSG NJW 1992, 1190; BVerwG NJW 1995, 1441).
Mit dem erwähnten Schriftsatz hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers zwar in erster Linie seinen Ablehnungsantrag gegen die am Beschluß des LSG vom 21. November 1994 beteiligten Richter begründet. Der Inhalt des Schriftsatzes ergibt aber, daß der Prozeßbevollmächtigte erneut und wegen eines neuen Verhinderungsgrundes um die Verlegung des Termins nachgesucht hat. Er hat nämlich seine Inanspruchnahme durch eine Verhandlung vor der 11. Großen Strafkammer des Landgerichts Hannover am 24. November 1994 mitgeteilt und eine Ladung zu jenem Termin vom 22. November 1994 vorgelegt. Aus der Ladung geht hervor, daß es sich um eine Fortsetzung der Hauptverhandlung handelte. Dieser Schriftsatz ist dem LSG am 24. November 1994 zugegangen. Aus der Sitzungsniederschrift des LSG vom 24. November 1994 und den Gerichtsakten ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, daß der Verlegungsantrag vom 23. November 1994 vom Gericht beschieden worden ist. Nach § 202 SGG, § 227 Abs 2 Satz 3 ZPO ist die Entscheidung über einen Verlegungsantrag kurz zu begründen. Allerdings hat das LSG dem Prozeßbevollmächtigten einen Teil der Sitzungsniederschrift vom 24. November 1994 per Telefax übermittelt. Dieser Teil der Sitzungsniederschrift enthielt aber lediglich die Mitteilung, daß die mündliche Verhandlung nach der Entscheidung über den Ablehnungsantrag am 24. November 1994 um 12.00 Uhr fortgesetzt werden solle. Dieses Vorgehen ließ dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers weder die Möglichkeit, den Termin selbst wahrzunehmen noch für eine Vertretung zu sorgen. Darin liegt zugleich eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör.
Abgesehen von der fehlenden Bescheidung des Verlegungsantrages vom 23. November 1994 verletzt das LSG auch § 202 SGG, § 227 Abs 1 ZPO, denn mit diesem Antrag hat der Kläger einen erheblichen Grund iS des § 227 Abs 1 ZPO für die Verlegung des Termins geltend und glaubhaft gemacht. Die im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwendende Vorschrift hat ihre jetzt geltende Fassung durch Art 1 Nr 19 der Vereinfachungsnovelle vom 3. Dezember 1976 (BGBl I 3281) erhalten. Sie ist im Zusammenhang mit dem Bestreben des Gesetzgebers zu sehen, den Zivilprozeß zu beschleunigen (vgl §§ 271 ff ZPO idF vom 3. Dezember 1976). Ob dieses Anliegen des Gesetzgebers die strenge Auslegung des § 227 Abs 1 ZPO erfordert (vgl Baumbach/Hartmann, ZPO, 53. Aufl, 1995, § 227 RdNrn 6, 8, 13), die sich das LSG in der Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 8. November 1994 (zu dem ersten Verlegungsantrag) zu eigen gemacht hat, kann dahinstehen. Auch für den Zivilprozeß werden Ansichten vertreten, die eine Terminkollision als schwerwiegenden Grund für eine Verlegung anerkennen (vgl Thomas/Putzo, ZPO, 16. Aufl 1990, § 227 Anm 2) oder auf "die sinnvolle und wirksame Anwendung der Norm" drängen, um nicht durch "Überbeschleunigung" das rechtliche Gehör zu verletzen (vgl Feiber, MünchKomm ZPO, 1992, § 227 RdNr 1). Das dem Vorgehen des LSG zugrundeliegende Regel-Ausnahme-Verhältnis ist danach selbst für den Zivilprozeß nicht unumstritten.
Die entsprechende Anwendung des § 227 Abs 1 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren hat außerdem zu bedenken, daß die Erscheinungen, die für beschleunigende Verfahrensregelungen im Zivilprozeß Anlaß gegeben haben, im sozialgerichtlichen Verfahren nicht in gleicher Weise und in gleichem Umfang bedeutsam sind. Dies gilt jedenfalls bei Verhinderungen von Klägern, die Ansprüche auf Rehabilitation geltend machen. Da in solchen Fällen ein dem Zivilprozeß vergleichbares Beschleunigungsbedürfnis nicht durchweg anzuerkennen ist, erscheint eine "funktionsdifferente Auslegung" (vgl zB BSGE 73, 126, 128 = SozR 3-4100 § 101 Nr 5 mwN) im sozialgerichtlichen Verfahren geboten.
Die Nichtverlegung der mündlichen Verhandlung verletzt nicht nur das rechtliche Gehör. Auch die Effektivität des Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) ist betroffen, wenn formale Strenge im Prozeß ohne erkennbar schutzwürdigen Zweck praktiziert wird (vgl auch: Feiber aaO). Die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des fairen Verfahrens sind damit berührt. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz wird verletzt, wenn die Gestaltung des Verfahrens nicht in angemessenem Verhältnis zu dem auf Sachverhaltsklärung und Verwirklichung des materiellen Rechts gerichteten Verfahrensziel stehen (zB: BVerfGE 88, 118, 124, 126 ff). Das allgemeine Prozeßgrundrecht auf faires Verfahren verlangt ua Rücksichtnahme auf Verfahrensbeteiligte in konkreter Situation (zB: BVerfGE 78, 123, 126). Diese war hier durch die kurzfristige Ladung des Prozeßbevollmächtigten zur Fortsetzung der Hauptverhandlung vor der Großen Strafkammer geboten.
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat seinen Verlegungsantrag vom 23. November 1994 mit einer Ladung zur Fortsetzung einer Hauptverhandlung vor der 11. Großen Strafkammer des Landgerichts Hannover vom 22. November 1994 begründet. Wegen der Kurzfristigkeit dieser Ladung, deren mögliche prozessuale Gründe (§ 229 Strafprozeßordnung) auch Sozialgerichte zu berücksichtigen haben, war es ihm unmöglich, den Termin am 24. November 1994 vor dem LSG wahrzunehmen und auch nicht zumutbar, für eine Vertretung zu sorgen. Wegen der fehlenden Möglichkeit zur Einarbeitung eines Vertreters in den Prozeßstoff, war es für die Klageseite unzumutbar, den Termin vor dem LSG wahrzunehmen. Dies gilt um so mehr, als über den Befangenheitsantrag vom 23. November 1994 noch nicht befunden war, so daß der Prozeßbevollmächtigte, dem die dienstlichen Äußerungen der abgelehnten Richter noch nicht vorlagen, davon ausgehen konnte, das LSG werde am 24. November 1994 eine Sachentscheidung ohnehin nicht treffen können. Die Übermittlung der Terminsverlegung am Terminstage versetzte den Prozeßbevollmächtigten nicht in die Lage, den auf 12.00 Uhr verlegten Termin wahrzunehmen. Abgesehen davon, daß die Entscheidung über den Ablehnungsantrag noch ausstand, war dem LSG bekannt, daß der Prozeßbevollmächtigte des Klägers von der Terminsverlegung wegen seiner Inanspruchnahme als Verteidiger in einer Hauptverhandlung vor der Großen Strafkammer am gleichen Tage nicht Kenntnis nehmen konnte. Das Vorgehen des LSG ist nicht geeignet, dem Prozeßbevollmächtigten die Teilnahme an dem Verhandlungstermin zu ermöglichen, und verletzt damit den Kläger auch in seinem Recht auf faires Verfahren.
1.3 Die in Abwesenheit des Prozeßbevollmächtigten des Klägers auf die mündliche Verhandlung vom 24. November 1994 um 12.24 Uhr ausgesprochene Klagabweisung beruht auf diesen Verfahrensfehlern. Es läßt sich nicht ausschließen, daß der Prozeßbevollmächtigte des Klägers bei einer Teilnahme an der mündlichen Verhandlung, das LSG von der Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung - insbesondere über das Anforderungsprofil von Gebäudereinigern und die gesundheitliche Leistungsfähigkeit des Klägers - überzeugt hätte. Mithin besteht die Möglichkeit, daß das LSG zu einer für den Kläger günstigeren Beurteilung des Sachverhalts gekommen wäre, wenn der Prozeßbevollmächtigte Gelegenheit gehabt hätte, die Rechte und Interessen des Klägers in der mündlichen Verhandlung wahrzunehmen (§ 162 SGG). Die Revision muß daher zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des Verfahrens an das LSG führen.
2. Für die erneute Verhandlung wird aus gegebener Veranlassung auf folgendes hingewiesen:
2.1 Das SG hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, dem Kläger Leistungen zur beruflichen Rehabilitation zu gewähren, obwohl Leistungen erst in Betracht kommen, wenn der Kläger an einer beruflichen Rehabilitationsmaßnahme teilnimmt. Das LSG wird daher zunächst auf einen sachdienlichen Antrag hinzuwirken haben (vgl dazu BSGE 74, 247, 248 f = SozR 3-4100 § 56 Nr 14).
2.2 Das LSG zählt Versicherte nicht zu Behinderten iS des § 56 Abs 1 Satz 1 AFG, die ihren Beruf "vollwertig und ohne Schaden für ihre Gesundheit weiterhin ausüben" können. Diesem Personenkreis hat es den Kläger nicht zugeordnet, weil er nach der Auskunft seines Arbeitgebers vom 19. Mai 1994 "alle anfallenden Arbeiten" verrichtet hat und im arbeitsamtsärztlichen Gutachten vom 12. Mai 1992 die Fortsetzung dieser Beschäftigung trotz Wirbelsäulenfehlstatik und Bewegungseinschränkung im Lendenbereich bei röntgenologisch nachgewiesenem Bandscheibenvorfall nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurde.
Zur Einsatzfähigkeit als Gebäudereiniger hat sich das arbeitsamtsärztliche Gutachten aber überhaupt nicht geäußert. Vielmehr hat es nur allgemein mitgeteilt, die Belastbarkeit der Wirbelsäule sei für schweres Heben und Tragen und Arbeiten in gebeugter Haltung eingeschränkt. Ob der Kläger mit diesen Einschränkungen dem Anforderungsprofil von Gebäudereinigern entsprechen kann, ist dem arbeitsamtsärztlichen Gutachten nicht zu entnehmen. Wesentlich für die körperliche Leistungsfähigkeit war nach diesem Gutachten der laborchemisch nachgewiesene Haschischkonsum, der nach Ansicht der Gutachterin die Belastbarkeit für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschloß. Dem arbeitsamtsärztlichen Gutachten ist danach eine Beurteilung der Einsatzfähigkeit des Klägers in seinem Beruf aufgrund des Wirbelsäulenbefundes nicht zu entnehmen. Diese setzt Kenntnis der an Gebäudereiniger zu stellenden Anforderungen voraus. Diese Kenntnis läßt sich nicht durch die Arbeitgeberauskunft vom 19. Mai 1994 ersetzen. Auch wenn darin mitgeteilt wird, der Kläger habe "alle anfallenden Arbeiten" verrichtet, so ergibt sich daraus nicht, ob der Kläger damit seinen Beruf vollwertig und ohne Schaden für seine Gesundheit weiterhin ausüben kann. Der Kläger war bei seinem Arbeitgeber möglicherweise nur einem Teil der bei Gebäudereinigern anfallenden Anforderungen ausgesetzt. Allenfalls die in diesem Betrieb anfallenden Arbeiten hat der Kläger, der im übrigen während dieser Beschäftigung mehrfach arbeitsunfähig erkrankt war, nach dieser Auskunft vollwertig verrichtet. Diese Bekundung stützt auch nicht die weitere Feststellung des LSG, der Kläger habe seine Arbeiten ohne Schaden für seine Gesundheit verrichtet und sei auch weiterhin dazu in der Lage. Zu dieser Frage hat sich der Arbeitgeber (naturgemäß) nicht geäußert.
Es dürfte deshalb erforderlich sein, zunächst die beruflichen Anforderungen klarzustellen, die an Gebäudereiniger typischerweise zu stellen sind. Danach wird die medizinische Frage zu beantworten sein, wie sich ein weiterer Einsatz in diesem Beruf auf Dauer für den Kläger auswirken wird. Allein eine solche Fragestellung wird der Rechtsprechung des BSG zum Begriff des Behinderten iS von § 56 AFG gerecht, nach der eine Bedrohung der beruflichen Eingliederung für die Feststellung der Behinderteneigenschaft wesentlich ist (vgl dazu: Gagel/Richter, AFG § 56 RdNr 2 mwN). Die Feststellung des LSG, auch der Orthopäde Dr. G. halte den Kläger nicht für "berufsunfähig", veranlaßt zu dem Hinweis, daß Rehabilitation den Eintritt eines solchen Versicherungsfalls gerade nicht voraussetzt (BSGE 28, 18, 20 = SozR Nr 4 zu § 1236 RVO; BSGE 48, 74, 75 = SozR 2200 § 1237a Nr 6).
Abkürzungen
Reha
Seite 2
BA
Seite 2
LSG
Seite 2
SG
Seite 2
AFG
Seite 3
BSG
Seite 5
SGG
Seite 6
GG
Seite 6
ZPO
Seite 7
VwGO
Seite 7
Fundstellen
NJW 1996, 677 |
Breith. 1996, 353 |
SozSi 1997, 32 |