Leitsatz (amtlich)
In dem Widerspruchsbescheid sind die Beteiligten nach SGG § 85 Abs 3 Satz 2 nicht nur darüber zu belehren, daß die Klage zulässig ist, sondern auch darüber, daß die Klage bei dem zuständigen SG schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle dieses Gerichts zu erheben ist. Fehlt der Hinweis darauf, daß die Klage auch zur Niederschrift des Urkundsbeamten erhoben werden kann, so beträgt die Klagefrist nicht einen Monat (SGG § 87), sondern ein Jahr (SGG § 66 Abs 2 S 1 Halbs 1).
Normenkette
SGG § 66 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 85 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 90 Fassung: 1953-09-03, § 91 Fassung: 1953-09-03, § 87 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 16. Dezember 1955 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin beantragte die Gewährung von Elternrente auf Grund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nach ihrem seit dem Jahre 1942 als Soldat vermißten Stiefsohn Wilhelm G.... dem Sohn ihres ersten Ehemanns Jakob G.... Das Versorgungsamt Braunschweig lehnte den Rentenantrag durch Bescheid vom 13. Juni 1952 ab. Die Widerspruchsstelle des Landesversorgungsamts Niedersachsen wies den Widerspruch der Klägerin durch Bescheid vom 3. Februar 1955 zurück. Der Widerspruchsbescheid wurde an demselben Tag mittels eingeschriebenen Briefes an die Klägerin abgesandt und ihr am 5. Februar 1955 durch die Post zugestellt. Er enthielt am Schlusse folgende Rechtsmittelbelehrung:
"Gegen diesen Bescheid steht Ihnen innerhalb eines Monats nach seiner Zustellung die Klage beim Sozialgericht Braunschweig in Braunschweig, Wolfenbütteler Straße 2, zu. Der Klageschrift sowie sonstigen Schriftsätzen und nach Möglichkeit Unterlagen sind Abschriften für die Beteiligten beizufügen.
Die Klage soll die Beteiligten und den Streitgegenstand bezeichnen und einen bestimmten Antrag enthalten. Sie soll den angefochtenen Widerspruchsbescheid bezeichnen und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Tagesangabe unterzeichnet sein."
Die Klägerin hat den ablehnenden Bescheid mit der Klage angefochten. Ihre Klageschrift ging am 9. März 1955 beim Sozialgericht (SG.) Braunschweig ein. Das SG. wies die Klage durch Urteil vom 22. September 1955 wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig ab. Das Landessozialgericht (LSG.) Celle wies aus dem gleichen Grunde durch Urteil vom 16. Dezember 1955 die Berufung der Klägerin zurück. Es führte hierzu aus: Nach § 4 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes gelte der Widerspruchsbescheid als am 6. Februar 1955 zugestellt. Die Klägerin habe daher die Klage bis zum Ablauf des 7. März 1955 (Montag) bei dem SG. erheben müssen. Die Klagefrist von einem Monat (§ 87 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) sei durch die Zustellung des Widerspruchsbescheides in Lauf gesetzt worden, da er eine eindeutige und zutreffende Rechtsmittelbelehrung enthalte, die den in § 85 Abs. 3 SGG aufgestellten Erfordernissen genüge. Nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes sei es nicht erforderlich, daß in dem Widerspruchsbescheid auch über den Inhalt des § 91 Abs. 1 SGG (Fristwahrung durch Eingang der Klageschrift bei anderen Behörden) und über die zulässigen Formen der Klageerhebung (§ 90 SGG) belehrt werde. § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG stelle eine solche Forderung nicht auf, selbst wenn sie für andere Rechtsbehelfe aus § 66 SGG entnommen werden könnte. Im vorliegenden Fall habe die Klägerin die Frist aus Unaufmerksamkeit versäumt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Klagefrist könne der Klägerin nicht gewährt werden, da ein gesetzlicher Grund (§ 67 SGG) nicht ersichtlich sei. Das LSG. ließ die Revision zu.
Mit Beschluß des Senats vom 25. Juni 1956 ist der Klägerin auf ihren am 3. Februar 1956 eingegangenen Antrag das Armenrecht bewilligt worden. Sie hat alsdann mit dem am 4. Juli 1956 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Schriftsatz ihres beigeordneten Prozeßbevollmächtigten vom gleichen Tage gegen das ihr am 10. Januar 1956 zugestellte Urteil des LSG. Revision eingelegt, gleichzeitig die Revision begründet und um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen etwaiger Versäumung der Revisionsfrist gebeten.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das LSG. zurückzuverweisen. Sie begründet die Revision damit, daß das angefochtene Urteil auf einer Verletzung des § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG beruhe. Die Klageerhebung gegen den Widerspruchsbescheid sei eine Art Rechtsmittel. Nach § 66 SGG hätte in die Rechtsmittelbelehrung der Hinweis aufgenommen werden müssen, daß die Klage nicht nur schriftlich, sondern auch zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erhoben werden könne.
Der Beklagte beantragt, nach Lage der Akten zu entscheiden.
Die formgerecht eingelegte Revision (§ 164 SGG) der Klägerin ist infolge ihrer Zulassung durch das LSG. (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthaft. Zwar hat die Klägerin sowohl die Revision als auch die Revisionsbegründungsfrist versäumt. Sie hat aber noch während der Revisionsfrist ein Gesuch zur Erlangung des Armenrechts unter Beifügung eines Armutszeugnisses beim BSG. eingereicht. Sie hat auch die versäumten Rechtshandlungen innerhalb eines Monats seit Zustellung des Beschlusses, durch den ihr das Armenrecht bewilligt worden war, formgerecht nachgeholt. Gegen die Versäumung dieser Fristen wird ihr daher die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs. 1 SGG gewährt. Die hiernach zulässige Revision ist auch begründet.
Die Klägerin hat entgegen der Ansicht des LSG. die Klagefrist nicht versäumt. Am 9. März 1955, dem Tage des Eingangs der Klageschrift, war die Klagefrist noch nicht abgelaufen. Die am 6. Februar 1955 als bewirkt geltende Zustellung des Widerspruchsbescheides hat nicht die Frist von einem Monat nach § 87 SGG, die im Regelfall für die Erhebung der Klage gilt, sondern die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG in Lauf gesetzt; denn die Belehrung in dem Widerspruchsbescheid über die Zulässigkeit der Klage war in einem wesentlichen Punkt unvollständig (§ 66 Abs. 2 SGG). Die Widerspruchsstelle des Landesversorgungsamts hat es unterlassen, in der Belehrung des Widerspruchsbescheides darauf hinzuweisen, daß die Klage entweder schriftlich bei dem als zuständig bezeichneten SG. Braunschweig oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle dieses Gerichts erhoben werden muß (§ 90 SGG).
§ 85 Abs. 3 Satz 2 SGG schreibt vor, daß in dem Widerspruchsbescheid die Beteiligten "über die Zulässigkeit der Klage, die einzuhaltende Frist und den Sitz des zuständigen Gerichts" zu belehren sind. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Vorschriften in § 66 Abs. 1 SGG, die einen Teil der "Allgemeinen Vorschriften" (Erster Unterabschnitt des Ersten Abschnittes im Zweiten Teil des SGG) bilden, auf das im Dritten Unterabschnitt geregelte "Vorverfahren", das nicht ein gerichtliches, sondern ein Verwaltungsverfahren ist, unmittelbar anzuwenden sind. Weder § 66 Abs. 1 noch § 85 Abs. 3 SGG erfordern nach ihrem Wortlaut eine Belehrung darüber, in welcher Form der zulässige Rechtsbehelf anzubringen ist. In beiden Fällen ist aber aus dem Zweck der vorgeschriebenen Belehrung zu schließen, welchen Mindestinhalt sie haben muß. Eine Belehrung über die Zulässigkeit der Klage ist nur dann sinnvoll, wenn der Beteiligte dadurch in den Stand gesetzt wird, alles zu tun, was von seiner Seite aus nötig ist, damit er eine Klage rechtswirksam erheben kann. Bei der Auslegung des § 66 Abs. 1 SGG hat das BSG. angenommen, daß die Pflicht des Gerichts, die Beteiligten über ein Rechtsmittel zu "belehren" mehr bedeutet, als nur die Pflicht, das Rechtsmittel zu bezeichnen, und daß eine richtige Belehrung den Beteiligten es ermöglichen muß, die ersten Schritte zu unternehmen, mit denen sie ihre Rechte zur Anfechtung einer Entscheidung wahren können (vgl. BSG. 1 S. 194 [195], S. 227 [229]). Im Sinne dieser Rechtsprechung, welcher der Senat bisher gefolgt ist, liegt es, daß auch die für einen Widerspruchsbescheid nach § 85 Abs. 3 SGG vorgeschriebene Belehrung nur dann als vollständig angesehen wird, wenn sie auch darauf hinweist, daß die Klage bei dem zuständigen Sozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle dieses Gerichts zu erheben ist. Diese beiden Formen der Klageerhebung sind in § 90 SGG dem Kläger wahlweise zur Verfügung gestellt. Aus ihrer Verbindung mit dem Wort "oder" ergibt sich, daß das Gesetz keiner von ihnen den Vorzug vor der anderen geben will und daß der Kläger selbst zwischen ihnen frei wählen darf. Deshalb muß er auch darüber unterrichtet werden, daß es für ihn zwei Möglichkeiten gibt, die Klage formgerecht zu erheben. Soweit in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid ein Hinweis auf die eine oder andere Möglichkeit fehlt, ist die notwendige Belehrung unterblieben.
Unerheblich ist, wie das LSG. mit Recht angenommen hat, daß der Widerspruchsbescheid nicht über die in § 91 SGG vorgesehenen Möglichkeiten, die Klagefrist durch Einreichung der Klageschrift bei einer unzuständigen Stelle zu wahren, belehrte. § 91 SGG hat nicht den Zweck, dem Kläger ein bestimmtes Verhalten bindend vorzuschreiben, sondern will nur Vorsorge treffen, daß eine an sich versäumte Frist als gewahrt gilt (vgl. Urteil des BSG. vom 14.1.1958 - 11/8 RV 97/57 -).
Welche Folgen eintreten, wenn in einem Widerspruchsbescheid die vorgeschriebene Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt ist, läßt sich dem § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG nicht unmittelbar entnehmen. Nur soviel ergibt sich aus seiner Fassung als Mußvorschrift, daß der Gesetzgeber keinesfalls ein Gesetz geschaffen hat, dessen Verletzung wirkungslos bleiben sollte.
Nach der Gliederung des SGG gehört die Regelung jener Folgen für die Klageerhebung nicht in § 85, sondern in § 66 und hat auch tatsächlich dort ihren Platz gefunden. Unter einem "Rechtsbehelf" ist jedenfalls die Anfechtungsklage zu verstehen, die ein Beteiligter erheben muß, wenn er die bindende Wirkung eines ihn beschwerenden Verwaltungsaktes (§ 77 SGG) abwenden will. Im vorliegenden Falle kommt der Klage, die der Klägerin gegen den Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1955 zustand, die Eigenschaft eines Rechtsbehelfes im Sinne des § 66 SGG zu. Da die Belehrung in dem Widerspruchsbescheid in einem wesentlichen Punkt unvollständig und insoweit "unterblieben" war, folgt aus § 66 SGG, daß die Frist für die Erhebung der Klage, mit welcher der Widerspruchsbescheid angefochten werden konnte, nicht einen Monat betrug, wie es § 87 SGG vorschreibt, sondern ein Jahr. Diese Frist ist gewahrt. Auf einer unrichtigen Anwendung der §§ 66, 85 SGG beruhen die Urteile des LSG. und des SG.
Da mithin die Revision begründet ist, mußte der erkennende Senat das Berufungsurteil aufheben. Er konnte aber den Streit nicht selbst materiell-rechtlich entscheiden, weil es an den tatsächlichen Feststellungen fehlt, die eine rechtliche Beurteilung des streitigen Anspruchs auf Elternrente ermöglichen. Hiernach mußte der Rechtsstreit gemäß § 170 Abs. 2 SGG dem Antrag der Klägerin entsprechend an das LSG. zurückverwiesen werden.
Die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 2340679 |
BSGE, 1 |