Entscheidungsstichwort (Thema)
Kinderzuschuß über das 25. Lebensjahr hinaus
Leitsatz (amtlich)
Hat ein Kind an Stelle des Grundwehrdienstes zwei Jahre Polizeivollzugsdienst beim Bundesgrenzschutz geleistet, so wird nach AVG § 39 Abs 3 S 3 (= RVO § 1262 Abs 3 S 3) Kinderzuschuß über das 25. Lebensjahr des Kindes hinaus längstens für einen der seinerzeitigen Dauer des Grundwehrdienstes entsprechenden Zeitraum gewährt.
Orientierungssatz
AVG § 39 Abs 3 S 3 (RVO § 1262 Abs 3 S 3) soll einen Ausgleich für die Erfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht schaffen und darum nur die Verzögerung ausgleichen, die durch die Erfüllung der gesetzlichen Pflicht (Wehrpflicht) zwangsläufig entsteht.
Normenkette
AVG § 39 Abs 3 S 3 Fassung: 1964-04-14; RVO § 1262 Abs 3 S 3 Fassung: 1964-04-14; WehrPflG § 3 Abs 1 S 1 Fassung: 1973-06-25, § 4 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1975-05-02, § 42 Abs 1 S 2
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 12.06.1979; Aktenzeichen L 16 An 103/78) |
SG München (Entscheidung vom 25.04.1978; Aktenzeichen S 14 An 159/78) |
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Kinderzuschuß nach § 39 Abs 3 Satz 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG).
Der Kläger bezieht seit August 1972 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Einschluß eines Kinderzuschusses für seinen im Juni 1951 geborenen Sohn Klaus. Dieser diente vor Aufnahme seines Studiums vom 1. September 1970 bis zum 31. August 1972 als Polizeivollzugsbeamter beim Bundesgrenzschutz (BSG), um seiner Wehrpflicht zu genügen. Die Beklagte stellte die Zahlung des Kinderzuschusses mit Ablauf des 31. Dezember 1977 ein, weil der Zeitraum einer wehrdienstbedingten Verzögerung abgelaufen sei.
Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, den Kinderzuschuß bis zum 30. Juni 1978 weiterzugewähren. Es hat seine Entscheidung damit begründet, daß der Sohn des Klägers den Dienst beim BGS vorwiegend wegen Bestehens der gesetzlichen Wehrpflicht abgeleistet habe. Dieser Dienst sei daher dem gesetzlichen Wehrdienst bei der Bundeswehr grundsätzlich gleichzustellen. Das gelte auch für den Zeitraum von sechs Monaten, um den die Zeit des Dienstes beim BGS die Zeit des Grundwehrdienstes überschritten habe, da eine Verpflichtung auch für diese Zeit erforderlich gewesen sei, um eine Anerkennung als Grundwehrdienst zu erreichen. Daß dies dem Willen des Gesetzgebers entspreche, ergebe sich aus den vergleichbaren Regelungen der §§ 33b, 45 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), § 164 des Bundesbeamtengesetzes (BBG) und des § 18 Abs 4 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts
München vom 25. April 1978 zurückzuweisen.
Sie macht geltend, daß der Verzögerungszeitraum, um den sich die Bezugszeit des Kinderzuschusses über die Vollendung des 25. Lebensjahres des Kindes hinaus verlängere, auf die Zeit des Grundwehrdienstes begrenzt sei; diese aber habe damals 18 Monate betragen. Auch § 45 Abs 3 Satz 3 BVG idF des Gesetzes vom 26. Januar 1970 (BGBl I 121) stelle auf einen "der Dauer des Grundwehrdienstes entsprechenden Zeitraum" ab.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet; der Kläger hat Anspruch auf den Kinderzuschuß für seinen Sohn Klaus nur bis zum 31. Dezember 1977.
Die Dauer des Kinderzuschusses ist in § 39 Abs 3 AVG geregelt. Nach dessen Satz 2 wird er längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres für ein Kind gewährt, das sich in Berufsausbildung befindet. Als Ausnahme hiervon bestimmt Satz 3, daß im Falle der Unterbrechung oder Verzögerung der Berufsausbildung durch Erfüllung der gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstpflicht des Kindes der Kinderzuschuß auch für einen der Zeit dieses Dienstes entsprechenden Zeitraum über das 25. Lebensjahr hinaus gewährt wird.
Die Beteiligten und das LSG gehen zu Recht davon aus, daß § 39 Abs 3 Satz 3 AVG hier zugunsten des Klägers anwendbar ist. Die Unterbrechung der Berufsausbildung seines Sohnes ist zwar nicht durch "Erfüllung" der gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstpflicht verursacht worden; daß der Sohn des Klägers Grenzschutzdienstpflichtiger (§ 42a des Wehrpflichtgesetzes -WehrpflG- idF des Gesetzes vom 13. Januar 1969 - BGBl I 41 -) war, ist nach den Feststellungen des LSG auszuschließen. Zu beachten ist jedoch, daß nach § 42 Abs 1 Satz 2 WehrpflG in der hier maßgebenden Fassung des Gesetzes vom 13. Januar 1969 die Pflicht zur Leistung von Grundwehrdienst für einen Wehrpflichtigen erlosch, wenn er zwei Jahre Polizeivollzugsdienst im BGS geleistet hatte. Dies berechtigt, die Leistung dieses Dienstes im Rahmen des § 39 Abs 3 Satz 3 AVG ebenso zu behandeln wie die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht durch den Grundwehrdienst (§ 3 Abs 1 Satz 1 iVm § 4 Abs 1 Nr 1 WehrpflG). Damit folgt der Senat einer Rechtsprechung, die im Rentenversicherungsrecht bei Waisenrenten und Kinderzuschüssen schon mehrfach der Ableistung des Grundwehrdienstes die Leistung anderer Dienste gleichgestellt hat, die auf den Grundwehrdienst anzurechnen waren oder die Pflicht zur Leistung von Grundwehrdienst erlöschen ließen (SozR 2200 § 1262 Nr 3; § 1267 Nrn 3, 4; vgl ferner SozR Nr 14 zu § 45 BVG). Diese Rechtsprechung hat unterstützend Regelungen im Versorgungsrecht herangezogen; dort ist in § 45 Abs 3 Satz 3 BVG (vgl ferner §§ 27 Abs 4 Satz 3, 33b Abs 4 Satz 6 BVG) die entsprechende Geltung der dem § 39 Abs 3 Satz 3 AVG vergleichbaren Vorschrift für diese Fälle ausdrücklich angeordnet worden, darunter insbesondere auch für den Polizeivollzugsdienst von bis zu drei Jahren. Eine ähnliche Regelung findet sich in § 2 Abs 3 Nr 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG).
Daraus, daß der Dienst im BGS, den der Sohn des Klägers geleistet hat, im Rahmen von § 39 Abs 3 Satz 3 AVG dem Grundwehrdienst gleichzuachten ist, folgt indessen entgegen der Ansicht des LSG nicht, daß die gesamte Zeit dieses Dienstes einen Verzögerungszeitraum im Sinne dieser Vorschrift darstellt. Gegen eine solche Annahme spricht bereits der Wortlaut des § 39 Abs 3 Satz 3 AVG. Danach wird der Kinderzuschuß "für einen der Dauer dieses Dienstes entsprechenden Zeitraum" über das 25. Lebensjahr hinaus gewährt. Unter "Dienst" ist hierbei nur der zuvor allein genannte "Wehr- oder Ersatzdienst" zu verstehen, mit dem die gesetzliche Wehr- oder Ersatzdienstpflicht erfüllt wird. Nach dem Gesetzeswortlaut kann also mit der "Dauer dieses Dienstes" nicht die Dauer eines anderen Dienstes gemeint sein. In diesem Sinne muß der Wortlaut aber auch nicht in den Fällen umgedeutet werden, in denen die Rechtsprechung der Ableistung des Grundwehrdienstes die Leistung anderer Dienste gleichgestellt hat. Denn diese Gleichstellung beruht allein darauf, daß die anderen Dienste auf den Grundwehrdienst angerechnet werden oder daß ihretwegen die Pflicht zur Leistung des Grundwehrdienstes erlischt. Ist das aber der Grund für die Gleichstellung, dann entspricht es der den anderen Diensten zukommenden "Ersatzfunktion", auch in diesen Fällen den Kinderzuschuß nur für einen der Dauer des Grundwehrdienstes entsprechenden Zeitraum weiterzugewähren.
Der Senat verkennt dabei nicht, daß die anderen Dienste - freiwilliger Wehrdienst, Polizeivollzugsdienst, Entwicklungsdienst - ebenfalls Interessen der Allgemeinheit dienen und daß sie sogar eine längere Unterbrechung oder Verzögerung der Ausbildung als der Grundwehrdienst bewirken. Auf der anderen Seite ist aber nicht zu übersehen, daß § 39 Abs 3 Satz 3 AVG einen Ausgleich für die Erfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht schaffen und darum nur die Verzögerung ausgleichen soll, die durch die Erfüllung der gesetzlichen Pflicht zwangsläufig entsteht.
Die Begrenzung auf den Zeitraum des Grundwehrdienstes entspricht zudem der Regelung des BVG, an die die Rechtsprechung im Rentenversicherungsrecht angeknüpft hat. Nach § 45 Abs 3 Satz 3 BVG gilt Satz 2 in den dort genannten Fällen des freiwilligen Wehrdienstes, des Polizeivollzugsdienstes und des Entwicklungsdienstes ausdrücklich nur "für einen der Dauer des Grundwehrdienstes entsprechenden Zeitraum". Anders verhält es sich dagegen im BKGG (und im Beamtenrecht). Dieses Gesetz stellt in § 2 Abs 3 Nrn 1 bis 3 auf die Dauer des tatsächlich geleisteten Dienstes ab, setzt jedoch beim freiwilligen Wehrdienst, dem Polizeivollzugsdienst und dem Entwicklungsdienst eine Höchstgrenze von 24 Monaten. Begründet wurde dies damit, daß nur die in dieser Höhe geleisteten anderen Dienste die Wehrpflicht zum Erlöschen bringen (BT-Drucks 7/2032 S 9, Begr zu Abs 3).
Für diese Unterschiede hat der Senat in den Gesetzesmaterialien keine Begründung gefunden. Er hat sich unter diesen Umständen nicht für befugt erachtet, die Regelungen im BKGG entsprechend auch im Rentenversicherungsrecht anzuwenden. Angesichts des Schweigens des Gesetzgebers in diesem Rechtsbereich ist eher der Anlehnung an die im BVG getroffene Regelung der Vorzug zu geben. Es handelt sich hierbei um die am wenigsten weitgehende Regelung; diese Erwägung ist deswegen von besonderem Gewicht, weil sich der Gesetzgeber bisher offensichtlich bemüht hat, die Voraussetzungen für die Gewährung von Waisenrenten und Kinderzuschüssen aus der gesetzlichen Rentenversicherung enger zu begrenzen als die Voraussetzungen für die Gewährung vergleichbarer Leistungen in anderen Leistungssystemen. Dies kommt ua in dem Bericht der Bundesregierung zu Fragen der Rentenversicherung (BT-Drucks VI/1126, S 35) zum Ausdruck, wo Wünschen nach Erhöhung der Altersgrenze und Verlängerungszeiträumen über die Dauer des Grundwehrdienstes hinaus entgegengehalten wurde, ihre Verwirklichung würde den begünstigten Personenkreis erweitern und zu Mehraufwendungen führen.
Hinzuweisen ist im übrigen darauf, daß für die Zahlung von Kindergeld überall Raum bleibt, wo eine der in § 8 BKGG genannten Leistungen, darunter der Kinderzuschuß nach § 39 AVG (§ 8 Abs 1 Nr 1 BKGG), nicht zu gewähren ist. Ein Anspruch auf Kindergeld ist jedoch nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens.
Nach alledem war, wie geschehen, in der Sache zu entscheiden und das Urteil des Sozialgerichts wiederherzustellen (§ 170 Abs 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen