Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersatzzeit. Kriegsgefangenschaft. Gewahrsam durch die amerikanische Besatzungsbehörde
Orientierungssatz
1. Unter dem Begriff der "Kriegsgefangenschaft" in § 28 Abs 1 Nr 1 AVG = RVO § 1251 Abs 1 Nr 1) ist ein Gewahrsam in feindlicher Gewalt wegen der Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband zu verstehen. Diese Zugehörigkeit bestimmt sich nach den §§ 2 und 3 des BVG (vgl BSG 1981-06-23 1 RA 1/80 = SozR 2200 § 1251 Nr 85).
2. Eine Kriegsgefangenschaft iS des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG = RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 kann nur solange andauern, wie noch eine innere Beziehung zwischen der Festnahme als Kriegsgefangener und dem späteren Grund des Gefangenhaltens besteht. Erfolgt der weitere Gewahrsam nicht (mehr) wegen der Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband, was mit der Überführung in ein Militärgefängnis anzunehmen wäre, so stellt er selbst dann keine Kriegsgefangenschaft iS von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1) mehr dar, wenn er sich zeitlich lückenlos an eine solche anschließt. Darauf, ob der Gewahrsam rechtswidrig gewesen ist iS der allgemein gültigen Rechtsordnung oder nicht, kann es dabei nicht ankommen (vgl BSG 1981-06-23 1 RA 1/80 = SozR 2200 § 1251 Nr 85).
Normenkette
RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; AVG § 28 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; BVG §§ 2-3
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 03.12.1980; Aktenzeichen L 13 An 247/79) |
SG München (Entscheidung vom 06.09.1979; Aktenzeichen S 17 An 867/78) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die rentensteigernde Anrechnung der Zeit vom 1. Januar 1947 bis 24. Mai 1955 als weitere Ersatzzeit.
Der 1912 geborene Kläger befand sich als berufsmäßiger Angehöriger des Reichsarbeitsdienstes (RAD) am 9. April 1945 auf dem Wege zum Kriegseinsatz. Bei einem amerikanischen Luftangriff auf den Transportzug wurde ein sich mit dem Fallschirm aus einem abgeschossenen Flugzeug rettender amerikanischer Pilot an der Landestelle erschossen. Der Kläger, der zu Ende des Krieges in sowjetische Gefangenschaft geraten, aus ihr entkommen und von Juli 1945 an in der amerikanischen Besatzungszone versicherungspflichtig tätig gewesen war, wurde am 11. Juni 1946 von der amerikanischen Besatzungsbehörde aufgrund der Beschuldigung in Gewahrsam genommen, an der Tötung des Piloten beteiligt gewesen zu sein. Nach formeller Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft am 12. Oktober 1946 wurde er in ein Militärgefängnis überführt, 1947 von einem amerikanischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt, später zu lebenslanger Freiheitsstrafe begnadigt und am 24. Mai 1955 aus der Strafhaft entlassen.
Im Bescheid über die Gewährung von Altersruhegeld vom 12. Oktober 1977 berücksichtigte die Beklagte eine Ersatzzeit der Kriegsgefangenschaft gem § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) berücksichtigte die Beklagte eine Ersatzzeit der Kriegsgefangenschaft (Bescheid vom 28. Juli 1978). Vor dem Sozialgericht (SG) billigte sie ihm als anerkanntem Flüchtling noch die pauschale Ersatzzeit aufgrund der Nr 6 des § 28 Abs 1 AVG bis zum 31. Dezember 1946 zu. Die Klage, die anschließende Zeit ab Januar 1947 bis zur Haftentlassung als weitere Ersatzzeit der Kriegsgefangenschaft anzurechnen, blieb vor dem SG ohne Erfolg; das Landessozialgericht (LSG) gab ihr statt.
Im Urteil vom 3. Dezember 1980 hat das LSG ausgeführt, der Kläger sei im Juni 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht kriegsgefangen worden. Seinen Status als Kriegsgefangener habe er nach der formellen Entlassung im Oktober nicht verloren; die innere Beziehung zwischen der Festnahme als Kriegsgefangener und dem späteren Grund der Gefangenschaft sei auch durch Strafverfolgung und Strafverbüßung nicht unterbrochen worden. Zwar reiche diese Feststellung für die Begründung des Anspruchs nicht aus. Eine Ersatzzeit sei zu versagen, wenn der Beitragsausfall aus der Sphäre des Betroffenen komme, hier also die Strafverfolgung und Strafverbüßung dem Kläger zuzurechnen sei, wobei nur die Zeit ab Januar 1947 zur Erörterung stehe. Dies sei indessen nicht erwiesen. Das ausländische Strafurteil habe keine Tatbestandswirkung für die Frage, ob der Kläger an der Tötung des Piloten beteiligt gewesen sei. Der Senat sei nach der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme weder von der Schuld noch von der Unschuld überzeugt.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung
des Klägers zurückzuweisen.
§ 28 Abs 1 Nr 1 AVG begreife die Kriegsgefangenschaft im völkerrechtlichen Sinne als Gefangennahme und Festhalten wegen militärischen oder militärähnlichen Dienstes. Diesen Erfordernissen entsprächen die Festnahme und spätere Inhaftierung des Klägers nicht. Er sei nicht wegen seiner Zugehörigkeit zum RAD, sondern ausschließlich wegen der Ermordung des amerikanischen Piloten festgenommen worden.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet; die Zeit vom 1. Januar 1947 bis zum 24. Mai 1955 ist entgegen dem LSG nicht als Ersatzzeit anzurechnen.
Der hierauf gerichtete Anspruch des Klägers beurteilt sich nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG idF des Rentenversicherungsänderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 (BGBl I, 476). Danach werden - bei Vorliegen der weiteren in Absatz 2 geregelten Voraussetzungen - als Ersatzzeiten ua Zeiten der Kriegsgefangenschaft angerechnet. Ob dies für das Altersruhegeld des Klägers sowohl bei Erfüllung der Wartezeit als auch der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (§ 35 Abs 1 AVG) in Betracht kommt, hängt sonach ausschließlich davon ab, ob er sich während der betreffenden Zeit in Kriegsgefangenschaft befunden hat. Das war indessen nicht der Fall.
Auszugehen ist hierbei von den nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG. Sie besagen auf S. 2 des Urteils, daß der aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft geflüchtete und bis zum 11. Juni 1946 in Freiheit befindliche Kläger an diesem Tage von den amerikanischen Besatzungsbehörden "erneut in Gewahrsam genommen" worden sei; nach der Ansicht des Berufungsgerichts "offensichtlich aufgrund der Beschuldigung, an der Tötung des amerikanischen Piloten beteiligt gewesen zu sein" und werden auf S. 5 mit der Bemerkung ergänzt, der Grund der Gefangennahme sei nach den gesamten Umständen in der zunächst nur vermuteten Tatbeteiligung zu suchen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (für viele BSGE 3, 268, 269; 36, 171, 172; neuerdings 1. Senat, Urteil vom 18. Februar 1981 - 1 RA 123/79 - und vom 23. Juni 1981 - 1 RA 1/80 -) ist unter dem Begriff der "Kriegsgefangenschaft" in § 28 Abs 1 Nr 1 AVG ein Gewahrsam in feindlicher Gewalt wegen der Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband zu verstehen. Diese Zugehörigkeit bestimmt sich nach den §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes -BVG- (BSGE 36 aaO). Gem § 3 Abs 1 Buchst i dieses Gesetzes hat der Kläger als berufsmäßiger Angehöriger eines RAD-Verbandes militärähnlichen Dienst geleistet; inwieweit er in den letzten Kriegswochen in einer RAD-Division noch militärischen Dienst als Soldat iS des § 2 Abs 1 BVG verrichtet hat, braucht der Senat nicht näher zu erörtern.
Obgleich der Kläger hiernach einem militärähnlichen Verband angehört hat, ist die strittige Zeit gleichwohl nicht als eine Zeit der Kriegsgefangenschaft zu erachten. Davon kann schon deshalb keine Rede sein, weil der Kläger am 11. Juni 1946 nicht wegen der früheren RAD-Zugehörigkeit in Gewahrsam genommen worden ist. Nach dem feststehenden Sachverhalt war diese Zugehörigkeit weder ein ausschließlicher noch ein wesentlicher Grund für die Festnahme des Klägers. Der Kläger hatte sich in der amerikanischen Besatzungszone registrieren lassen und trotz der früheren RAD-Zugehörigkeit nahezu ein Jahr dort arbeiten können. Das Kriegsende lag bei der Festnahme am 11. Juni 1946 schon über ein Jahr zurück; die Feindseligkeiten waren zu diesem Zeitpunkt längst beendet. Für eine "Gefangennahme" iS des überkommenen Kriegsgefangenschaftsbegriffs zur Verhütung der weiteren Teilnahme an kriegerischen Handlungen (BSGE 15, 147, 151) bestand nach alledem kein Anlaß. Die vom LSG festgestellten Umstände lassen dementsprechend auch eindeutig erkennen, daß es den Amerikanern um die Klärung der Schuld an der Tötung des Fliegers ging. Aus diesem Grunde haben sie nicht allein den Kläger, bei dem sie eine Tatbeteiligung vermuteten, sondern - nach der Revisionserwiderung - auch Personen festgenommen, die für Untersuchung lediglich als Zeugen in Betracht kommen sollten; inwiefern bei diesem Personenkreis (auch noch) eine frühere RAD-Zugehörigkeit für die Festnahme von Bedeutung gewesen sein könnte, ließe sich sinnvoll nicht begründen.
Eine andere Frage könnte es allerdings sein, ob die Gefangenschaft des Klägers dennoch bis zu seiner am 12. Oktober 1946 erfolgten "formellen" Entlassung aus der "Kriegsgefangenschaft" deshalb als eine Kriegsgefangenschaft iS von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG hätte gewertet werden müssen, weil er dem Anschein nach als Kriegsgefangener gehalten und von der Gewahrsamsmacht selbst als solcher bezeichnet worden ist (s. dazu BSGE 21, 41, 42 und andererseits BSGE 15, 147, 151, wo auf den wahren Grund einer Internierung abgestellt worden ist). Hierüber hat der Senat indessen vorliegend nicht zu befinden, denn die besagte formelle Entlassung liegt vor Januar 1947 und damit vor der hier nur noch streitigen Zeit.
Doch auch dann, wenn davon auszugehen wäre, der Kläger sei im Juni 1946 im herkömmlichen Sinne kriegsgefangen worden, wäre das Ergebnis hier kein anderes. Eine Kriegsgefangenschaft iS des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG kann nämlich nur solange andauern, wie noch eine innere Beziehung zwischen der Festnahme als Kriegsgefangener und dem späteren Grund des Gefangenhaltens besteht (BSGE 21, 41, 43; BSG, Urteil vom 23. Juni 1981 - 1 RA 1/80 - mwN). Erfolgt der weitere Gewahrsam nicht (mehr) wegen der Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband, was hier mit der Überführung in ein Militärgefängnis und wegen des sich verdichtenden Beteiligungsverdachts jedenfalls ab 1947 anzunehmen wäre, so stellt er selbst dann keine Kriegsgefangenschaft iS von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG mehr dar, wenn er sich zeitlich lückenlos an eine solche anschließt. Darauf, ob der Gewahrsam rechtswidrig ist iS der allgemein gültigen Rechtsordnung oder nicht, kann es dabei nicht ankommen (BSG aaO).
Nach allem hat die Beklagte zu Recht eine Anrechnung der Zeit vom 1. Januar 1947 bis 24. Mai 1955 als Ersatzzeit abgelehnt. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen