Leitsatz (amtlich)

Für die Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Versicherten einschließlich einer Anpassung und Gewöhnung iS des RVO § 622 Abs 1 reicht es nicht aus, daß eine solche unter Umständen eingetreten sein könnte, wenn dies nicht durch ein weiteres Ereignis - hier durch einen häuslichen Unfall - verhindert worden wäre.

 

Normenkette

RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. April 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Unter den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte die dem Kläger gewährte Dauerrente von 20 v. H. der Vollrente zu Recht mit Ablauf des Monats April 1966 entzogen hat.

Der im Jahre 1906 geborene Kläger erlitt am 16. April 1963 einen Arbeitsunfall mit einem Schien- und Wadenbeinbruch des linken Unterschenkels. Mit Bescheid vom 22. Februar 1965 setzte die Beklagte die erste Dauerrente mit 20 v. H. der Vollrente fest. Der Bescheid beruhte auf Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. Sch vom 9. Januar 1965 und der Ärzte Dr. K und Dr. P vom 12. Februar 1965.

Am 26. März 1965 erlitt der Kläger im häuslichen Bereich einen weiteren Unfall mit einem erneuten Schienbeinschrägbruch des linken Unterschenkels. Nach einem weiteren Gutachten von Dr. K und Dr. H vom 23. Februar 1966 ist gegenüber dem Gutachten vom Vorjahre eine wesentliche Besserung festzustellen; die Muskelminderung des linken Oberschenkels sei deutlich rückläufig. Die im übrigen zu erwartende Besserung bzw. Normalisierung der Umfangmaße des linken Unterschenkels sei als Folge des neuen häuslichen Unfalls ausgeblieben, durch den zweiten, häuslichen Unfall werde die zu erwartende weitere Besserung der Folgen des Arbeitsunfalls teilweise überdeckt. Die durch die Folgen des Arbeitsunfalles bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei nur noch mit 10 % einzuschätzen. Darauf erfolgte die Rentenentziehung mit Bescheid vom 14. März 1966.

Auf die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Dortmund mit Urteil vom 30. Oktober 1967 diesen Bescheid aufgehoben. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 7. April 1970 zurückgewiesen; die Voraussetzung des § 622 Reichsversicherungsordnung (RVO) für eine Rentenentziehung sei nicht gegeben. SG und LSG haben weitere Gutachten von Dr. Sch vom 14. Juli 1967 und von Prof. Dr. F vom 24. Oktober 1968 eingeholt. Dr. Sch weist darauf hin, daß die von Dr. K/Dr. H angenommene Rückläufigkeit der Muskelminderung - auch nach den von diesen Ärzten erhobenen Befunden - in Wirklichkeit nicht vorliege. Dr. Sch und Prof. Dr. F gehen jedoch davon aus, daß ohne den Eintritt des häuslichen Unfalls eine Änderung der Folgen des Arbeitsunfalls durch Anpassung und Gewöhnung eingetreten wäre. Prof. Dr. F meint, daß auch die Beugefähigkeit des linken Kniegelenkes etwas gebessert sei. Das LSG führt zur Begründung seines Urteils aus, es lasse sich nicht wahrscheinlich machen, daß gegenüber den im Gutachten vom 12. Februar 1965 erhobenen Befunden, die für den Dauerrentenbescheid vom 22. Februar 1965 maßgebend gewesen seien, eine so wesentliche Änderung eingetreten sei, daß sich die Rentenentziehung rechtfertigen lasse. Wenn auch der häusliche Unfall vom 26. März 1965 nicht auf die Verletzungsfolgen des Arbeitsunfalls zurückzuführen sei, so enthalte das Gutachten von Dr. K/Dr. H vom 23. Februar 1966 doch keine Begründung für die Annahme einer deutlichen Rückläufigkeit der Muskelminderung des linken Oberschenkels. Die Umfangmaße des linken Oberschenkels seien unverändert geblieben. Im übrigen habe Dr. Sch in einem am 14. Juli 1967 für das SG Dortmund erstatteten Gutachten dargelegt, daß derartige Muskelminderungen nicht selten bleibend seien. Wesentlicher sei, ob der Spannungszustand herabgesetzt sei. Das sei aber nicht der Fall. Eine wesentliche Besserung der Folgen des Arbeitsunfalls sei objektiv infolge der Überlagerung durch die Folgen des zweiten Unfalles nicht mit Sicherheit festzustellen. Die Rentenentziehung könne auch nicht damit gerechtfertigt werden, daß ohne das Hinzutreten des zweiten Unfallereignisses eine Besserung der Folgen des Arbeitsunfalls durch Anpassung und Gewöhnung an den Verletzungszustand eingetreten wäre. Eine nicht auf konkrete Anhaltspunkte gestützte, nur fiktive Annahme einer Besserung im Unfallfolgezustand reiche nicht aus, um den Erfordernissen des § 622 RVO für eine Rentenentziehung zu entsprechen.

Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.

Mit der von der Beklagten eingelegten Revision wird die Ansicht vertreten, der Nachweis einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen i. S. des § 622 Abs. 1 RVO sei auch dann geführt, wenn nach ärztlicher Erfahrung Anpassung und Gewöhnung an die Unfallfolgen eingetreten sei, obwohl eine objektiv nachweisbare wesentliche Besserung wegen eines weiteren von dem Arbeitsunfall unabhängigen Unfalls, von dem der gleiche Körperteil betroffen worden sei, nicht festgestellt werden könne. In dem im Berufungsverfahren erstatteten Gutachten vom 24. Oktober 1968 habe Prof. Dr. F die Auffassung vertreten, ohne den häuslichen Unfall wäre eine wesentliche Besserung durch Anpassung und Gewöhnung an die Arbeitsunfallfolgen eingetreten. Geringfügige Besserungen der Folgen des Arbeitsunfalles seien auch trotz des späteren Unfalles festzustellen, so daß die Rentenentziehung gerechtfertigt sei. Es sei nicht richtig, daß als Voraussetzung für die Annahme einer wesentlichen Änderung i. S. des § 622 RVO konkrete Anhaltspunkte gefordert werden müßten. Eine solche Änderung könne auch bei gleichbleibenden medizinischen Befunden in einer Anpassung und Gewöhnung an die Unfallfolgen bestehen. Da der häusliche Unfall das durch den Arbeitsunfall geschädigte Bein getroffen habe, könne der Nachweis einer objektiven Besserung nicht oder nur ungenügend geführt werden. Ein Besserungsnachweis lasse sich aber aufgrund medizinischer Erfahrungen führen, wie sie im Rahmen von Anpassung und Gewöhnung durch Zeitablauf gelten. Hiervon ausgehend hätte das LSG prüfen müssen, ob ohne den häuslichen Unfall eine wesentliche Besserung eingetreten wäre. Das LSG habe auch die Frage nicht berücksichtigt, ob eine Änderung der Verhältnisse durch eine Verschiebung der Wesensgrundlage begründet wäre. Selbst wenn der objektive Befund unverändert geblieben sei, könne die Ursache dieses Befundes nicht mehr die schädigende Einwirkung des Arbeitsunfalls, sondern eine andere, nicht durch den Arbeitsunfall gesetzte Ursache sein. Auch die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung seien durch das LSG überschritten worden. Es sei über die Feststellungen der Gutachter hinweggegangen und habe eine eigene Meinung an die Stelle medizinischer Erkenntnisse gesetzt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 30. Oktober 1967 und das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. April 1970 aufzuheben,

hilfsweise,

die Streitsache zur erneuten Verhandlung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Da alle Gutachter davon ausgingen, daß der häusliche Unfall vom 26. März 1965 nicht ursächlich auf den Unfall vom 16. April 1963 zurückgeführt werden könne, müßten sie davon ausgehen, daß zur Zeit des zweiten Unfalls bereits eine gewisse Anpassung und Gewöhnung an die Folgen des ersten Unfalles eingetreten und auch eine gewisse Standfestigkeit erreicht gewesen sei. Der zweite Unfall vom 26. März 1965 habe sich aber kurz nach der Festsetzung der Dauerrente im Bescheid vom 22. Februar 1965 ereignet, so daß der Zustand des Klägers zur Zeit der Bescheiderteilung etwa dem zur Zeit des zweiten Unfalles entsprochen habe. Wenn aber bereits zur Zeit der Rentenbewilligung eine weitgehende Anpassung und Gewöhnung eingetreten gewesen sei, sei die danach noch mögliche Anpassung und Gewöhnung ohne große Bedeutung und daher rechtlich nicht relevant.

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach § 622 Abs. 1 RVO ist dann, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung einer Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, eine neue Feststellung zu treffen. Die Rechtmäßigkeit des Rentenentziehungsbescheids vom 14. März 1966 hängt daher davon ab, ob in den Verhältnissen, die für den Dauerrentenbescheid vom 22. Februar 1965 maßgebend waren, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

Maßgebend für die Bewilligung einer Dauerrente von 20 v. H. der Vollrente im Bescheid vom 22. Februar 1965 waren die beiden von Dr. Sch und Dr. K/Dr. P erstatteten Gutachten vom 9. Januar und vom 12. Februar 1965. Das LSG ist ohne Verfahrensfehler zu dem Ergebnis gekommen, daß sich aus den späteren, vor und nach Erteilung des Rentenentziehungsbescheids erstatteten Gutachten keine wesentliche Änderung der erhobenen Befunde und des körperlichen und gesundheitlichen Zustandes des Klägers nachweisen läßt, die die Rentenentziehung rechtfertigen könnte, insbesondere daß keine Rückläufigkeit der Muskelminderung nachweisbar ist. Die geringfügige Besserung der Beugefähigkeit des linken Kniegelenks, die im Februar 1965 nur bis 50 Grad, im Februar 1966 jedoch bis ca 40 Grad möglich war, stellt hiernach keine wesentliche Änderung der Verhältnisse dar, die für die Rentengewährung maßgebend waren, weil sie zu geringgradig und zu wenig bedeutsam ist.

Auch die Feststellung, daß eine Anpassung und Gewöhnung an die Folgen des Arbeitsunfalls nicht nachweisbar ist, ist ohne Verfahrensfehler getroffen worden.

Für die Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen einschließlich einer Anpassung und Gewöhnung ergeben sich nach den fehlerfreien Feststellungen des LSG keine konkreten Anhaltspunkte. Für die Annahme einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 622 Abs. 1 RVO reicht nicht die Annahme aus, daß u. U. eine wesentliche Änderung eingetreten wäre, wenn ein sonstiges Ereignis, etwa eine anderweitige Erkrankung oder ein zweiter Unfall oder dergl., dies nicht verhindert hätte. Es muß vielmehr eine wirkliche und nicht nur eine fiktive Änderung nachweisbar sein.

Es stellt auch keinen Verfahrensfehler dar, daß das LSG nicht die Frage einer Verschiebung der Wesensgrundlage der erhobenen Befunde untersucht hat. Die vorliegenden Gutachten gehen nicht davon aus, daß ein unverändert gebliebener Befund auf andere Ursachen zurückzuführen ist, wenn sie darlegen, daß durch den häuslichen Unfall die zu erwartende weitere Besserung der Folgen des Arbeitsunfalls teilweise überdeckt und daher nicht nachweisbar ist oder daß ohne den zweiten, häuslichen Unfall eine Anpassung und Gewöhnung erfolgt wäre. Daher brauchte sich das LSG auch nicht veranlaßt zu fühlen, sich mit der Frage einer Änderung der Wesensgrundlage auseinanderzusetzen. Wenn aber nicht nachweisbar ist, daß in den Verhältnissen, die für die Bewilligung der Dauerrente maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, ist der Rentenentziehungsbescheid zu Recht aufgehoben worden, so daß die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden mußte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668743

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