Leitsatz (amtlich)

1. Die mit der militärischen Besetzung zusammenhängende besondere Gefahr iS des BVG § 5 Abs 1 Buchst d kann auch durch eine Unterlassung der Besatzungsmacht begründet werden, zB durch das Fehlen jeder Planung bei Verteilung spärlich vorhandener Arzneimittel an die Bevölkerung.

2. Ist zwar eine Zivilverwaltung formell eingesetzt, diese aber infolge der besonderen Besetzungsverhältnisse noch nicht funktionsfähig und daher nicht in der Lage, die ihr übertragenen Aufgaben auszuführen , so kann während einer gewissen Übergangszeit ein schädigender Vorgang noch der militärischen Besetzung zugerechnet werden (Fortführung BSG 1960-04-26 10 RV 240/57 = SozR Nr 26 zu § 5 BVG).

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerinnen wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Mai 1960 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Ehemann und Vater der Klägerinnen, H G (G.) leistete vom Beginn des zweiten Weltkrieges an militärischen Dienst, aus dem er im Sommer 1944 als dienstunfähig - nach Angaben der Klägerin zu 1) wegen Zuckerkrankheit und Herzasthma - entlassen wurde. Die Zuckerkrankheit wurde während eines Lazarettaufenthalts Ende 1943 festgestellt. In einem zusammenfassenden Bericht des Lazaretts wurde angenommen, die Entstehung der Zuckerkrankheit, eines konstitutionellen Leidens, sei durch den Wehrdienst begünstigt worden. Der Truppenarzt der Heeres-Entlassungsstelle verneinte eine Wehrdienstbeschädigung (WDB), weil Zuckerharnruhr ein anlagebedingtes Leiden sei und eine Verletzung der Bauchspeicheldrüse nicht stattgefunden habe. Nach den Angaben der Klägerin zu 1) ist ein Versorgungsverfahren anhängig gewesen, jedoch ein Bescheid nicht erteilt worden.

Im Januar 1945 wurde die Klägerin zu 1) als Postangestellte von Breslau nach Görlitz abgeordnet; sie nahm G. mit. Vor den russischen Truppen flohen beide nach Teplitz-Schönau, wurden hier nach der Besetzung ausgewiesen und kehrten im August 1945 nach Breslau zurück. Hier wurde G. als Modelltischler bei der Stadtverwaltung verpflichtet und erhielt als Facharbeiter keine Ausreisegenehmigung. Die Klägerin zu 1) versuchte, nachdem das letzte, von einem deutschen Arzt in Breslau erworbene Insulin verbraucht war, laufend Insulin mit Rezepten deutscher und später polnischer Ärzte zu beschaffen. Da ihr dies nicht gelang, wurde der Gesundheitszustand des G. immer schlechter; am 24. November 1946 verstarb er. Unmittelbar danach durften die Klägerinnen Breslau verlassen. Ihr Versorgungsantrag vom 30. Juli 1951 wurde auf Grund der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. L durch Bescheid vom 2. April 1954 abgelehnt, weil Zucker und Asthma des G. nicht auf wehrdienstliche Einflüsse zurückzuführen seien. Der Widerspruch blieb erfolglos; die Zuckerharnruhr sei durch Wehrdiensteinflüsse nicht verschlimmert worden und der Tod durch Insulinmangel in Breslau stelle keine Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) dar. Das Sozialgericht (SG) hob mit Urteil vom 3. April 1957 den ablehnenden Bescheid auf und verurteilte den Beklagten, der Klägerin zu 1) Witwenrente und der Klägerin zu 2) bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Waisenrente zu zahlen. Das SG sah den Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG darin, daß die polnische Verwaltung trotz des Insulinmangels G. als Modelltischler festgehalten und ihm die Ausreise versagt habe. Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 5. Mai 1960 das Urteil des SG auf, wies die Klage ab und ließ die Revision zu. Einflüsse des Wehrdienstes hätten die Zuckerkrankheit des G. weder hervorgerufen noch verschlimmert; auch 1944 sei schon ihr ursächlicher Zusammenhang mit dem Wehrdienst verneint worden. Auf den zusammenfassenden Bericht des Lazaretts könnten sich die Klägerinnen nicht stützen, weil darin die Beurteilung der WDB-Frage allein nach den Angaben des G. erfolgt sei mit dem Hinweis, sie müßten noch nachgeprüft werden. Der Insulinmangel hätte Versorgungsansprüche nur begründen können, wenn die ausreichende Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Medikamenten durch Maßnahmen der Besatzungsmacht - Beschlagnahme oder Vernichtung von Arzneimitteln oder Unterbindung ihrer Zufuhr - unmöglich gemacht worden wäre. Dafür fehle jeder Anhalt. Es habe sich offensichtlich um einen allgemeinen Insulinmangel gehandelt, der auch in den nicht unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Gebieten geherrscht habe. Das gehe aus der Angabe der Klägerin zu 1) hervor, auch die Polen hätten in Breslau kein Insulin bekommen. Wenn sie diese Angabe später auch dahin eingeschränkt habe, sie wisse nicht, ob die Polen nicht doch Insulin bekommen hätten, so sei ihr jedenfalls eine unterschiedliche Behandlung von Polen und Deutschen in der Insulinversorgung nicht bekannt geworden. Die Klägerin zu 1) habe sich verständlicherweise mit allen Mitteln um Insulin bemüht; dabei habe sie Einblick in die allgemeine Insulinversorgung erhalten, wobei ihr einseitig gegen die Deutschen in Breslau gerichtete Mißstände nicht verborgen geblieben wären. Ein Versorgungsanspruch könne auch nicht darauf gestützt werden, daß G. von der polnischen Zivilverwaltung die Ausreise verweigert wurde, denn Maßnahmen der polnischen Zivilverwaltung würden nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht von § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG erfaßt. Ähnliche Beschränkungen der Freizügigkeit hätten auch im übrigen Deutschland bestanden.

Die Revision der Klägerinnen rügt Verletzung der §§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und 5 Abs. 1 Buchst. d und e BVG. Sie beanstandet, das LSG habe sich nicht mit der Feststellung begnügen dürfen, es fehle jeder Anhalt dafür, daß der Insulinmangel in Breslau, bei dem es sich offensichtlich um einen allgemeinen Mangel gehandelt habe, auf Maßnahmen der Besatzungsmacht zurückzuführen sei. Hierzu sei eine nähere Aufklärung durch Einholung amtlicher Auskünfte - etwa vom Bundesminister für Vertriebene und von der Landsmannschaft der Schlesier - und eine Auswertung des zeitgenössischen Schrifttums über die Lage in Breslau im letzten Stadium der Kampfhandlungen und nach dem Zusammenbruch notwendig gewesen. Dabei hätte sich vermutlich ergeben, daß der Insulinmangel in Breslau in den Jahren 1945/46 auf Maßnahmen der Besatzungsmacht beruhte, so daß § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG anzuwenden gewesen wäre. § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG habe das LSG nicht geprüft, obwohl ein Vergleich der Lage in den Festungsstädten Königsberg und Breslau sich hätte aufdrängen müssen und aus BSG 2, 99, 105 ("Königsberg-Urteil") ersichtlich war, daß in derartigen Fällen Mangelzustände an Lebensmitteln und Medikamenten auch unter § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG fallen können. Feststellungen zu den hiernach wesentlichen Fragen, ob und welche kriegerischen Vorgänge den Mangel an Insulin, als örtlich und zeitlich bestimmbare kriegseigentümliche Gefahr hinterließen und ob diese für den Tod des G. ursächlich war, habe das LSG nicht getroffen. Die Klägerinnen beantragten zuletzt, die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen. Die Einholung der von der Revision vermißten allgemeinen Auskünfte über die Lage in Breslau sei angesichts der präzisen Angaben der Klägerin zu 1) entbehrlich gewesen; § 103 SGG sei daher nicht verletzt. § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG habe das LSG mit Recht nicht geprüft, da im vorliegenden Fall nur ein "kriegsbedingter" Mangel an Insulin, nicht aber eine "kriegseigentümliche" Gefahr in Betracht komme.

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist daher zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG). Sie erweist sich als begründet.

Die Verfahrensrüge der Revision greift nicht durch. Nach § 164 Abs. 2 SGG erfordert die Rüge eines Verfahrensmangels die Bezeichnung der den Mangel ergebenden Tatsachen und Beweismittel (vgl. BSG 1, 93). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist hierbei vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des Gerichts auszugehen, dessen Verfahren beanstandet wird (vgl. BSG 2, 84 und SozR SGG § 162 Da 21 Nr. 79, Da 37 Nr. 128). Eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) kommt daher nur in Betracht, wenn sich das Gericht von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus zu weiterer Sachaufklärung gedrängt sehen mußte (BSG in SozR § 103 Da 2 Nr. 7). Die Verfahrensrüge muß ergeben; auf Grund welcher Umstände die vermißte Sachaufklärung dem Vordergericht notwendig erscheinen mußte (BSG in SozR SGG § 103 Da 5 Nr. 14). Die Revision hat nur ausgeführt, das LSG habe keine ausreichenden Beweisunterlagen gehabt, um festzustellen, in Breslau habe ein allgemeiner Insulinmangel bestanden, und es fehle jeder Anhalt dafür, daß er auf die Besetzung zurückzuführen sei. Sie hat aber nicht dargelegt, warum das LSG auf Grund der erhobenen Beweise diese Feststellung als nicht ausreichend gesichert ansehen durfte und inwiefern darum zur Ergänzung der unzureichenden Beweisunterlagen die Einholung amtlicher Auskünfte erforderlich gewesen wäre. Da sich die Klägerin zu 1) nach ihrer von dem LSG als glaubhaft angesehenen Darstellung während eines Zeitraums von eineinhalb Jahren vergebens um Insulin bemüht und angegeben hatte, es habe in Breslau "einfach kein Insulin gegeben", bedurfte es einer näheren Darlegung, warum ihr bei dem vom LSG vorausgesetzten allgemeinen Insulinmangel in Deutschland keine zuverlässige und ausreichende Kenntnis von dem in Breslau bestehenden Mangel und seinen Ursachen zuzutrauen war. Dem Senat ist daher ein näheres Eingehen auf die Rüge nach § 103 SGG verwehrt.

Demnach ist für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG die erfolglos angegriffene Feststellung des LSG bindend, der Insulinmangel in Breslau könne nicht auf Maßnahmen der Besatzungsmacht (Beschlagnahme oder Vernichtung von Arzneimitteln, Unterbindung ihrer Zufuhr) zurückgeführt werden. Mit dieser Feststellung allein hat das LSG jedoch den durch Insulinmangel hervorgerufenen Kräfteverfall und Tod des G. noch nicht aus dem Kreis der schädigenden Vorgänge ausschließen dürfen, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind (§ 5 Abs. 1 Buchst. d BVG). Schädigende Vorgänge infolge besonderer - besatzungseigentümlicher - Gefahren können nämlich nicht nur auf "Maßnahmen" der Besatzungsmacht im Sinne eines vom LSG allein geprüften aktiven Handelns zurückzuführen sein. Zu Unrecht hat es nur die Beschlagnahme oder Vernichtung von Arzneimitteln oder die Unterbindung ihrer Zufuhr als Ursachen für den Insulinmangel in Betracht gezogen. Gefahren, die der Besetzung eigentümlich sind, können auch aus unterlassenen Maßnahmen entstehen und schädigende Vorgänge im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG zur Folge haben (BSG 8, 206). Daß die von der Besatzungsmacht getroffenen oder unterlassenen Maßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung gerichtet gewesen sein müßten, verlangt das Gesetz nicht. Entscheidend ist, wie der erkennende Senat in BSG 2, 99, 103 ausgeführt hat, ob die mit der Besetzung deutschen Gebiets in ihrem konkreten geschichtlichen Verlauf zusammenhängende Gefahr der Besetzung "eigentümlich" ist. Es würde daher für die Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG ausreichen, wenn die Besatzungsmacht die Versorgung der Stadt Breslau oder auch des gesamten besetzten Gebiets mit Insulin unterließ und hierdurch eine besondere, d. h. für die Besetzung charakteristische Gefahr begründet wurde, die den Tod des G. Ende November 1946 herbeigeführt oder wesentlich beschleunigt hat. Ein solcher Gefahrenzustand konnte insbesondere dadurch entstehen, daß den militärischen Bedürfnissen grundsätzlich Vorrang vor denen der Zivilbevölkerung eingeräumt wurde oder daß jede Planung, soweit es sich um die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung handelte, unterblieb und die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Arzneimitteln dem schwarzen Markt überlassen wurde und daher völlig zusammenbrach. Die deutsche Bevölkerung konnte bei Funktionsunfähigkeit der Verwaltung besonders hart dadurch betroffen sein (vgl. auch BSG 16, 195), daß die nach den vorliegenden Berichten umfangreichen Gaben aus amerikanischen Hilfsaktionen (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa Bd. I 1 S. 113 E) den Deutschen vorenthalten und ihnen nicht einmal in den Krankenhäusern Medikamente verabfolgt wurden (Dokumentation aaO Bd. I 2 S. 332). Wenn ferner gerade infolge des erhöhten Druckes der Besatzungsmacht Deutsche über das nach dem Zusammenbruch allgemein übliche Maß hinaus festgehalten und mit Gewalt zur Arbeit gezwungen wurden, obgleich sie krank waren und nur durch Arzneimittel, die an ihrem Wohnort nicht verfügbar waren, dem Tod entgehen konnten, so kann auch dies eine für die militärische Besetzung charakteristische Gefahrenlage begründet haben. Ob solche Umstände für den Tod des G. verantwortlich zu machen sind, kann annähernd nur durch Gegenüberstellung der Verhältnisse in Breslau einerseits (vgl. dazu Dokumentation aaO Bd. I 2 S. 330, 332 sowie Bd. I 1 S. 104 E, 113 E, 115 E) und in anderen ähnlich schwer zerstörten Städten (wie etwa Berlin, Hamburg) andererseits mit der nach § 1 Abs. 3 BVG erforderlichen Wahrscheinlichkeit ermittelt werden. Feststellungen hierzu hat das LSG jedoch nicht getroffen. Sein Urteil unterliegt somit schon deshalb der Aufhebung, weil es § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG zu eng ausgelegt hat und ohne die fehlenden Feststellungen nicht auszuschließen ist, daß die Entscheidung bei zutreffender Auslegung des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG anders ausgefallen wäre (§ 162 Abs. 2 SGG; Baumbach/Lauterbach, Komm. z. ZPO, 26. Aufl. § 549 Anm. 2 A; vgl. wegen der Verletzung von Verfahrensvorschriften BSG 2, 197; 8, 228).

Die Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG ist auch nicht etwa deswegen grundsätzlich ausgeschlossen, weil bereits im Jahre 1945, etwa am 1. Juli 1945 (Dokumentation aaO Bd. I 2 S. 330), ein polnischer Kommissar für die Zivilverwaltung ernannt worden ist. Das LSG hat sich auf die Entscheidung des BSG vom 26. April 1960 - 10 RV 240/57 - (SozR BVG § 5 Ca 12 Nr. 26) dafür bezogen, daß Maßnahmen der polnischen Zivil verwaltung regelmäßig keine besondere Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG begründen könnten. Der Senat stimmt dieser Entscheidung, die ausdrücklich nicht näher geprüft hat, ob der Tod infolge einer besonderen Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG eingetreten ist, grundsätzlich zu. Wenn, wie dort ausgeführt ist, der schädigende Vorgang "allein" auf Maßnahmen der Zivilverwaltung beruht, kann er in der Regel nicht mehr einer mit der Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängenden Gefahr zugerechnet werden. Für die Abgrenzung der besonderen Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG in den polnisch besetzten Gebieten kann es aber nicht ausschließlich auf den formellen Akt der Übertragung der Zivilverwaltung, die Einsetzung eines Kommissars, ankommen, wenn hierdurch die Verwaltung noch nicht funktionsfähig wurde, nämlich - unter dem Einfluß der durch die Besetzung geschaffenen Verhältnisse - gar nicht in der Lage war, die ihr übertragenen Aufgaben auszuführen. Das Handeln der Zivilverwaltung bleibt zwar eigenes Handeln auch dann, wenn sie unter der Aufsicht der Militärregierung steht und nur innerhalb der ihr erteilten Richtlinien tätig werden darf. Schädigende Einwirkungen können als Folgen eines eigenverantwortlichen Handelns der Zivilverwaltung aber nur angesehen werden, wenn diese nach ihrer Einsetzung wenigstens so funktionsfähig ist, daß sie ein Mindestmaß von Entschlossenheit zur Herstellung geordneter gesetzmäßiger Zustände entfalten kann. Nach den Berichten, die das Bundesministerium für Vertriebene über die polnische Verwaltung in den besetzten Gebieten herausgegeben hat, bestand in diesem Sinne jedenfalls bis Ende des Jahres 1945 noch keine hinreichend funktionsfähige Verwaltung. Hiernach kam es aus dem Nebeneinander polnischer Behörden und russischer Kommandanturen, die weiter bestehen blieben, zu einer langen Periode des Übergangs, in der sich fortgesetzt Überschneidungen polnischer und russischer Anordnungen ergaben, durch die die Rechtlosigkeit und die Unsicherheit gerade auch der deutschen Bevölkerung nur noch gesteigert wurde. Hinzu kam, daß die Verwaltung Übergriffen zugezogener polnischer Zivilpersonen, polnischer Miliz und plündernder polnischer Banden, die sich des deutschen Eigentums bemächtigten, ohnmächtig zusah. Die deutsche Bevölkerung konnte unter diesen Umständen nicht mehr unterscheiden, ob es sich im einzelnen Fall um Übergriffe einzelner Polen oder amtliche Maßnahmen handelte (Dokumentation aaO Bd. I 1 S. 104 E, 115 E; Bd. I 2 S. 328 ff) und konnte infolgedessen auch während dieser Zeit noch "besonderen Gefahren" im Sinne des Gesetzes ausgesetzt sein. Daraus würde sich ergeben, daß der durch die Besetzung geschaffene Zustand mit seinen besonderen Gefahren eine geraume Zeit auch nach Einsetzung der Zivilverwaltung, also möglicherweise noch im November 1946, nicht behoben, sondern unter Umständen noch vorschärft worden war.

Die Revision beanstandet weiter mit Recht, daß das LSG auch § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG bei seiner Entscheidung außer Acht gelassen hat. Zu den unmittelbaren Kriegseinwirkungen, die nach § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG die in ihrer Gesundheit beschädigten Personen und deren Hinterbliebene (§ 1 Abs. 5 BVG) zur Versorgung berechtigen, gehören nach § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG auch nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben. Zur Prüfung der von den Klägerinnen geltend gemachten Ansprüche unter diesem Gesichtspunkt bestand für das LSG nach Sachlage besonderer Anlaß, zumal es sich in den Entscheidungsgründen auf das sogenannte "Königsberg-Urteil" des erkennenden Senats (BSG 2, 99) bezogen hat. In diesem Urteil ist hervorgehoben, daß eine Hungersnot, die in einem vom Feind eingeschlossenen Gebiet infolge Vernichtung der notwendigen Vorräte an Nahrungs- und Heilmitteln durch Kampfmaßnahmen entstanden ist, sich als nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben (§ 5 Abs. 1 Buchst. e BVG), darstellen kann. Auch in dem dort entschiedenen Fall war der Tod des Beschädigten erst im Jahre 1946 eingetreten. In beiden Fällen handelte es sich um Festungsstädte, die durch Belagerung, Beschuß, Bombenwürfe und Straßenkämpfe besonders gelitten hatten. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG erfordert der "kriegseigentümliche Gefahrenbereich" im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG weder eine zeitliche noch eine örtliche Verbindung mit den kriegerischen Vorgängen, die diesen Gefahrenbereich geschaffen haben (vgl. BSG 1, 75; 6, 102, 103). Mangelerscheinungen allgemeiner Art, die sich nicht unmittelbar aus kriegerischen Vorgängen ergeben, sondern, wie etwa die Umstellung der Wirtschaft auf kriegswichtige Güter, nur kriegsbedingt sind, können allerdings nicht als kriegseigentümlicher Gefahrenbereich im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG angesehen werden. Es genügt für das Vorliegen eines kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs auch nicht, daß Gefahren in kriegseigentümlicher Weise entstanden sind; sie müssen vielmehr bis zum Eintritt des schädigenden Ereignisses kriegseigentümlich geblieben sein (BSG 7, 184). Offen zu Tage tretende kriegseigentümliche Gefahren verlieren die typische Verbindung mit dem Kriegsgeschehen, sobald die zur Absicherung gegen diese Gefahren vorhandenen zivilen Kräfte in der Lage sind, diese durch geeignete Maßnahmen zu beseitigen (BSG 2, 2; 4, 230; 7, 185). Ob im vorliegenden Fall der Insulinmangel in Breslau, dem G. ausgesetzt war, wesentlich auf die bei der Belagerung durch Beschuß, Bombenwürfe, Straßenkämpfe und Verteidigungssprengungen bewirkte Vernichtung von Medikamenten zurückzuführen ist oder ob es sich lediglich um einen durch die Kriegswirtschaft in ganz Deutschland entstandenen allgemeinen Insulinmangel handelte, hat das LSG nicht geprüft und festgestellt. Ungeprüft hat es auch gelassen, ob ein 1945 durch kriegerische Vorgänge entstandener Insulinmangel im wesentlichen auch 1946 noch den Kriegsereignissen zuzuschreiben war oder ob die in Breslau zur Beseitigung des Insulinmangels zuständigen Stellen in der Lage gewesen sind, diesem Mangel zumindest in den Fällen wirksam zu begegnen, in denen die Zuckerkrankheit ein akut lebensbedrohendes Stadium erreichte. Die Feststellung des LSG, es sei gerichtsbekannt, daß auch in den nicht unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Gebieten nach dem Zusammenbruch Insulinmangel geherrscht habe, ist in sachlicher und zeitlicher Hinsicht unzulänglich, insbesondere kommt es nämlich darauf an, welchen Grad der Insulinmangel erreichte, ob und warum er in Breslau in besonderem Maße auftrat und wie lange er andauerte. Der erkennende Senat konnte mangels dieser Feststellungen eine Entscheidung über die von den Klägerinnen erhobenen Ansprüche auch unter dem Gesichtspunkt des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG nicht treffen. Der Rechtsstreit war daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen.

Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das LSG wohl davon ausgehen dürfen, daß eine geordnete Versorgung der Stadt Breslau mit Nahrungs- und Arzneimitteln während der Kämpfe um die Stadt nicht mehr möglich war und daß infolgedessen unmittelbar nach dem Zusammenbruch eine Versorgung der Diabetiker mit Insulin zunächst nur noch aus Vorräten erfolgen konnte, die nach der weitgehenden Zerstörung der Stadt gering gewesen sein dürften. Das LSG wird dann zu klären haben, ob die Insulinversorgung in dem Zeitpunkt, in dem die Versorgung des G. mit Insulin spätestens wieder beginnen mußte, objektiv möglich war. Hierzu wird sich das LSG möglicherweise der Auskunft des Arztes bedienen können, von dem G. zuletzt Insulin erhielt; auch Auskünfte anderer deutscher Ärzte, die erst nach 1946 aus Breslau ausgewiesen wurden und deren Anschriften mit Hilfe der Vertriebenenverbände und der Standesvereinigungen der Ärzte ermittelt werden könnten, kämen zur Frage der Insulinversorgung in Breslau vom Zusammenbruch bis Ende 1946 in Betracht. Das Ergebnis dieser Ermittlungen wird sodann mit Auskünften von Krankenhäusern bzw. Gesundheitsbehörden vergleichbarer Städte (Berlin, Hamburg) über die Insulinversorgung in den Jahren 1945 und 1946 zu vergleichen sein. Dabei wird sich ergeben, ob sich in dem Zeitpunkt, in dem G. spätestens wieder ausreichend Insulingaben erhalten mußte, die ermittelten Verhältnisse in Breslau noch wesentlich von denen in Berlin oder Hamburg unterschieden. Zeigt sich, daß die Insulinversorgung zu dem kritischen Zeitpunkt in Breslau wesentlich schlechter war als in den vergleichbaren Städten, so wird zu prüfen sein, ob damit die Wahrscheinlichkeit besteht, daß der Tod des G. infolge Mangels an Insulin auf eine gerade mit der militärischen Besetzung Breslaus durch Rußland und später Polen zusammenhängende besondere Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG zurückzuführen ist. Ergibt sich im Vergleich zu den genannten Städten kein wesentlicher Unterschied in der Insulinversorgung, so ist u. U. weiter zu prüfen, ob es G. nur wegen seiner Arbeitsverpflichtung durch die polnische Besatzung unmöglich war, sich in ein (anderes) deutsches Gebiet mit besserer Insulinversorgung abzusetzen und dort - auch als Flüchtling - die für ihn lebensnotwendigen Dosen des Medikaments zu erhalten. Bejahendenfalls wäre zu erwägen, ob G. dadurch einer gerade der russisch-polnischen Besetzung deutschen Gebiets eigentümlichen Gefahr erlegen ist. Ist diese Frage zu verneinen, weil G. etwa zur kritischen Zeit wegen eines allgemeinen Mangels an Insulin in keinem Teil Deutschlands - auch nicht durch Vermittlung ausländischer caritativer Organisationen - ausreichende Dosen des Medikaments hätte erhalten können, so wäre vom LSG zu prüfen, ob der Gefahrenbereich des akuten Insulinmangels, dem G. schließlich zum Opfer fiel, als nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge und damit als kriegseigentümlich anzusehen ist.

Erst auf Grund dieser eingehenden Ermittlungen wird die endgültige Entscheidung des Rechtsstreits möglich sein. Bemerkt sei noch, daß die Annahme des LSG, nach der alten Karteikarte sei schon 1944 ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Wehrdienst verneint worden, nicht frei von Bedenken ist. Denn nach dieser Karteikarte ist die Zuckerkrankheit als WDB anerkannt und lediglich eine Versehrtheit (Rentengewährung) verneint worden. Das LSG wird daher u. U. auch zu erwägen haben, ob die bisher gerichtsärztlich nicht geprüfte Frage einer Verschlimmerung dieses Leidens durch den Wehrdienst weiterer Klärung bedarf und ob der Anspruch etwa aus § 38 BVG gerechtfertigt ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2375238

BSGE, 114

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