Entscheidungsstichwort (Thema)
Berechnung des JAV bei unbezahltem Urlaub. erhebliche Unbilligkeit iS von § 577 RVO
Leitsatz (amtlich)
Der Jahresarbeitsverdienst (JAV) ist auch dann nach § 571 Abs 1 S 2 RVO zu berechnen, wenn der Verletzte aufgrund eigener Willensentscheidung im Jahr vor dem Arbeitsunfall zeitweise kein Arbeitseinkommen bezogen hat. Der nach § 571 Abs 1 S 2 RVO berechnete JAV ist jedenfalls in erheblichem Maße unbillig iS des § 577 RVO, wenn die Lebensstellung des Verletzten aufgrund eigener Willensentscheidung im Jahr vor dem Arbeitsunfall und in mehreren zurückliegenden Jahren auf einem jeweils nur innerhalb von neun Monaten erzielten Arbeitseinkommen beruhte, der Verletzte in den restlichen drei Monaten eines jeden Jahres unbezahlten Urlaub hatte und das tatsächlich im Jahre vor dem Arbeitsunfall erzielte Arbeitseinkommen um mehr als 30 vH niedriger war als der nach § 571 Abs 1 S 2 RVO errechnete JAV.
Orientierungssatz
1. Die Auffassung, daß durch § 571 Abs 1 S 2 RVO nur ein zufälliger Verdienstausfall auszugleichen sei, findet im Gesetz keine Stütze.
2. In erheblichem Maße unbillig kann ein nach §§ 571-576 RVO zu niedrig oder auch zu hoch berechneter JAV sein.
Normenkette
RVO § 571 Abs 1 S 2 Fassung: 1963-04-30, § 577 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 31.05.1979; Aktenzeichen L 7 U 391/79) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 05.12.1975; Aktenzeichen S 3 U 1876/74) |
Tatbestand
Die Beklagte gewährte dem Kläger, der italienischer Staatsbürger ist und in der Bundesrepublik Deutschland arbeitete, wegen der Folgen eines am 8. April 1971 erlittenen Arbeitsunfalls vom 26. Juli 1971 bis 28. Februar 1973 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH (Bescheid vom 28. Mai 1974). Der Rente legte die Beklagte einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 11.484,-- DM zugrunde. Die Berechnung erfolgte nach der Verfügung Nr 11/72 der Beklagten "Betr: Festsetzung des Jahresarbeitsverdienstes für Gastarbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Unfalls bereits ein Jahr oder noch länger in Deutschland beschäftigt waren". Danach war, wenn der Verletzte im Jahr vor dem Unfall zeitweise nicht gearbeitet und sich im Heimatland aufgehalten hatte, zu klären, ob er dort eine Tätigkeit ausgeübt hatte. Für den Fall, daß der Verletzte während des Aufenthaltes in der Heimat keine Tätigkeit ausgeübt und daß er von seinem deutschen Arbeitgeber unbezahlten Urlaub gehabt hatte, war in Ziff 4 dieser Verfügung angeordnet: "Es ist zunächst das im Jahr vor dem Unfall in Deutschland erzielte Arbeitseinkommen zu ermitteln. Sodann ist festzustellen, wie hoch der Verdienst im Jahr vor dem Unfall bei tariflicher Arbeitszeit und bei vom Arbeitgeber bestätigtem Stundenlohn gewesen wäre. Dieser so über § 577 Reichsversicherungsordnung (RVO) ermittelte Verdienst ist dem tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen gegenüberzustellen und der jeweils höhere Betrag als JAV festzusetzen". Die zur Festsetzung des JAV durchgeführten Ermittlungen der Beklagten hatten ergeben, daß der Kläger im Jahr vor dem Unfall vom 21. April bis 31. Dezember 1970 und vom 2. bis 7. April 1971 bei der Firma F in M gearbeitet hatte. Vom 8. bis 20. April 1970 und vom 1. Januar bis 1. April 1971 hatte er unbezahlten Urlaub und war in Italien bei dem Arbeitsamt L als arbeitslos gemeldet. Die Vergleichsberechnung nach der Verfügung Nr 11/72 der Beklagten ergab, daß der Kläger bei einem von der Firma F bestätigten Stundenlohn von 5,50 DM und bei tariflicher Arbeitszeit im Jahr vor dem Unfall 11484,-- DM verdient haben würde. Dieser Betrag, der höher war als das tatsächlich erzielte Arbeitseinkommen von 8.585,83 DM wurde der Rentenberechnung als JAV zugrundegelegt.
Dagegen hat sich der Kläger mit der bei dem Sozialgericht (SG) Stuttgart erhobenen Klage gewandt. Er hat vorgetragen, daß dem von der Firma F bescheinigten tatsächlichen Arbeitseinkommen von 8.585,83 DM nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO zwei Teilbeträge von 356,40 DM und von 2.860,-- DM hinzuzurechnen seien, so daß sich ein JAV von 11.802,23 DM ergebe. Im April 1970 habe er einen Stundenlohn von 4,95 DM gehabt. In der Zeit vom 8. bis 20. April 1970 hätte er an neun Arbeitstagen (72 Arbeitsstunden a 4,95 DM) 356,40 DM verdienen können. Danach habe er einen Stundenlohn von 5,50 DM gehabt. In der Zeit vom 1. Januar bis 1. April 1971 hätte er (520 Arbeitsstunden a 5,50 DM) 2.860,-- DM verdienen können.
Das SG hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 5. Dezember 1975). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 16. Dezember 1976). Das Bundessozialgericht (BSG) hat das Berufungsurteil wegen des nicht durchgeführten Vorverfahrens aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen (Urteil vom 14. Dezember 1978 - 2 RU 33/77 - SozR 1500 § 78 Nr 15).
Während des weiteren Berufungsverfahrens hat die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 28. Mai 1974 zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 26. April 1979). Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 5. Dezember 1975 erneut zurückgewiesen (Urteil vom 31. Mai 1979). Zur Begründung hat es ausgeführt: Der von der Beklagten im Bescheid vom 28. Mai 1974 der Rentenberechnung zugrundegelegte JAV sei im Ergebnis nicht zu beanstanden. Zwar sei der Auffassung der Beklagten, daß ein Einkommensausfall im eigentlichen Sinne beim Kläger gar nicht vorliege und deshalb § 571 Abs 1 Satz 2 RVO nicht zur Anwendung kommen könne, nicht zu folgen. Der Kläger habe allerdings schon seit 1965 bis zum Unfall im Jahr 1971 nur ca neun Monate im Jahr gearbeitet und im übrigen unbezahlten Urlaub gehabt. Er habe demnach erkennbar seinen Lebensstandard auf ein Einkommen ausgerichtet, das er in ca neun Monaten eines Jahres verdienen konnte. Diese Tatsache rechtfertige es jedoch nicht, § 571 Abs 1 Satz 2 RVO auf Fälle dieser Art nicht anzuwenden. Der Gesetzgeber habe mit dieser Regelung nicht nur bezweckt, zufällige und vorübergehende Verdienstausfälle auszugleichen, um zu verhindern, daß der niedrige Lebensstandard zum Maßstab der Gesamtlaufzeit der Rente gemacht werde. Aus dem Wortlaut des § 571 Abs 1 Satz 2 RVO ergebe sich, daß jede "Ausfallzeit" bei der Berechnung des JAV berücksichtigt werden müsse. Eine Ausnahme sei im Gesetz nicht vorgesehen. Die sich im Einzelfall ergebende Unbilligkeit könne nur unter den Voraussetzungen des § 577 RVO ausgeglichen werden. Bei einem Versicherten, der - wie der Kläger - mehrere Jahre lang regelmäßig längeren unbezahlten Urlaub gehabt habe, sei die Berechnung des JAV nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO erheblich unbillig, wenn die Ausfallzeit sowohl im Jahr vor dem Unfall als auch in den Jahren zuvor ca drei Monate und mehr betragen habe und wenn das tatsächlich erzielte Arbeitseinkommen um mehr als ein Drittel angehoben werden müßte, um das fiktive Arbeitseinkommen zu erreichen. Die Beklagte habe bei der Festsetzung des JAV ihr Ermessen nach § 577 RVO sachgerecht ausgeübt. Ein Ermessensfehler sei nicht erkennbar. Die Beklagte habe den Kläger entsprechend ihrer Verfügung Nr 11/72 so gestellt, als ob er während des ganzen Jahres vor dem Unfall gearbeitet hätte, wobei Überstunden nicht berücksichtigt worden seien. Diese Berechnungsart sei nach sachgerechten Gesichtspunkten erfolgt und nicht zu beanstanden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Das LSG habe die Berechnungsweise der Beklagten bestätigt, obwohl diese gegen § 571 RVO verstoße. Bevor der Versicherungsträger die Voraussetzungen des § 577 RVO prüfen könne, müsse er den JAV zunächst grundsätzlich nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO feststellen. Bei der Berechnung des JAV nach dieser Vorschrift ergebe sich ein Betrag von 11.802,23 DM, der nur geringfügig höher sei als der von der Beklagten ermittelte Betrag von 11.484,-- DM. Von einer erheblichen Unbilligkeit könne daher nicht gesprochen werden. Der von der Beklagten ermittelte Betrag beruhe auf einer unzulässigen Umgehung des § 571 RVO und sei daher nicht rechtsfehlerfrei festgestellt. Im übrigen sei zu beachten, daß es sich bei der Frage nach der Berücksichtigung von Ausfallzeiten während der Wintermonate um ein spezifisches Problem des Baugewerbes handele. Zeiten unbezahlten Urlaubs während der Wintermonate lägen in erheblichem Maße im Interesse der Arbeitgeber, da diese in der Regel nicht ihren ganzen Personalbestand ganzjährig beschäftigen könnten. Es könne daher nicht grundsätzlich unbillig sein, wenn die Arbeitgeber mit ihren Beiträgen zur gesetzlichen Unfallversicherung auch zu Zeiten herangezogen würden, zu denen der Verletzte unbezahlten Urlaub gehabt habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom
31. Mai 1979 und des SG Stuttgart vom
5. Dezember 1975 aufzuheben sowie die Beklagte
unter Änderung des Bescheides vom 28. Mai 1974
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
26. April 1979 zu verurteilen, die
Verletztenrente nach einem JAV von 11.802,23 DM
festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie vertrete im Gegensatz zum LSG die Auffassung, daß Zeiten, in denen ein Versicherter von vornherein - alljährlich - aus freien Stücken nicht arbeite und daher kein Arbeitseinkommen beziehe, nicht mit einem fiktiven Einkommen nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO auszufüllen seien. Denn mit dieser Vorschrift habe der Gesetzgeber bezweckt, zufällige und vorübergehende Verdienstausfälle auszugleichen, um zu verhindern, daß der niedrige Lebensstandard zum Maßstab für die Gesamtlaufzeit der Rente gemacht werde (BT-Drucks IV/120 S 57). Die Auslegung des § 571 Abs 1 Satz 2 RVO durch das LSG, wonach zunächst die Zeiten vom 8. bis 20. April 1970 und vom 1. Januar bis 1. April 1971 mit fiktivem Einkommen auszufüllen seien, werde durch den vom Gesetzgeber gewollten Sinn und Zweck dieser Vorschrift nicht getragen. Sie hätte daher sogar das vom Kläger wirklich erzielte Einkommen von 8.585,83 DM der Rentenberechnung zugrunde legen können. Daran ändere nichts, daß der Kläger sich am 13. Januar 1970 und am 11. Januar 1971 beim Arbeitsamt I habe eintragen lassen. Denn er sei nicht arbeitslos gewesen und habe auch nicht die Absicht gehabt, während des Urlaubs in Italien zu arbeiten. Auch wenn der Auffassung des LSG gefolgt werde, sei die von ihr im Rahmen des § 577 RVO durchgeführte Berechnung nicht zu beanstanden. Die Auffüllung mit einem fiktiven Einkommen nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO sei in erheblichem Maße unbillig, weil ein zufälligerweise im Jahr vor dem Unfall niedriger Lebensstandard nicht auszugleichen gewesen sei. Der Kläger habe aufgrund freier Entscheidung regelmäßig unbezahlten Urlaub genommen; das von ihm erzielte Entgelt habe seinem Lebensstandard entsprochen. Bei der Feststellung des Ausmaßes der Unbilligkeit sei von der Differenz zwischen dem tatsächlichen Arbeitseinkommen von 8.585,83 DM und fiktiven Arbeitseinkommen von 11.802,23 DM auszugehen. Der nach Anwendung des § 577 RVO der Rentenberechnung zugrunde zu legende JAV von 11.484,-- DM könne nicht zum Vergleich herangezogen werden. Nach ihrer Ansicht sei ein nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechneter JAV schon dann in erheblichem Maße unbillig, wenn das tatsächlich erzielte Einkommen um 5 vH erhöht werden müßte, um den aufgrund fiktiven Arbeitseinkommens errechneten JAV zu erreichen. Die Interessen der Bauwirtschaft hätten für die Frage, ob die Berücksichtigung eines fiktiven Einkommens in erheblichem Maße unbillig sei, keine Bedeutung.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil zugestimmt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Die dem Kläger von der Beklagten gewährte Verletztenrente gehört zu den Leistungen in Geld, die nach dem JAV berechnet werden (§ 581 RVO iVm § 570 RVO). Für dessen Berechnung finden die §§ 571 bis 578 RVO Anwendung.
Nach § 571 Abs 1 RVO in der hier noch anzuwendenden bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung vor dem Inkrafttreten des Art II § 1 Nr 2 Buchst c und d SGB 4 gilt als JAV das Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahr vor dem Arbeitsunfall (Satz 1). Für Zeiten, in denen der Verletzte im Jahre vor dem Arbeitsunfall kein Arbeitseinkommen bezog, wird das Arbeitseinkommen zugrundegelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, die der letzten Tätigkeit des Verletzten vor dieser Zeit entspricht (Satz 2). Ist er früher nicht tätig gewesen, so ist die Tätigkeit maßgebend, die er zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübt hat (Satz 3).
Die Regelung in § 571 Abs 1 Satz 1 RVO geht davon aus, daß der Verletzte während des vor dem Arbeitsunfall liegenden Jahres ununterbrochen Arbeitseinkommen bezogen hat (BSGE 28, 274, 285; 43, 204, 205; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 574 f; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 571 Anm 4 Buchst a). Der Kläger war jedoch im Jahre vor dem Arbeitsunfall (8. April 1970 bis 7. April 1971) in der Zeit des unbezahlten Urlaubs (8. bis 20. April 1970 und 1. Januar bis 1. April 1971) ohne Arbeitseinkommen, so daß der JAV nicht nach dieser Vorschrift, sondern nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO zu berechnen ist. Mit dieser Regelung soll bezweckt werden, daß der durch den Ausfall von Arbeitseinkommen im Jahre vor dem Arbeitsunfall bedingte niedrige Lebensstandard, der in der Regel nicht lange anhält, nicht zum Maßstab für die gesamte Laufzeit der Rente gemacht wird (BSGE 28, 274, 276; 44, 12, 14). Nach der Natur der Sache kommt hier ein Verdienstausfall vornehmlich durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit, in der Regel also durch eine verhältnismäßig kurze Unterbrechung ein und derselben Erwerbsarbeit in Betracht (BSGE aaO). Die Auffassung der Beklagten, daß durch § 571 Abs 1 Satz 2 RVO nur ein zufälliger Verdienstausfall auszugleichen sei, findet im Gesetz keine Stütze. Sie kann sich dazu auch nicht auf die Begründung des § 571 im Entwurf eines Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes -UVNG- (BT-Drucks IV/120 S 57) berufen. Das Wort "zufällig" wird dort nicht verwendet. Auch aus dem Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens geht nicht hervor, daß einschränkend zum Entwurf nur ein zufälliger Verdienstausfall durch ein fiktives Einkommen ausgeglichen werden soll. Wortlaut und Begründung zu § 571 des Entwurfs sind, soweit es die hier in Betracht kommenden Regelungen betrifft, im Gesetzgebungsverfahren niemals die Frage gestellt worden. Im Schrifttum war es zudem ebenfalls nicht zweifelhaft, daß durch § 571 Abs 1 Satz 2 RVO auch der Verdienstausfall ausgeglichen werden sollte, der nicht zufällig, sondern aufgrund einer Willensentscheidung des Verletzten eingetreten war, zB infolge Aufnahme einer unentgeltlichen Tätigkeit als Volontär (Brackmann aaO S 574 f I) oder durch unbezahlten Urlaub (Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl Kennzahl 440 S 13; RVO-Gesamtkommentar, 3. Buch § 571 Anm 4). Der Senat kann sich daher nicht der Meinung der Beklagten anschließen, daß in Fällen der vorliegenden Art überhaupt kein Einkommensverlust vorhanden sei, der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO auszufüllen wäre. Vielmehr ist bei der Berechnung der Rente des Klägers der JAV zunächst nach dieser Vorschrift zu ermitteln; es kommt grundsätzlich nicht darauf an, wie es zu Zeiten ohne Arbeitseinkommen gekommen ist (BSG SozR 2200 § 571 Nr 15). Davon zu trennen ist die Frage, ob ein solchermaßen ermittelter JAV in erheblichem Maße unbillig ist und deshalb der JAV gemäß § 577 RVO nach billigem Ermessen festgestellt werden kann.
Nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO ist nicht das vom Verletzten vor der Zeit ohne Arbeitseinkommen erzielte Arbeitseinkommen zur Auffüllung heranzuziehen, sondern es muß ein fiktives Arbeitseinkommen für diese Zeit ermittelt werden. Das geschieht in der Weise, daß festgestellt wird, welches Arbeitseinkommen durch eine Tätigkeit erzielt worden wäre, die der letzten Tätigkeit des Verletzten vor der Zeit ohne Arbeitseinkommen entspricht. Es muß somit festgestellt werden, wieviel ein dem Verletzten gleichartiger Arbeitnehmer in der Zeit, in der er kein Arbeitseinkommen bezog, erzielt hat oder wahrscheinlich erzielt hätte (BSGE 43, 204, 206; Brackmann aaO S 574 f II; Lauterbach aaO § 571 Anm 4 Buchst a). Als die der Tätigkeit des Verletzten vor der Zeit ohne Arbeitseinkommen entsprechende Tätigkeit kann im vorliegenden Fall die von dem Kläger tatsächlich ausgeübte Tätigkeit angesehen werden, weil der Arbeitsplatz des Klägers auch während der durch den Urlaub bedingten Zeit ohne Arbeitseinkommen bestanden hat und der Kläger, wäre er nicht in Urlaub gefahren, seine vorher verrichtete Tätigkeit hätte fortsetzen können. Ebenso kann im vorliegenden Fall davon ausgegangen werden, daß auch ein dem Kläger gleichartiger Arbeitnehmer soviel wie nach den vom LSG übernommenen Berechnungen des Klägers verdient hätte und deshalb auch der Einkommensverlust während der Zeit, in der er kein Arbeitseinkommen bezog, mit dem Arbeitseinkommen ausgefüllt werden kann, das der Kläger aus den damals nachweisbar gezahlten Stundenlöhnen und den ausgefallenen Arbeitstagen mit normaler Arbeitszeit selbst errechnet hat. Aus dem im Jahre vor dem Arbeitsunfall vom Kläger tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen von 8585,83 DM und dem während der Zeit ohne Arbeitseinkommen erzielbar gewesenen fiktiven Arbeitseinkommen von 3.216,40 DM ergibt sich somit nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO ein JAV von 11.802,23 DM.
Zu Recht hat das LSG entschieden, daß dieser nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist. Die Beklagte war daher berechtigt, den JAV gemäß § 577 RVO nach billigem Ermessen festzustellen. In erheblichem Maße unbillig kann ein nach §§ 571 - 576 RVO zu niedrig oder auch - wie hier - zu hoch berechneter JAV sein (Brackmann aaO S 576 g). Bei der Beurteilung, ob ein nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO berechneter JAV in erheblichem Maße unbillig ist, sind die nach § 577 Satz 2 RVO für die Feststellung des JAV nach billigem Ermessen zu beachtenden Gesichtspunkte - Fähigkeiten, Ausbildung und Lebensstellung des Verletzten, seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls - zu berücksichtigen (BSGE 32, 169, 173). Kurzfristige Einkommenslagen sind im Rahmen des § 577 RVO nicht von Bedeutung (BSGE 36, 209, 219; BSG, Urteil vom 11. Oktober 1973 - 8/2 RU 199/72 -). Als entscheidend für eine Unbilligkeit in erheblichem Maße des nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechneten JAV von 11.802,23 DM hat das LSG in erster Linie die Tatsache angesehen, daß die Lebensstellung des Klägers im Jahre vor dem Arbeitsunfall und in den zurückliegenden Jahren seit dem Jahre 1965 auf einem jeweils innerhalb von neun Monaten eines jeden Jahres erzielten Arbeitseinkommen beruhte, während der Kläger in den restlichen drei Monaten eines jeden Jahres unbezahlten Urlaub hatte. Sein Lebensstandard beruhte zu dieser Zeit nicht nur vorübergehend, sondern schon seit mehreren Jahren auf dem in rund neun Monaten jährlich erzielten Verdienst (vgl auch BSGE 44, 12, 16). In zweiter Linie war für das LSG entscheidend, daß das im Jahre vor dem Arbeitsunfall vom Kläger tatsächlich erzielte Arbeitseinkommen von 8.585,83 DM um mehr als ein Drittel hätte angehoben werden müssen, um den Betrag von 11.802,23 DM zu erreichen. Im Rahmen der erforderlichen Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles (s Brackmann aaO S 576 g) rechtfertigen es hier beide Gründe zusammen, einen JAV von 11.802,23 DM als in erheblichem Maße unbillig anzusehen. Dabei ist allerdings nicht zum Ausdruck gebracht, daß erst eine Anhebung des tatsächlich im Jahre vor dem Arbeitsunfall erzielten Arbeitseinkommens um mehr als ein Drittel als Grenze anzusehen ist, die neben anderen Umständen einen nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechneten JAV als in erheblichem Maße unbillig erscheinen läßt. Einer Entscheidung, ob im Rahmen der zu berücksichtigenden Gesamtumstände des Einzelfalles eine starre - untere und/oder obere - Grenze zu finden ist und ggf woe sie liegt, bedarf es im vorliegenden Fall jedoch nicht, obgleich der 8. Senat des BSG Einkommensdifferenzen von 20 vH bei der Berechnung des JAV noch nicht als im erheblichen Maße unbillig im Sinne des § 577 RVO angesehen hat (Urteil vom 11. Oktober 1973 aaO) und die Beklagte bereits eine Differenz von mehr als 5 vH für die Annahme einer erheblichen Unbilligkeit genügen lassen möchte. Im vorliegenden Fall beträgt der Unterschied zwischen dem tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen und dem gemäß § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechneten JAV mehr als 37 vH. Unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Tatsache, daß die Lebensstellung des Klägers seit 1965 auf einem erheblich niedrigeren Arbeitseinkommen beruht, ist der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechnete JAV jedenfalls in erheblichem Maße unbillig. Entgegen der Auffassung der Revision ist zu entscheiden, ob der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist, und nicht, ob dieser JAV im Verhältnis zu dem von der Beklagten - im Anschluß an die Feststellung der Unbilligkeit - nach billigem Ermessen festgesetzten JAV unbillig wäre. Das von der Revision angeführte Interesse des Baugewerbes daran, daß ein Teil der Arbeitnehmer während der Wintermonate unbezahlten Urlaub nimmt, weil sonst nicht alle Arbeitnehmer ganzjährig beschäftigt werden könnten, ist für die Beurteilung der Unbilligkeit eines nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechneten JAV nicht erheblich. Denn die im Rahmen des § 577 RVO zu berücksichtigende Unbilligkeit muß sich für den Verletzten immer nur aus der Festsetzung des JAV ergeben (BSG SozR Nr 2 zu § 577 RVO).
Der von der Beklagten der Berechnung der Rente zugrunde gelegte JAV entspricht billigem Ermessen. Die Beklagte hat den Kläger aufgrund ihrer Verfügung Nr 11/72 so gestellt, als hätte er im Jahre vor dem Arbeitsunfall ununterbrochen ein Arbeitseinkommen aus seiner Tätigkeit bei der Firma F bei tariflicher Arbeitszeit und dem tatsächlich gezahlten Stundenlohn von 5,50 DM erzielt. Hierbei sind die Erwerbstätigkeit des Klägers zur Zeit des Arbeitsunfalls sowie seine Lebensstellung, Ausbildung und Fähigkeiten in besonders großzügigem Maße berücksichtigt.
Die Revision des Klägers konnte daher keinen Erfolg haben und mußte zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen