Leitsatz (amtlich)
Hat das Sozialgericht den Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente (BVG § 29) für unbegründet erachtet, weil ein bestimmtes Leiden nicht Schädigungsfolge sei, und stützt der Kläger im Berufungsverfahren seinen Anspruch noch auf andere Gesundheitsstörungen, so muß das Landessozialgericht gemäß SGG § 157 auch die erst im Berufungsverfahren vorgebrachten Tatsachen berücksichtigen und prüfen, ob sie nach sachlichem Recht erheblich sind. Ein Verstoß gegen diese Pflicht ergibt einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des SGG § 162 Abs 1 Nr 2.
Normenkette
SGG § 157 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; BVG § 29 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 6. Juni 1956 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger, der von 1940 bis Mai 1945 Soldat und anschließend bis September 1945 kriegsgefangen war, beantragte am 19. September 1951 die Gewährung einer Beschädigtenrente wegen Nervenstörungen und anderer Leiden, die er auf einen Motorradsturz, insbesondere auf den Wehrdienst im Winterfeldzug gegen Rußland 1941/42 und auf eine Hirnoperation in Smolensk zurückführte. Das Versorgungsamt Wiesbaden erkannte im Bescheid vom 1. Juni 1954 "reizfreie Narbe am Hinterhaupt ohne nervöse Ausfallerscheinungen" als Schädigungsfolge an, lehnte aber die Gewährung einer Rente nach § 29 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ab, weil die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch diese Gesundheitsstörungen nicht wenigstens um 25 % beeinträchtigt werde. In dem Bescheid heißt es weiter, die rechtsseitige Schwerhörigkeit bei chronischer Mittelohreiterung und die linksseitige, durch Trommelfellnarben bedingte unwesentliche Schwerhörigkeit seien nicht durch den Wehrdienst entstanden. Die Sehstörung beider Augen sei durch eine angeborene Übersichtigkeit mit Stabsichtigkeit verursacht. Für die weiter geltend gemachten Leiden hätten sich keine Anhaltspunkte ergeben. Dem Widerspruch des Klägers wurde durch Bescheid des Landesversorgungsamts Hessen vom 11. Oktober 1954 nicht abgeholfen.
Hiergegen erhob der Kläger Klage, und zwar - nach dem Tatbestand des Urteils des Sozialgerichts (SG.) Wiesbaden - mit dem Antrag, den Beklagten zu verurteilen, die chronische Mittelohreiterung, die Sehstörung beider Augen und Gleichgewichtsstörungen als Schädigungsfolgen anzuerkennen. Nach der Niederschrift über die mündliche Verhandlung hat der Kläger beantragt, das bei ihm vorliegende Nervenleiden als Schädigungsfolge anzuerkennen und entsprechende Leistungen zu gewähren. Auf Befragen durch den Vorsitzenden führte er "seine ganzen Beschwerden auf die erfolgte Operation" zurück. Das SG. wies durch Urteil vom 26. Mai 1955 die Klage ab, da die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht mit der vom Gesetz geforderten Wahrscheinlichkeit als Schädigungsfolgen angesehen werden könnten. Insbesondere sei nicht feststellbar, daß der Kläger (im Jahre 1942) am Hinterkopf operiert worden ist.
Im Berufungsverfahren beantragte der Kläger, Blindheit, dauernde Mittelohrentzündung und Gleichgewichtsstörungen als Schädigungsfolgen anzuerkennen und ihm eine entsprechende Rente zu gewähren. Das Hessische Landessozialgericht (LSG.) wies mit Urteil vom 6. Juni 1956 die Berufung des Klägers zurück. Es führte aus, der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung vor dem SG., wie die Sitzungsniederschrift ergebe, nur die Anerkennung des Nervenleidens als Schädigungsfolge und die Gewährung einer Rente beantragt. Infolgedessen sei durch das angefochtene Urteil nur hierüber entschieden. Der darüber hinausgehende, in der Berufungsinstanz gestellte Antrag könne nicht Gegenstand der Urteilsfindung sein, weil eine Entscheidung des SG. über diese weiteren Gesundheitsstörungen nicht vorliege. Das Nervenleiden des Klägers sei durch den Wehrdienst nicht verursacht worden.
Der Kläger hat gegen das ihm am 15. Juni 1956 zugestellte Urteil des LSG. am 30. Juni 1956 Revision eingelegt und sie zugleich begründet. Er beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG. zurückzuverweisen, hilfsweise, den Beklagten zu verurteilen, ihm eine Beschädigtenrente zu zahlen.
Der Kläger rügt die Verletzung der §§ 106, 112, 157 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und macht geltend, das LSG. gehe zu Unrecht davon aus, daß er in der mündlichen Verhandlung vor dem SG. nur die Anerkennung seines Nervenleidens als Schädigungsfolge beantragt habe. Die Auffassung des LSG., daß es über den darüber hinausgehenden Berufungsantrag nicht habe entscheiden dürfen, sei rechtlich nicht haltbar. Auf jeden Fall habe der Vorsitzende nach § 106 SGG die Pflicht gehabt, darauf hinzuwirken, daß er seinen Antrag sachdienlich formuliere. Eine Beschränkung des Streitstoffs in der Berufungsverhandlung sei dem SGG fremd, § 157 besage das Gegenteil. Der Kläger rügt außerdem eine Verletzung des Gesetzes bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs und wiederholt zur Begründung dieser Rüge, er sei bei seiner Einberufung zum Heeresdienst kriegstüchtig gewesen und habe den furchtbaren Winter 1942 an der Ostfront mitgemacht. Unter diesen Umständen sei die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Kriegsdienst und der Gesundheitsschädigung so groß und offensichtlich, daß derjenige, welcher diesen Ursachenzusammenhang bestreiten wolle, eine andere Ursache für die Gesundheitsschädigung nachweisen müsse. Schließlich erblickt der Kläger eine Verletzung des § 112 SGG darin, daß sein Schriftsatz vom 1. Februar 1956 in der mündlichen Verhandlung nicht vorgetragen, nicht einmal erwähnt worden sei.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen oder als unbegründet zurückzuweisen.
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision (§ 164 SGG) ist statthaft, weil der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel rügt, der auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Der Kläger rügt mit Recht, daß das LSG. den Umfang seiner Prüfungspflicht nach § 157 SGG verkannt und infolgedessen es abgelehnt hat, über den gesamten Streitstoff zu entscheiden. Das LSG. hat den § 157 SGG dadurch verletzt, daß es nur darüber entschied, ob das Nervenleiden des Klägers Schädigungsfolge ist und ob ihm allein wegen dieses Leidens ein Anspruch auf Beschädigtenrente nach § 29 BVG zusteht.
Streitgegenstand im gerichtlichen Verfahren war - wie sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem SG., aus dem Berufungsantrag und dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ergibt - das Begehren des Klägers, den Bescheid des Versicherungsamts Wiesbaden vom 1. Juni 1954 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm eine Beschädigtenrente zu gewähren. Was auch immer der Kläger vorgebracht hat, um darzutun, daß er durch den Militärdienst gesundheitlichen Schaden erlitten habe, und alle Behauptungen, daß er an gewissen Krankheiten leide, dienten lediglich dazu, den einheitlichen Anspruch auf Rente und damit die Leistungsklage zu begründen. Sein Vorbringen und seine Anträge können bei verständiger Würdigung nicht so aufgefaßt werden, daß er nur eine Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) erheben wollte (vgl. auch BSG. 5, 121 ff.).
Nach § 157 Satz 2 SGG hat das LSG. auch die erst im Berufungsverfahren vorgebrachten Tatsachen zu berücksichtigen und zu prüfen, ob sie nach sachlichem Recht erheblich sind. In diesem Sinne sind alle Behauptungen des Klägers beachtlich, mit denen er dartun will, daß gewisse Leiden bei ihm bestehen, mit dem Wehrdienst zusammenhängen und seine Erwerbsfähigkeit wenigstens um 25 v.H. beeinträchtigen (§ 29 BVG). Soweit das Gericht das Vorbringen nicht ohne weiteres als bewiesen ansieht, hat es nach § 103 SGG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Es hat seiner Entscheidung über eine Leistungsklage in ihrer ursprünglichen oder nachträglich geänderten Gestalt (§ 99 SGG) die Tatsachen zugrunde zu legen, die bis zum Schlusse der letzten mündlichen Verhandlung vorgebracht oder von ihm aufgeklärt worden sind (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG; SozR. SGG § 54 Bl. Da 2 Nr. 5). Dies gilt für das Berufungsgericht auch dann, wenn sie dem Gericht des ersten Rechtszuges noch nicht zur Beurteilung unterbreitet waren. Das LSG. hat im vorliegenden Fall infolge einer unrichtigen Auffassung seiner Aufgaben als Berufungsgericht ein fehlerhaftes Verfahren eingeschlagen. Dieser Mangel ist wesentlich, woraus sich die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG ergibt.
Die Revision ist daher zulässig (§ 169 Satz 1 SGG). Sie ist auch begründet; denn das angefochtene Urteil beruht auf dem festgestellten Verfahrensmangel. Es ist möglich, daß das LSG. zu einer dem Kläger günstigen Entscheidung gekommen wäre, wenn es das Vorbringen des Klägers hinsichtlich seines Krankheitszustandes in vollem Umfang geprüft hätte. Wegen der Verletzung des § 157 SGG war das angefochtene Urteil aufzuheben, ohne daß geprüft zu werden brauchte, ob das Verfahren auch noch auf anderen vom Kläger gerügten Mängeln beruht. Für die Beweislast gelten die Grundsätze, die in dem Urteil vom 24. Oktober 1957 - 10 RV 945/55 - (NJW. 1958, 39) ausgesprochen sind. Der Senat hat die Sache an das LSG. zur erneuten Verhandlung und Entscheidung gemäß § 170 Abs. 2 SGG zurückverwiesen, da der Sachverhalt, auf den der Kläger seinen Rentenanspruch stützt, noch nicht gerichtlich festgestellt ist und eine Sachentscheidung durch den Senat selbst nicht möglich war.
Die Entscheidung im Kostenpunkt bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 2340676 |
BSGE, 297 |