Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung eines arbeitsgerichtlichen Vergleichs
Orientierungssatz
Bei der Auslegung eines Vergleichs hat das Sozialgericht nach § 133 BGB nicht nur den Wortlaut des Vergleichs, sondern insbesondere den aus den Umständen erkennbaren Willen der Erklärenden zu berücksichtigen. Ist der Wortlaut in einzelnen Punkten widersprüchlich und daher auslegungsbedürftig, ist der Streitgegenstand im Zeitpunkt des Abschlusses des Vergleichs durch Beiziehung der Akten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens zu ermitteln.
Normenkette
SGG § 103 S 1, § 150 Nr 2; BGB § 133
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 14.07.1987; Aktenzeichen L 8 Al 260/86) |
SG Nürnberg (Entscheidung vom 16.07.1986; Aktenzeichen S 8 Al 350/85) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger Konkursausfallgeld (Kaug) zu zahlen hat.
Das Amtsgericht Nürnberg hat mit Beschluß vom 11. Januar 1984 die Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der Firma M. -B. GmbH mangels Masse abgelehnt. In diesem Unternehmen war der Kläger bis zum 2. Mai 1983 beschäftigt; er hatte jedoch die zu diesem Zeitpunkt ausgesprochene Kündigung seiner früheren Arbeitgeberin nicht hingenommen und in arbeitsgerichtlichen Verfahren neben einer Kündigungsschutzklage auch Leistungsansprüche geltend gemacht. In der Sache Ca 2758/83 hatten die Prozeßparteien einen Prozeßvergleich geschlossen, in dem ua folgendes geregelt war:
"I
Die Parteien sind darüber einig, daß das Arbeitsverhältnis zwischen ihnen am 02.05.1983 einverständlich beendet wurde.
II
Als Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes zahlt die Beklagte dem Kläger den Betrag von 2.200,-- DM brutto = netto.
III
Die Parteien sind darüber einig, daß damit alle gegenseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und aus dessen Beendigung gleich aus welchem Rechtsgrund abgegolten und erledigt sind."
Die Beklagte lehnte den am 5. Juni 1984 gestellten Antrag des Klägers auf Kaug durch den Bescheid vom 12. Juni 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juni 1985 mit der Begründung ab, dem Kläger sei durch den vorgenannten arbeitsgerichtlichen Vergleich nur eine Abfindung iS der §§ 9, 10 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) gewährt worden; diese Leistung sei kein Arbeitsentgelt iS des § 141b Abs 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) iVm § 59 Abs 2 Nr 3a der Konkursordnung (KO).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Kläger habe nicht substantiiert vorgetragen, in welcher Höhe und in welchem Zeitraum er Lohnausfall gehabt habe. Aus dem Wortlaut des arbeitsgerichtlichen Vergleiches ergebe sich eindeutig, daß dem Kläger eine Abfindung nur für den Verlust des Arbeitsplatzes gezahlt worden sei; diese Leistung falle nicht unter § 59 Abs 1 Nr 3a KO.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die - vom SG nicht zugelassene - Berufung als unzulässig verworfen: Das Leistungsbegehren des Klägers betreffe nur einen Anspruch auf eine einmalige Leistung, hinsichtlich der die Berufung gemäß § 144 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen sei. Das Rechtsmittel sei auch nicht nach § 150 Nr 2 SGG statthaft. Insbesondere habe das SG entgegen der Berufungsbegründung nicht dadurch gegen § 103 SGG verstoßen, daß es zur Auslegung des vor dem Arbeitsgericht Nürnberg am 20. September 1983 geschlossenen Vergleichs die diesem Vergleich zugrunde liegenden Prozeßakten des Arbeitsgerichts Nürnberg nicht beigezogen habe. Von seinem sachlich-rechtlichen Ausgangspunkt habe das SG allein aus dem Wortlaut des Vergleiches schließen dürfen, daß dem Kläger nur eine Abfindung gewährt werden sollte.
Der Kläger begründet seine - vom erkennenden Senat zugelassene - Revision mit einem Verstoß des LSG gegen § 150 Nr 2 SGG. Er habe bereits vor dem SG geltend gemacht, daß der Geldbetrag, den seine frühere Arbeitgeberin ihm nach Maßgabe des Vergleiches vom 20. September 1983 zu zahlen habe, nicht nur eine Abfindung iS der §§ 9, 10 KSchG, sondern auch Lohnrückstände umfasse. Dieser Inhalt des Vergleichs ergebe sich aus dem in der Sache selbst geltend gemachten Klagebegehren, so daß die sachgerechte Auslegung des Vergleichs nur anhand der Prozeßakten möglich gewesen sei. Da das SG trotz eines entsprechenden Antrages die Akte nicht beigezogen habe, sei ihm auch ein Verstoß gegen § 103 SGG unterlaufen, auf den er seine Berufung gestützt habe.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. Juli 1987 und des Sozialgerichts Nürnberg vom 16. Juli 1986 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. Juni 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juni 1985 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Konkursausfallgeld in Höhe von 2.000,-- DM zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 SGG).
Die Revision des Klägers führt unter Aufhebung des Berufungsurteils zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG; dieses hätte die Berufung des Klägers als zulässig ansehen und in der Sache selbst entscheiden müssen.
Das LSG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß die Berufung des Klägers grundsätzlich gemäß § 144 Abs 1 SGG ausgeschlossen war, weil der Kläger mit der Berufung nur eine Leistung iS dieser Vorschrift beansprucht hat. Das Rechtsmittel war aber nach § 150 Nr 2 SGG statthaft, denn das LSG hat die vom Kläger erhobene Rüge, das Verfahren erster Instanz leide an einem wesentlichen Verfahrensmangel, unzutreffend als unbegründet angesehen. Diese Voraussetzungen sind bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu prüfen (BSG SozR 1500 § 150 Nr 18).
Der Kläger hat zur Begründung seiner Berufung einen Verstoß des SG gegen § 103 SGG gerügt; diesen sieht er darin, daß das SG den arbeitsgerichtlichen Vergleich ohne Beiziehung der ihm zugrunde liegenden Prozeßakten des Arbeitsgerichts ausgelegt hat.
Dem SG ist auch der geltend gemachte Verfahrensmangel unterlaufen. Es ist davon ausgegangen, daß Abfindungen iS der §§ 9, 10 KSchG kein Arbeitsentgelt iS des § 141b Abs 2 AFG iVm § 59 Abs 1 Nr 3a KO sind. Dementsprechend kam es nach seiner - vom LSG zugrunde zu legenden - Rechtsauffassung darauf an, ob der dem Kläger von seiner ehemaligen Arbeitgeberin nach Maßgabe des arbeitsgerichtlichen Vergleiches zu zahlende Betrag ganz oder teilweise eine Abfindungszahlung iS der vorgenannten Vorschriften des KSchG war, oder ob die Vergleichssumme auch noch ganz oder teilweise offene Lohnansprüche des Klägers umfaßte.
Ob mit dem arbeitsgerichtlichen Vergleich das eine oder das andere gewollt war, hatte das SG durch Auslegung des Prozeßvergleichs, bei dem es sich sowohl um eine rechtsgeschäftliche als auch um eine Prozeßerklärung handelt, zu ermitteln; bei der Auslegung hatte das SG nach § 133 BGB nicht nur den Wortlaut des Vergleichs, sondern insbesondere den aus den Umständen erkennbaren Willen der Erklärenden zu berücksichtigen. Der Wortlaut des Vergleichs ist in seinen Positionen I bis III zumindest widersprüchlich und daher auslegungsbedürftig. Für die Entscheidung über den Inhalt des Prozeßvergleichs war es deshalb unerläßlich, aus den Gerichtsakten des Verfahrens, in dem der Vergleich geschlossen worden ist, den Streitgegenstand im Zeitpunkt des Abschlusses dieses Vergleiches zu ermitteln. Das SG hat auch nicht hinreichend berücksichtigt, daß der Kläger keine Substantiierungspflicht hinsichtlich der Höhe und des Zeitraumes des Lohnausfalles gehabt hat. Dementsprechend hätte das SG die Entscheidung, bei dem Betrag, den seine ehemalige Arbeitgeberin nach Maßgabe des Vergleiches zu zahlen hatte, habe es sich nur um eine Abfindung iS des KSchG gehandelt, nur nach Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel treffen können. Hierzu gehörte auch die Ermittlung des Verfahrensgegenstandes des arbeitsgerichtlichen Verfahrens, das sich nicht allein aus dem Wortlaut des Vergleichs, sondern aus den Gesamtumständen, insbesondere aus dem gesamten Klagevorbringen im Zeitpunkt des Abschlusses dieses Vergleiches, ergab.
Da der Kläger diesen Mangel bereits in der Berufungsbegründung ordnungsgemäß gerügt hatte, mußte das LSG die Berufung als zulässig ansehen und in der Sache selbst entscheiden. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß das LSG nach Beiziehung der Verfahrensakten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens den Inhalt des Vergleichs anders festgestellt hätte. Deshalb war sein Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Sollte das LSG bei seiner Prüfung zu dem Ergebnis gelangen, daß in dem von der früheren Arbeitgeberin des Klägers vergleichsweise zu zahlenden Betrag auch Arbeitsentgelt enthalten ist, wird es weiter zu prüfen haben, ob der Kläger die Antragsfrist iSd § 141e Abs 1 AFG gewahrt hat. Schließlich könnte dann auch die Frage zu erwägen sein, ob die für das Ruhen des Anspruchs auf das Arbeitslosengeld geltende Vorschrift des § 117 Abs 2 AFG in einem Fall wie diesem entsprechende Anwendung zu finden hat.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen