Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzlicher Unfallversicherungsschutz bei geringfügigen privaten Unterbrechungen des Schulweges. Unfallversicherungsschutz auf Wegen zur oder von der Schule
Orientierungssatz
1. Unterbricht eine 7jährige Schülerin den Weg von dem Besuch der Grundschule nach Hause, um sich entsprechend der Aufforderung ihrer Lehrerin bei einer 80m von der Schule entfernt wohnenden Mitschülerin ein Schulheft abzuholen, so steht diese Unterbrechung im ursächlichen Zusammenhang mit dem unmittelbar vorangegangenen Schulbesuch, so daß während dieser Unterbrechung des Heimweges Versicherungsschutz besteht.
2. Ereignet sich der Unfall bei einem eingeschobenen Spiel vor dem Haus der Schülerin und nur etwa fünf Minuten nach Schulschuß, so spricht neben dem Zeitfaktor und dem Unfallort auch die Art der Verrichtung während der Unterbrechung des Heimweges dafür, diese Unterbrechung nur als geringfügig anzusehen und den Versicherungsschutz während dieser Zeit nicht ausgeschlossen ist; denn es entspricht dem durch den gemeinsamen Besuch der Grundschule von Klassenkameradinnen verstärkten natürlichen Spieltrieb der Kinder den Weg von der Schule nach Hause zum Spielen zu unterbrechen oder einen Umweg einzuschlagen und dabei zu spielen.
Normenkette
RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b Fassung: 1971-03-18, § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 25.10.1979; Aktenzeichen L 7 U 1431/79) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 30.05.1979; Aktenzeichen S 7 U 448/78) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die damals annähernd 7 Jahre alte Klägerin am 5. Mai 1977 einen Schulunfall im Sinne der §§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b, 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erlitten hat.
Die Klägerin war im Unfallzeitraum Schülerin der 1. Klasse der Grund- und Hauptschule in S - P. Am Unfalltage endete der Unterricht um 15.25 Uhr. Anschließend ging die Klägerin zunächst zur Wohnung einer Mitschülerin um entsprechend einer Aufforderung ihrer Lehrerin ein Sachkundeschulheft abzuholen. Diese Wohnung liegt wie die Schule in der S Straße, jedoch in entgegengesetzter Richtung zur elterlichen Wohnung und etwa 80 m vom Schulgebäude entfernt. Gegen 15.30 Uhr wurde die Klägerin von einem Pkw erfaßt und schwer verletzt. Sie hatte auf der der Wohnung der Mitschülerin gegenüberliegenden Straßenseite Pfeile auf den Gehweg gemalt und wollte wieder zur anderen Straßenseite zurückkehren.
Der Beklagte lehnte mit seinem Bescheid vom 24. Januar 1978 die Gewährung von Leistungen mit der Begründung ab, die Klägerin habe sich zum Zeitpunkt des Unfalls auf einem unversicherten Abweg zum Hause ihrer Freundin befunden.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 30. Mai 1979 den Beklagten zur Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung verurteilt. Die Klägerin habe sich, so ist in den Entscheidungsgründen ausgeführt, nicht auf einem Abweg befunden, weil sie den Weg aus Gründen gewählt habe, die mit dem Schulbesuch zusammenhingen. Sie habe auf eine gezielte Aufforderung im Rahmen des besonderen Gewaltverhältnisses Schüler - Schule Arbeitsgerät iS des § 549 RVO geholt. Daß sie dabei ihrem Spieltrieb nachgegangen sei, sei angesichts ihres Alters versicherungsrechtlich unerheblich.
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 25. Oktober 1979 zurückgewiesen. Der Weg zur Wohnung der Mitschülerin und das kurzfristige Spielen seien keine ins Gewicht fallende erhebliche Unterbrechung des Weges von der Schule zum Elternhaus der Klägerin. Die Lehrerin der Klägerin habe zwar durch die der Klägerin erteilte Anweisung, das Sachkundeheft der Mitschülerin zu holen, den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht auf die an sich unversicherte Tätigkeit des Vorbereitens von Hausaufgaben erstrecken können. Es hätten jedoch in schulischen Verhältnissen liegende Beweggründe zu dem Umweg geführt; der örtliche und zeitliche Zusammenhang mit dem Schulbesuch seien gewahrt.
Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision macht der Beklagte geltend: Die Klägerin habe sich beim Abholen des Sachkundeheftes eigenwirtschaftlich betätigt und einen erheblichen Umweg zurückgelegt. Auf dem Umweg habe daher kein Versicherungsschutz bestanden.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom
30. Mai 1979 und das Urteil des Landessozialgerichts
Baden-Württemberg vom 25. Oktober 1979 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hat nach ihrer Überzeugung nicht eigenwirtschaftlich gehandelt, weil sie eine Anordnung der Lehrerin befolgt habe. Auf einem von der Schule vorgeschriebenen Weg bestehe in jedem Fall Versicherungsschutz. Ihr Verhalten sei kindgemäß gewesen, so daß infolge des Spielens keine Unterbrechung des Versicherungsschutzes eingetreten sei.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil zugestimmt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des beklagten Landes ist nicht begründet.
Die Klägerin war während des Besuchs der Grundschule in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert (s § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO). Sie stand auch auf dem Wege nach und von der Grundschule gemäß § 550 Abs 1 RVO unter Versicherungsschutz. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG verunglückte die Klägerin allerdings nicht auf dem direkten Weg von der Schule zur elterlichen Wohnung, sondern auf einem in entgegengesetzter Richtung zur Wohnung gelegenen Abweg. Das LSG hat jedoch zutreffend entschieden, daß die Klägerin dennoch im Unfallzeitpunkt unter Versicherungsschutz stand.
Nach den in ständiger Rechtsprechung und unter nahezu einhelliger Zustimmung des Schrifttums zum Versicherungsschutz auf dem Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit entwickelten Grundsätzen besteht während einer persönlichen Verrichtung dienenden erheblichen Unterbrechung dieses Weges kein Versicherungsschutz, während der Versicherungsschutz aufrechterhalten bleibt, wenn die Besorgung hinsichtlich ihrer Zeitdauer und der Art ihrer Erledigung keine rechtlich ins Gewicht fallende und somit keine erhebliche Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit bedeutet, sondern nur als geringfügig anzusehen ist (vgl ua BSG SozR Nr 5 und Nr 28 zu § 543 RVO aF; BSG SozR 2200 § 549 Nr 1, § 539 Nr 21; BSGE 43, 113 = SozR 2200 § 550 Nr 26; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl, S 486 t und x sowie Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 550 Anm 17a und d - jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Wie der Senat in seinem Urteil vom 25. Januar 1977 (BSGE 43, 113, 115; s auch BSG Urteil vom 25. November 1977 - 2 RU 70/77) zum Versicherungsschutz von Schülern während des Besuchs allgemeinbildender Schulen auf dem Schulweg ausgeführt hat, sind der Gesetzessystematik und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes über die Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I 237) keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß die angeführten Grundsätze zum Versicherungsschutz während der Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit insoweit für den Versicherungsschutz für Schüler gem § 550 Abs 1 RVO nicht gelten sollen (Brackmann aaO S 483 r). Der Senat hat in diesem Urteil jedoch näher ausgeführt, daß die strengen Maßstäbe, die für die Annahme einer geringfügigen Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit für Erwachsene zu beachten sind, dem vielfältigen Spieltrieb und dem Gruppenverhalten der Schulkinder im Zusammenhang mit dem Schulweg nicht gerecht werden; es entspricht vielmehr auch der Verkehrsanschauung, daß derartige Unterbrechungen regelmäßig mit zum Schulweg gehören (Brackmann aaO S 483 s). Der bei der Beurteilung des Versicherungsschutzes während einer geringfügigen Unterbrechung des Weges nach oder von dem Schulbesuch anzuwendende Begriff der Geringfügigkeit kann ebenfalls nicht nach absoluten Maßstäben beurteilt werden, vielmehr sind die gesamten Umstände des Einzelfalles maßgebend (BSGE aaO S 117). Der Zeitfaktor wird bei dieser Beurteilung zwar als ein besonders wichtiger Umstand anzusehen sein, doch dürfen andere für den Einzelfall bedeutsame Tatsachen von der Gesamtwürdigung nicht ausgeschlossen werden (BSGE aaO; Brackmann aaO). Im Rahmen dieser Gesamtwürdigung sind insbesondere die von dem natürlichen Spieltrieb der Kinder und ggf einem dem Alter entsprechenden Gruppenverhalten ausgehenden Gefahren besonders zu beachten.
Die Klägerin unterbrach nach der Gesamtwürdigung aller vom LSG festgestellten Umstände, wie das Berufungsgericht zutreffend entschieden hat, am Unfalltag den Weg von dem Besuch der Grundschule nach Hause, um sich entsprechend der Aufforderung ihrer Lehrerin bei einer 80 m von der Schule entfernt wohnenden Mitschülerin ein Schulheft abzuholen. Diese Unterbrechung stand im ursächlichen Zusammenhang mit dem unmittelbar vorangegangenen Schulbesuch, so daß während dieser Unterbrechung des Heimweges Versicherungsschutz bestand. Die Klägerin verunglückte allerdings nicht beim Abholen des Heftes, sondern bei einem eingeschobenen Spiel. Sie verunglückte nach den von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG auf der Straße vor dem Haus der Schülerin und nur etwa fünf Minuten nach Schulschluß. Neben dem Zeitfaktor und dem Unfallort spricht auch die Art der Verrichtung während der Unterbrechung des Heimweges dafür, diese Unterbrechung nur als geringfügig anzusehen und den Versicherungsschutz der Klägerin während dieser Zeit nicht auszuschließen; denn es entspricht dem durch den gemeinsamen Besuch der Grundschule von Klassenkameradinnen verstärkten natürlichen Spieltrieb der Kinder, den Weg von der Schule nach Hause zum Spielen zu unterbrechen oder einen Umweg einzuschlagen und dabei zu spielen.
Entgegen der Auffassung der Revision unterscheidet sich der vorliegende Fall nicht dadurch wesentlich von dem, der dem Urteil des Senats vom 25. November 1977 zugrunde gelegen hat, weil dort das Kind in der Nähe der elterlichen Wohnung verunglückte; denn auf die Nähe des Unfallortes zur elterlichen Wohnung wurde in dem Urteil vom 25. November 1977 aufgrund der dort gegebenen Sachlage hingewiesen, um den geringen räumlichen Abweg darzulegen. Der Versicherungsschutz bei nur geringfügigen Unterbrechungen des Schulweges ist jedoch nicht davon abhängig, daß die Unterbrechung des Schulweges in der Nähe der elterlichen Wohnung eintritt. Ebenso wurde auf die vorzeitige Ankunft des Busses und dem damit verbundenen nicht rechtzeitigen Abholen der Kinder durch die Mutter im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung aller Umstände verwiesen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen