Leitsatz (amtlich)
Ist einem Elternteil Familienunterhalt auf Grund der in Nr 1 Abs 4 VV zu BVG § 50 genannten Gesetze für 3 Söhne gewährt worden, so kann hieraus allein nicht der Schluß gezogen werden, daß der jüngste, gefallene Sohn der Ernährer des überlebenden Elternteils im Sinne des BVG § 50 Abs 1 gewesen ist. Zieht das LSG einen solchen Schluß, so überschreitet es die gesetzlichen Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung (SGG § 128 Abs 1 S 1).
Leitsatz (redaktionell)
1. Wenn Familienunterhalt für mehrere Kinder gewährt wurde, dann kann hieraus zunächst nur gefolgert werden, daß die Kinder in ihrer Gesamtheit Ernährer der Eltern gewesen sind.
2. Ein Elternteil, der kein eigenes Einkommen bezieht, ist nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen insoweit nicht bedürftig, als er einen durchsetzbaren Unterhaltsanspruch in Höhe der Einkommensgrenzen des BVG § 51 Abs 2 hat.
Normenkette
BVG § 50 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, Abs. 2 Fassung: 1950-12-20; SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03; BVG § 51 Abs. 2 Fassung: 1956-06-06; BVGVwV § 50 Nr. 1 Abs. 4
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 15. Dezember 1955 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die am 20. Oktober 1888 geborene Klägerin beantragte am 29. Mai 1951 beim Versorgungsamt I Berlin, ihr Elternrente auf Grund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nach ihrem am 29. August 1922 geborenen und am 14. Februar 1945 gefallenen Sohn H... W... G... von Beruf Feinmechaniker, zu gewähren. Das Versorgungsamt lehnte mit Bescheid vom 4. Dezember 1952 den Antrag ab. Das Landesversorgungsamt Berlin gab dem Einspruch nicht statt, da der Sohn Heinz nicht der Ernährer der Klägerin gewesen sei und nicht geworden wäre. Das Sozialgericht (SG.) Berlin sprach mit Urteil vom 12. November 1954 der Klägerin Elternrente für die Zeit vom 1. Mai 1951 an zu, da der gefallene Sohn ihr Ernährer geworden wäre und sie selbst bedürftig sei (§ 50 BVG). Gegen dieses Urteil legte der Beklagte Berufung ein.
Das Landessozialgericht (LSG.) Berlin änderte mit Urteil vom 15. Dezember 1955 das Urteil des SG. und verurteilte den Beklagten, der Klägerin ab 1. Februar 1953 Elternrente zu zahlen "in Höhe von 50 v.H. des im § 51 Abs. 1 BVG für einen Elternteil festgelegten Betrages". Da die Klägerin für den gefallenen Sohn von seiner Einziehung zur Wehrmacht an laufend Familienunterhalt bezogen hat, nahm das LSG. an, daß der gefallene Sohn der Ernährer der Klägerin gewesen ist. Aus der Tatsache, daß die Klägerin von dem Gefallenen selbst seit dem Tode des Vaters laufende Zuwendungen aus seinem Wehrsold von 50,-- bis 60,-- Mark monatlich erhielt, folgerte das LSG., daß dieser Sohn im Falle seiner Rückkehr aus dem Krieg "weiter der Ernährer der Mutter gewesen wäre". Das LSG. hat indessen das Vorliegen der Bedürftigkeit der Klägerin nur "zum Teil" bejaht und ihr Elternrente nur in Höhe der Hälfte des gesetzlichen Elternrentenbetrages zugesprochen, weil sie von ihren noch lebenden Kindern etwa zur Hälfte "des zulässigen Einkommensbetrages nach § 51 BVG" unterstützt werde. Für die Zeit vor dem 1. Februar 1953 habe die Klägerin keinen Anspruch auf Elternrente, weil sie wegen ihres eigenen Arbeitseinkommens neben den erlangten Unterstützungen damals nicht bedürftig gewesen sei.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 13. Januar 1956 zugestellte Urteil des LSG. am 24. Januar 1956 Revision eingelegt. Er beantragt, die Urteile des SG. und LSG. aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
In der am 12. März 1956 eingegangenen Revisionsbegründung rügt der Beklagte wesentliche Mängel des Verfahrens (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Er behauptet, das LSG. habe die §§ 103, 106 und 112 SGG bei der Feststellung der Tatsachen verletzt, aus denen es auf die Ernährereigenschaft des Gefallenen und auf die nur beschränkte Unterhaltsfähigkeit der lebenden Kinder geschlossen hat. Das LSG. habe die ihm glaubhaft erschienenen Angaben der Klägerin, die sie in der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 1955 über die empfangene Familienunterstützung gemacht hat, seiner Entscheidung zu Grunde gelegt, obgleich die Klägerin in wesentlichen Punkten den Sachverhalt früher anders dargestellt habe, z.B. bei Erhebungen des Versorgungsamts (VersorgA.) und in der mündlichen Verhandlung vor dem SG. Hätte das LSG. den Sachverhalt in jeder Hinsicht geklärt, so hätte es nicht als erwiesen ansehen können, daß die Klägerin ausschließlich nach dem gefallenen Sohn Familienunterhalt bezogen habe und daß dieser ihr Ernährer gewesen sei. Außerdem habe das LSG. bei der Prüfung der Bedürftigkeit der Klägerin die vorhandenen Beweismittel unzutreffend "ausgewertet". Das LSG. habe sich mit einer zeitlich weit zurückliegenden Einkommensbescheinigung begnügt und habe das Einkommen, nach welchem die Unterhaltsfähigkeit des Sohnes Arthur zu bemessen sei, jährlich mit DM 5200,-- statt etwa mit DM 8000,-- angenommen.
Der Beklagte erblickt einen Verfahrensmangel auch darin, daß die Formel der angefochtenen Entscheidung des LSG. "nicht ausführbar" sei, weil die Leistung einer Elternrente nach Bruchteilen im Gesetz nicht vorgesehen sei.
In sachlicher Hinsicht rügt der Beklagte, das LSG. habe die §§ 50 und 51 BVG unrichtig angewendet. Der gefallene Sohn hätte voraussichtlich nicht allein, sondern mit seinen übrigen vier Geschwistern gemeinsam die Mutter unterstützt. Der mutmaßliche Unterstützungsanteil des gefallenen Sohnes reiche aber nicht aus, um die Ernährereigenschaft im Sinne des § 50 Abs. 1 BVG zu begründen. Die Bedürftigkeit der Klägerin sei auszuschließen, da sie gegenüber ihren noch lebenden Söhnen ausreichende Unterhaltsansprüche i.S. des § 50 Abs. 2 BVG habe.
Mit Schriftsatz vom 17. April 1956, beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen am 19. April 1956, rügt der Beklagte außerdem eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Im Termin am 15. Dezember 1955 sei nach Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung und nach Befragen der Klägerin dem Vertreter des Beklagten keine Gelegenheit gegeben worden, zur Erklärung der Klägerin Stellung zu nehmen. Im übrigen wird auf diesen Schriftsatz Bezug genommen.
Die Klägerin hat beantragt, die Revision des Beklagten als unzulässig zu verwerfen.
Die Revision des Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Auch die in dem Schriftsatz vom 17. April 1956 erhobene Verfahrensrüge ist im Hinblick auf § 66 SGG rechtzeitig vorgebracht; denn das LSG. hatte es unterlassen, in die Rechtsmittelbelehrung einen Hinweis auf die nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG zu beobachtende Form der Revisionsbegründung aufzunehmen. Die Revision ist außerdem statthaft, weil der Beklagte wesentliche Mängel des Verfahrens gerügt hat und diese Mängel tatsächlich vorliegen (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Die Revision ist mithin zulässig (§ 169 Satz 1 SGG). Der Zulässigkeit der Revision steht nicht entgegen, daß der Beklagte die verletzte Rechtsnorm nicht genau bezeichnet hat. Da er in der Revisionsbegründung die Tatsachen und Beweismittel angegeben hat, die einen Verstoß des LSG. gegen die §§ 103, 128 SGG ergeben, ist es ihm im vorliegenden Falle unschädlich, daß er es unterlassen hat, neben § 103 SGG auch den § 128 SGG als verletzt anzuführen.
Der Beklagte hat die Feststellung des LSG., daß der Sohn Heinz der Ernährer der Klägerin gewesen ist, mit Recht angegriffen. Das LSG. stützt seine Überzeugung auf die Erwägung, daß die Klägerin nach ihren glaubhaften Angaben Familienunterhalt für den später gefallenen Sohn bezogen habe. Das LSG. hat hierbei übersehen, daß die Klägerin, worauf die Revisionsbegründung hinweist, im Verwaltungsverfahren zweimal ausgeführt hat, daß sie für ihre drei zur Wehrmacht eingezogenen Söhne Familienunterhalt bezogen habe. Das nicht ganz klare Vorbringen der Klägerin hätte dem LSG. Anlaß geben müssen, den wahrheitsgemäßen Sinn ihrer Angaben und den wirklichen Sachverhalt in dieser Hinsicht klarzustellen. Da das LSG. diesen Pflichten nicht nachkam, hat es die Vorschriften in den §§ 106, 112, 103 SGG verletzt. Ist es aber davon ausgegangen, daß der Familienunterhalt für drei Söhne gewährt wurde, wofür die Darstellung im Tatbestand des angefochtenen Urteils spricht, so beruht der Schluß, der Verstorbene sei der Ernährer der Klägerin im Sinne des § 50 BVG gewesen, auf einem Denkfehler und damit auf einem Verstoß gegen § 128 SGG. Nr. 1 Abs. 4 der Verwaltungsvorschriften (VV.) zu § 50 BVG, wonach die Ernährereigenschaft eines infolge einer Schädigung verstorbenen Kindes unter besonderen Voraussetzungen ohne weitere Prüfung zu bejahen ist, beruht auf einem allgemeinen Erfahrungssatz, der auch im gerichtlichen Verfahren verwertet werden kann und etwa folgendes besagt: Haben die Eltern für ein oder mehrere Kinder Familienunterhalt nach den in den VV. genannten Gesetzen bezogen, so ist anzunehmen, daß die Ernährereigenschaft der Kinder schon zu ihren Lebzeiten geprüft und mit Recht anerkannt worden ist. Dieser Satz gilt schlechthin, wenn der Familienunterhalt nur für ein Kind gewährt wurde und dieses verstorben ist. Wurde aber der Familienunterhalt für mehrere Kinder gewährt, so ist zunächst nur der Schluß richtig, daß die mehreren Kinder zusammen die Ernährer der Eltern gewesen sind. Aus der Tatsache, daß die Klägerin Familienunterhalt für drei Söhne bezogen hat, konnte das LSG. folgern, daß die drei Söhne in ihrer Gesamtheit ihre Mutter ernährt haben. Jedoch ist der Schluß nicht zulässig, daß der gefallene Sohn, der erheblich jünger war als seine beiden Brüder, zum Unterhalt seiner Mutter so viel beigetragen hat, dass er allein schon auf Grund seines Beitrages als der Ernährer seiner Mutter angesehen werden muß.
Das LSG. hat mit der weiteren Feststellung, daß der Sohn Heinz aus seinem Wehrsold laufend Monatsbeträge zwischen 50.-- und 60.-- Mark der Klägerin für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung stellte, nur die Auffassung begründet, daß der Gefallene, wenn er aus dem Krieg zurückgekehrt wäre, der Ernährer seiner Mutter geblieben wäre. Auch diese Feststellung kann nicht aufrecht erhalten werden, da sie voraussetzt, daß der Sohn Heinz der Ernährer seiner Mutter tatsächlich gewesen ist. Ob aber die Ausdrucksweise des LSG. bedeuten soll, daß der Sohn Heinz der Ernährer seiner Mutter "geworden wäre" - wie es im Gesetz heißt -, kann dahingestellt bleiben, weil das Urteil aus anderen Gründen nicht aufrechterhalten werden kann.
Auch die weitere Rüge der Revision, daß das LSG. in unzulässiger Weise die Bedürftigkeit der Klägerin bejaht hat, weil es die Unterhaltsfähigkeit der noch lebenden Kinder nicht genügend geprüft, insbesondere die des Sohnes Arthur zu niedrig bemessen habe, greift durch. Nach § 50 BVG und der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Urteil vom 12.9.1957 - 10 RV 155/55 - ist ein Elternteil, der kein eigenes Einkommen bezieht, nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen insoweit nicht bedürftig, als er einen durchsetzbaren Unterhaltsanspruch in Höhe der Einkommensgrenzen des § 51 Abs. 2 BVG hat. Mit dieser Auslegung des § 50 BVG steht die Rechtsauffassung des LSG. nicht in Widerspruch, von der aus es ihm rechtserheblich erschien, in welchem Maße die lebenden Kinder der Klägerin zu ihrem Unterhalt beitragen konnten. Seine Feststellungen in dieser Richtung sind aber unvollständig und ergeben daher eine Verletzung des § 103 SGG. Die Unterhaltsleistungen der Tochter Margarete, die für die Wohnungsmiete der Klägerin aufkommt, ist in der Berechnung des LSG. überhaupt nicht mit einem Geldbetrag angesetzt. Der Beitrag des Sohnes Arthur, der selbständig eine Fleischerei betreibt und "ein steuerpflichtiges Einkommen von 5200 DM im Jahre nachweist", ist vom LSG. mit 25 DM monatlich veranschlagt worden. Die Revisionsbegründung weist mit Recht darauf hin, daß bei der Ermittlung der gewerblichen Einkünfte des Sohnes Arthur, die ihm zur Erfüllung seiner Unterhaltspflicht zur Verfügung stehen, Sonderausgaben und Ausgaben für Hausratsbeschaffung nicht in jedem Falle wie nach Steuerrecht abzusetzen sind. Allerdings ist die Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 1 BGB zu beurteilen. Für das LSG. lag die Annahme nahe, daß der Sohn Arthur zum Unterhalt seiner Mutter einen wesentlich höheren Betrag als 25.-- DM monatlich beisteuern konnte. Es bedarf jedoch näherer Ermittlungen darüber, welchen Wert seine Sach- und Geldleistungen hatten, mit denen er in den einzelnen Zeitabschnitten die Klägerin tatsächlich unterstützt hat, und welche Unterhaltsleistungen sie von ihm darüber hinaus und von ihren übrigen drei lebenden Kindern nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu fordern berechtigt war.
Auf den hiernach festgestellten wesentlichen Mängeln des Verfahrens beruht die Feststellung solcher Tatsachen - Ernährereigenschaft des Verstorbenen und Bedürftigkeit der Klägerin -, von denen der Anspruch auf Elternrente nach § 50 BVG abhängt. Das angefochtene Urteil mußte daher allein schon wegen dieser Mängel mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben werden, ohne daß es darauf ankam, ob auch die übrigen vom Beklagten gerügten Verfahrensmängel vorliegen.
Dem Senat erschien es untunlich, in der Sache selbst zu entscheiden. Er hat daher die Sache gemäß § 170 Abs. 2 SGG an das LSG. zurückverwiesen. Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung ist für den Umfang der feststellungsbedürftigen Tatsachen und für die Auslegung der §§ 50, 51 BVG die Rechtsauffassung maßgebend, die dem Urteil des BSG. vom 12.9.1957 - 10 RV 155/55 - zugrunde liegt.
Die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen