Leitsatz (redaktionell)
Wird über einen im sozialgerichtlichen Verfahren gestellten Antrag auf Feststellung eines Leidens als Schädigungsfolge nicht entschieden, so ist SGG § 123 verletzt, was einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt.
Normenkette
SGG § 123 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 19. Juli 1962 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Versorgungsbehörde erkannte bei dem Kläger mit Bescheid vom 6. November 1953 als Schädigungsfolgen zentrale Regulationsstörungen und Hirnleistungsschwäche nach Fleckfieber mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. an. Auf die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) den Beklagten mit Urteil vom 21. September 1956, den Grad der MdE mit 80 v.H. zu bewerten und entsprechende Versorgungsbezüge zu zahlen. Dieses Urteil ist rechtskräftig geworden.
Den am 30. Juli 1958 gestellten Antrag des Klägers wegen Leidensverschlimmerung und Gewährung einer Pflegezulage lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) nach Einholung eines Gutachtens mit Bescheid vom 25. Februar 1959 ab. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 5. Januar 1960).
Auf die Klage hat das SG u.a. nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten von Dr. D vom 21. September 1961 eingeholt. Dieser Sachverständige hat ausgeführt, er komme auf Grund seiner Untersuchung zu demselben Resultat wie Dr. L in dem früheren Streitverfahren. Bei dem Kläger liege eine zentrale Regulationsstörung, eine Hirnleistungsschwäche und eine Wesensveränderung vor. Diese sei zwar in den früheren Gutachten nicht namentlich bezeichnet, jedoch hervorgehoben worden. Es bestehe der Fehler, daß sie nicht in der Diagnose aufgenommen worden sei. Er empfehle, die anzuerkennende Diagnose auf jeden Fall zu ändern, und zwar in "zentrale Regulationsstörung, Hirnleistungsschwäche und Wesensveränderung nach Fleckfiebererkrankung". Der Kläger hat vor dem SG am 7. Dezember 1961 beantragt, unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide 1) die als Versorgungsleiden anerkannte Hirnleistungsschwäche nunmehr als schwer zu bezeichnen, 2) eine schwere Wesensveränderung als weitere Folge des festgestellten Versorgungsleidens anzuerkennen und unter Berücksichtigung der wesentlichen Auswirkungen seines Wirbelsäulenleidens als Nachschaden auf das Versorgungsleiden den Beklagten zu verurteilen, ihm ab 1. August 1958 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und vom gleichen Zeitpunkt die einfache Pflegezulage zu gewähren. Das SG hat mit Urteil vom 7. Dezember 1961 die Klage abgewiesen und die Auffassung vertreten, daß eine wesentliche Änderung in den für die Anerkennung maßgebenden Verhältnissen nicht eingetreten sei. Es hat sodann ausgeführt: "Haben sich somit die früher maßgeblichen Verhältnisse in keiner Hinsicht zu Gunsten des Klägers wesentlich geändert, bestand für die Versorgungsbehörden auf den Neufeststellungsantrag des Klägers hin keine Veranlassung, etwaige Unvollständigkeiten in der Bezeichnung der Schädigungsfolgen zu beseitigen. Derartige Unvollständigkeiten früherer Feststellungen könnten nur im Wege der Beantragung und Erteilung eines Zugunstenbescheides nach § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) beseitigt werden".
Der Kläger hat die Zulässigkeit der Berufung in seinem Schriftsatz vom 11. Juli 1962 auf § 150 Nr. 3 SGG gestützt, weil die Klage den Anspruch auf Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen betreffe. Da eine Wesensveränderung bisher noch nicht anerkannt gewesen sei, jetzt aber als weiteres Versorgungsleiden begehrt werde, sei die Berufung zulässig. In der mündlichen Verhandlung vom 19. Juli 1962 hat der Kläger dieselben Anträge wie vor dem SG gestellt.
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 19. Juli 1962 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 7. Dezember 1961 zurückgewiesen, soweit eine Pflegezulage begehrt wird. Im übrigen hat es die Berufung als unzulässig verworfen. Es hat ausgeführt, daß die Berufung insoweit als unzulässig zu verwerfen gewesen sei, als der Kläger eine Erhöhung der MdE unter Neubezeichnung des anerkannten Versorgungsleidens begehre (§ 148 Ziff. 3 SGG). Er beziehe bereits Beschädigtenrente nach einer MdE um 80 v.H. Die Zulässigkeit der Berufung könne auch nicht auf § 150 Nr. 3 SGG gestützt werden, denn es bestehe kein Streit über den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), da sämtliche Sachverständigen die geltend gemachte schwere Wesensveränderung bereits als Folge der anerkannten Schädigung bezeichnet hätten. Für die besondere Anerkennung dieser Wesensveränderung als weiteres Versorgungsleiden sei kein Raum, weil es sich hierbei nur um ein Symptom der schon anerkannten zentralen Regulationsstörungen und Hirnleistungsschwäche handele. Ebenso unzulässig sei der Antrag auf Bezeichnung der anerkannten Hirnleistungsschwäche als schwer, weil die Schwere der Gesundheitsschädigung in dem anerkannten hohen Grade der MdE zum Ausdruck komme.
Soweit der Kläger die Gewährung von Pflegezulage begehre, sei die Berufung unbegründet, da er nach der Auffassung aller Sachverständigen und nach seinen eigenen Angaben nicht hilflos i.S. des § 35 Abs. 1 BVG sei. Auch bestehe kein Anspruch nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG. Seine Erwerbsunfähigkeit beruhe nach den übereinstimmenden Gutachten nicht auf der anerkannten Hirnleistungsschwäche bei einer MdE um 80 v.H., sondern auf der fortschreitenden Wirbelsäulendegeneration, die keine wehrdienstbedingte Schädigung im Sinne des § 1 BVG darstelle. Ein solcher Nachschaden könne nicht zur Erhöhung der Rente führen.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Gegen dieses ihm am 2. August 1962 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 30. August 1962, beim Bundessozialgericht (BSG) am 1. September 1962 eingegangen, Revision eingelegt und diese nach Fristverlängerung bis zum 2. November 1962 mit Schriftsatz vom 30. Oktober 1962, beim BSG am 1. November 1962 eingegangen, begründet. Er beantragt, das Urteil des LSG vom 19. Juli 1962 und das Urteil des SG vom 7. Dezember 1961 dahingehend abzuändern, daß der Bescheid des VersorgA I Berlin vom 25. Februar 1959 und der Widerspruchsbescheid des LandesversorgA Berlin vom 5. Januar 1960 aufgehoben werden und der Beklagte verurteilt wird, 1) die als Versorgungsleiden anerkannte Hirnleistungsschwäche nunmehr als schwer zu bezeichnen, 2) eine schwere Wesensveränderung als weitere Folge des festgestellten Versorgungsleidens anzuerkennen, 3) unter weiterer Berücksichtigung der wesentlichen Auswirkungen des Wirbelsäulenleidens als Nachschaden auf das Versorgungsleiden dem Kläger ab 1. August 1958 Rente nach einem Gesamtgrad der MdE um 100 v.H. und vom gleichen Zeitpunkt an die einfache Pflegezulage zu gewähren; hilfsweise das Urteil des LSG Berlin vom 19. Juli 1962 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.
Der Kläger rügt eine Verletzung der §§ 103, 106, 128 SGG sowie §§ 1 ff BVG durch das LSG. Es sei streitig, ob eine weitere Schädigungsfolge, nämlich eine schwere Wesensveränderung, anerkannt werden müsse. Das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern in eine Sachaufklärung eintreten müssen. Die Erhöhung des Grades der MdE stehe im wesentlichen Zusammenhang mit der begehrten Anerkennung der Wesensveränderung bei dem Kläger und einer schweren Hirnleistungsschwäche. Zwar seien bereits im Jahre 1956 gewisse Züge einer Wesensveränderung festgestellt worden, jedoch keineswegs in dem Umfang, daß von einer echten Wesensveränderung habe gesprochen werden können. Seit der geltend gemachten Verschlimmerung zeige sich beim Kläger eine völlige Verarmung der Persönlichkeit, damit gehöre die Wesensveränderung nicht mehr in den Sammelbegriff der Hirnleistungsschwäche, sondern hätte vom LSG besonders als Schädigungsfolge festgestellt werden müssen. Dadurch habe sich auch die Höhe der MdE geändert. Wegen der festzustellenden schweren Wesensveränderung sei aber die Berufung nach § 150 Nr. 3 SGG insoweit zulässig gewesen. Darauf habe der Kläger schon in seiner Berufungsbegründung hingewiesen. Mit näherer Begründung, auf die im einzelnen verwiesen wird, rügt der Kläger weitere wesentliche Verfahrensmängel des LSG hinsichtlich der geltend gemachten Pflegezulage und des Wirbelsäulenleidens sowie eine Verletzung der in der Kriegsopferversorgung (KOV) geltenden Kausalitätsnorm (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Im übrigen wird auf die Revisionsbegründung verwiesen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zu verwerfen.
Die gemäß §§ 164, 166 Abs. 2 SGG form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision ist zulässig. Da das LSG die Revision nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, findet sie nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).
Die Revision ist statthaft, denn der Kläger rügt mit Recht einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG. Er trägt dazu vor, das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, soweit sie die Höhe der MdE und die Anerkennung der schweren Wesensveränderung als weitere Schädigungsfolge betraf. Diese Rüge greift durch, denn die Berufung war zulässig. Der Kläger hat nämlich im Berufungsverfahren einen wesentlichen Mangel im Verfahren vor dem SG gerügt, der auch vorgelegen hat. Wenn sich auch der Kläger wegen der Zulässigkeit der Berufung auf § 150 Nr. 3 SGG bezieht, so ist nach dem Inhalt seines Vortrages in der Revisionsinstanz und seiner Berufungsbegründung vom 11. Juli 1961 doch die Rüge enthalten, das SG habe über sein Feststellungsbegehren, eine schwere Wesensveränderung als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen, nicht entschieden und damit § 123 SGG verletzt. Danach stellt sich der Vortrag des Klägers als Rüge einer Verletzung des § 150 Nr. 2 SGG durch das LSG dar.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 7. Dezember 1961 vor dem SG, auf die das Urteil folgte, u.a. beantragt, "unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide ... eine schwere Wesensveränderung als weitere Folge des festgestellten Versorgungsleidens anzuerkennen ...". Neben der Anfechtungs- und Leistungsklage war somit ersichtlich das Begehren des Klägers auch auf die Feststellung einer weiteren Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge durch das SG gerichtet. Hierüber mußte das SG in jedem Fall entscheiden, auch wenn das SG diesen Antrag als unzulässig oder unbegründet angesehen hätte. Das SG hat somit § 123 SGG verletzt, weil es über diesen Feststellungsantrag nicht entschieden hat. Es hat nur ausgeführt, daß - weil eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG in bezug auf die Höhe der MdE nicht vorliege - für die Versorgungsbehörde kein Anlaß bestanden habe, die anzuerkennenden Gesundheitsstörungen durch die Aufnahme der schweren Wesensveränderung in einem Bescheid zu vervollständigen. Das SG hat sich also nur dazu geäußert, ob die Versorgungsbehörde nach § 62 BVG verpflichtet gewesen wäre, einen verbindlichen Bescheid zu ändern, hat jedoch keine Entscheidung über den im sozialgerichtlichen Verfahren gestellten Antrag des Klägers auf Feststellung der schweren Wesensveränderung als Schädigungsfolge getroffen. Der Kläger hat - wie oben ausgeführt - vor dem LSG diesen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG auch sinngemäß gerügt, so daß die Berufung entgegen der Auffassung des LSG insoweit zulässig war. Das LSG hätte demnach anstelle eines Prozeßurteils ein Sachurteil fällen müssen. Das Verfahren des LSG leidet daher an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, so daß die Revision auf die entsprechende Rüge des Klägers hin statthaft ist, ohne daß es darauf ankommt, ob auch noch die übrigen vom Kläger gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des LSG gegeben sind.
Die Revision ist auch begründet, da das angefochtene Urteil auf diesem Mangel beruht. Zwar hat das LSG ausgeführt, daß dem Kläger kein Anspruch auf Anerkennung der schweren Wesensveränderung als Schädigungsfolge zusteht, weil diese Gesundheitsstörung nur ein Symptom der bereits anerkannten Gesundheitsstörungen ist; jedoch ist diese Feststellung für das Revisionsgericht nicht nach § 163 SGG bindend. Ist die Berufung nämlich als unzulässig verworfen, so sind Ausführungen des LSG darüber, daß der mit der Berufung geltend gemachte Anspruch auch nicht begründet ist, für das Revisionsgericht unbeachtlich (siehe dazu auch BSG in SozR SGG § 163 Bl. Da 1 Nr. 3; Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur SGb § 163 Anm. 2).
Mangels ausreichender Feststellungen des LSG konnte der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden. Das angefochtene Urteil war gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG in vollem Umfang aufzuheben und an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Zwar hat das LSG in dem angefochtenen Urteil über mehrere prozessuale Ansprüche, nämlich über die Gewährung einer höheren Rente, die Anerkennung einer weiteren Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge und die Gewährung von Pflegezulage entschieden, so daß grundsätzlich die Voraussetzungen für die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG für jeden Anspruch gesondert zu prüfen sind (BSG in SozR SGG § 162 Bl. Da 36 Nr. 121). Im vorliegenden Fall ist jedoch die Gewährung der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG von der durch die Hirnverletzung des Klägers bestehenden Höhe der MdE abhängig. Kommt das LSG bei der erneuten Prüfung etwa zu dem Ergebnis, daß die schwere Wesensveränderung beim Kläger als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen ist und daß der Kläger infolge der Hirnverletzung erwerbsunfähig ist, so wäre sein Anspruch auf Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG begründet. Demnach war das angefochtene Urteil auch insoweit aufzuheben, als es über den Anspruch des Klägers auf Pflegezulage entschieden hat.
Fundstellen