Leitsatz (amtlich)
Die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, der den Leistungsträger nach § 48 Abs 1 S 2 SGB 10 berechtigt, von der Aufhebung des unrichtig gewordenen Verwaltungsaktes für die Vergangenheit abzusehen, gehört nicht zur Ermessensausübung und ist daher gerichtlich voll überprüfbar.
Orientierungssatz
Atypischer Fall - Mitteilungspflicht nach § 48 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 10:
1. Ein atypischer Fall liegt vor, wenn die Umstände des Einzelfalles im Hinblick auf die mit der rückwirkenden Aufhebung des Verwaltungsaktes verbundenen Nachteile von den Normalfällen der Tatbestände des § 48 Abs 1 S 2 Nr 1 - 4 SGB 10 signifikant abweichen, so daß der Leistungsempfänger in besondere Bedrängnis gerät. Ein solcher atypischer Fall ist allerdings nicht allein deshalb gegeben, weil nach erfolgter rückwirkender Aufhebung die Überzahlung zurückzuerstatten ist; denn die mit der Erstattung verbundene Härte mutet das Gesetz jedem Betroffenen zu. Einen atypischen Fall begründet die Erstattungspflicht selbst bei schlechter Einkommens- und Vermögenslage (Überschuldung) nicht, wenn die Überzahlung durch eine grobe Pflichtwidrigkeit verursacht worden ist. Ein atypischer Fall ist auch dann anzunehmen, wenn der Leistungsträger im Vertrauen auf die Bewilligung die empfangene Leistung verbraucht hat.
2. Nach § 48 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 10 erfolgt die rückwirkende Aufhebung im Regelfall auch, wenn der Betroffene beim Empfang der Leistung nicht wußte oder nicht wissen mußte, daß der Anspruch ganz oder teilweise weggefallen war. Ob der Betroffene Vertrauen in das Handeln der Verwaltung gesetzt hat und setzen durfte, ist bei der Anwendung des § 48 Abs 1 S 2 SGB 10 zwar nicht völlig unbeachtlich. Jedoch ist ein Vertrauensschutz in der Weise, wie er bei der Rücknahme von Anfang an rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte eingeräumt wird (§ 45 Abs 2 S 2 SGB 10), in den Fällen des § 48 Abs 1 S 2 SGB 10 von Gesetzes wegen nicht vorgesehen.
Normenkette
SGB 10 § 48 Abs. 1 S. 2 Nrn. 1-4
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Herabsetzung bewilligten Arbeitslosengeldes (Alg) und die Rückforderung eines demnach überzahlten Betrages.
Die 1946 geborene und verheiratete Klägerin, bis 1982 als Verwaltungsangestellte tätig, bezog vom 1. Juli 1982 an bis zur Erschöpfung des Anspruchs am 29. Juni 1983 Alg, und zwar in Höhe von 279,60 DM in der Woche. Die Bewilligung erfolgte aufgrund der von der Klägerin angegebenen Lohnsteuerklasse IV gemäß § 111 Abs 2 Nr 1 Buchst a Arbeitsförderungsgesetz (AFG) nach den Sätzen der Leistungsgruppe A.
Zum 1. Januar 1983 änderten die Klägerin und ihr Ehemann die Lohnsteuerklassenkombination. Der Ehemann übernahm die Lohnsteuerklasse III, die Klägerin die Klasse V. Der Beklagten wurde dies infolge eines im Herbst 1983 gestellten Antrags der Klägerin auf Förderung einer beruflichen Bildung bekannt. Dabei hatte die Klägerin zunächst angegeben, die geänderte Steuerklasse V gelte ab 1. Juli 1983; einer im Januar 1984 abgegebenen Erklärung zufolge gilt die Änderung dagegen ab 1. Januar 1983.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 24. April 1984 (in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juni 1984) hob die Beklagte die Alg-Bewilligung für die Zeit vom 1. Januar bis 29. Juni 1983 teilweise auf, weil der Klägerin das Alg nur nach der Leistungsgruppe D zustehe und sie die Veränderung nicht rechtzeitig mitgeteilt habe. Gleichzeitig forderte die Beklagte die Erstattung der hierdurch eingetretenen Überzahlung von 2.186,80 DM.
Das Sozialgericht (SG) hat der Anfechtungsklage stattgegeben. Es teilt die Ansicht der Beklagten, daß der Klägerin nach dem Steuerklassenwechsel angesichts der zu vergleichenden monatlichen Arbeitslöhne (Ehemann 5.053,-- DM, Klägerin 2.803,-- DM) das Alg ab 1. Januar 1983 nur nach der Leistungsgruppe D zugestanden habe, beanstandet jedoch, daß das bei der Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit dem Leistungsträger eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt worden sei. Die Berufung hat das SG zugelassen (Urteil vom 20. März 1985). Dieses Rechtsmittel der Beklagten, die während des Berufungsverfahrens durch Schreiben vom 13. Juni 1985 den angefochtenen Bescheid vom 24. April 1984 "geändert bzw ergänzt" hat, ohne eine andere Regelung zu treffen, hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 25. April 1986).
Das LSG hat zur Begründung seines Urteils ausgeführt, zu Recht seien Beklagte und SG davon ausgegangen, daß die Änderung der Lohnsteuerklasse eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB 10) sei, weil der Klägerin, gemäß § 111 Abs 2 Nr 1 Buchst d AFG nunmehr der Leistungsgruppe D zugeordnet, ab 1. Januar 1983 nur noch 194,40 DM Alg in der Woche zugestanden habe. Der Beklagten sei auch einzuräumen, daß die Klägerin ihrer Pflicht, derartige für die Leistung bedeutsame Änderungen unverzüglich mitzuteilen (§ 60 Abs 1 Nr 2 Sozialgesetzbuch - Erstes Buch - SGB 1), wenn nicht vorsätzlich, so doch grob fahrlässig nicht nachgekommen sei (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB 10). Die Klägerin sei durch wiederholte Hinweise darüber unterrichtet worden, daß die Lohnsteuerklasse von Bedeutung sei und sie diesbezügliche Änderungen sofort anzuzeigen habe. Wer solche Belehrungen unbeachtet lasse, verstoße in besonders schwerer Weise gegen die ihm obliegende Sorgfalt. Das gelte für die Klägerin umso mehr, als sie als Verwaltungsangestellte sich sachkundig zu machen und zu behaupten wisse, wie ihr engagierter Schriftwechsel beweise. Indessen führe dieser Sachverhalt für sich allein noch nicht dazu, daß die Alg-Bewilligung rückwirkend aufzuheben sei. Zwar habe dies nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 im Regelfall zu geschehen, in atypischen, besonderen Ausnahmefällen könne der Leistungsträger jedoch davon absehen. Letzteres habe die Beklagte nicht berücksichtigt. Bescheid und Widerspruchsbescheid teilten lediglich die Umstände mit, aus denen sich die wesentliche Änderung und die Versäumung der Anzeige ergebe. Umstände, die die Annahme eines Ausnahmefalles nahelegen könnten, seien in den Bescheiden nicht dargetan; andererseits sei auch nicht begründet worden, daß und warum ein Regelfall vorliege. Damit habe die Beklagte § 35 Abs 1 SGB 10 verletzt, wonach bei Ermessensentscheidungen die Begründung auch die Gesichtspunkte erkennen lassen müsse, von denen sich die Behörde habe leiten lassen. Der während des Berufungsverfahrens nachgeschobene "Ergänzungsbescheid" könne diesen Mangel nicht beheben; denn abgesehen von inhaltlichen Bedenken könne eine erforderliche Begründung nur bis zum Abschluß des Vorverfahrens (§ 41 Abs 1 Nr 2 SGB 10), aber nicht mehr während des gerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. Das Versäumnis könne und dürfe das Gericht nicht ersetzen, auch nicht hinsichtlich der Feststellung, ob ein Ausnahmefall anzunehmen sei. Das Ermessen sei nicht nur in atypischen Fällen auszuüben, es erstrecke sich vielmehr auch auf die Erkenntnis, ob Besonderheiten vorhanden seien, die eine Durchbrechung der Regel erlaubten. Der § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 sei nämlich eine sogenannte Koppelungsvorschrift, die der Behörde auf der Rechtsfolgenseite Ermessensfreiheit gewähre, diese Ermächtigung aber nicht an die Erfüllung eindeutig fixierbarer Sachverhaltsvoraussetzungen knüpfe, sondern im Tatbestand einen unbestimmten Rechtsbegriff enthalte, der seinerseits nicht ohne wertende Erwägungen ausgefüllt werden könne (vgl Gemeinsamer Senat BVerwGE 39, 355). Das habe zur Folge, daß die Verwaltungsentscheidung insgesamt, also auch in bezug auf das Vorliegen atypischer Umstände, nur nach den für die gerichtliche Kontrolle behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Maßstäben überprüft werden dürfe; der Entscheidungsvorgang lasse sich nicht streng in Subsumtion und Ermessen trennen. Sei sonach die Aufhebungsentscheidung wegen fehlender Ermessenserwägungen aufzuheben, erweise sich auch die vom Bestand der Aufhebungsentscheidung abhängige Rückforderungsverfügung als rechtswidrig.
Die Beklagte rügt mit der Revision eine Verletzung des § 48 SGB 10. Sie räumt ein, daß bei Vorliegen der in § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 1 - 4 SGB 10 genannten Tatbestände in von der Regel abweichenden Fällen im Wege des Ermessens davon abgesehen werden könne, einen Verwaltungsakt bei Änderung der Verhältnisse rückwirkend aufzuheben. Entgegen der Rechtsansicht des LSG sei jedoch die Entscheidung, ob eine Ausnahme von der Regel, ein sog "atypischer" Fall, vorliege, keine Ermessensentscheidung. Das Ermessen erstrecke sich nur auf die Frage, was im Ausnahmefall zu geschehen habe (BSG Urteil vom 24. März 1983 - 10 RKg 17/82 -; Urteil vom 6. November 1985 - 10 RKg 3/84 -; Urteil vom 19. Februar 1986 - 7 RAr 55/84 -), so daß die Beurteilung, ob ein typischer oder atypischer Fall vorliege, der uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliege. Vorliegend sei ein atypischer Fall nicht gegeben. Weder der für die neue Leistungsbemessung ursächliche Steuerklassenwechsel noch die Behauptung der Klägerin, ihr sei die Auswirkung der Steuerklassenänderung auf das Alg unbekannt, könnten einen Ausnahmefall begründen. Die mit der Aufhebung der Alg-Bewilligung und der Erstattung der zu Unrecht erbrachten Leistung verbundenen Folgen wichen vom Normalfall nicht ab, wie ihn § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB 10 bei grob fahrlässiger Verletzung von Mitteilungspflichten im Auge habe. Die finanzielle Belastung durch die Erstattung sei Fällen dieser Art eigen. Daß die Teilaufhebung der Alg-Bewilligung für die Klägerin eine über das normale Maß hinausgehende besondere Härte darstelle, sei nicht erkennbar. Entgegen den Ausführungen des LSG komme es im übrigen für die Frage, ob ein atypischer Fall vorliege, weder auf die finanzielle Lage des Leistungsempfängers noch darauf an, ob der Begünstigte deshalb Schutz verdiene, weil er die Leistungen bereits verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen habe, die nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig zu machen sei. Erwägungen dieser Art vermengten § 45 Abs 2 Satz 3 SGB 10 mit § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10, was bei der abschließenden und eigenständigen Regelung des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 nicht gewollt sein könne. Auch bliebe dann das Wechselverhältnis zwischen einer Entscheidung über die Aufhebung eines Verwaltungsaktes einerseits und § 59 Bundeshaushaltsordnung sowie der nach § 152 Abs 2 AFG erlassenen Niederschlagungsanordnung andererseits außer Betracht. Ob ein Leistungsempfänger den Erstattungsanspruch erfüllen könne, bleibe letztlich eine Frage der Vollstreckung, in deren Rahmen Stundung, Niederschlagung oder ein Forderungserlaß in Betracht komme. Fällen besonderer Härte könne daher nach Maßgabe der haushaltsrechtlichen Regelung in ausreichendem Maße Rechnung getragen werden.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Ausführungen des angefochtenen Urteils für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.
Mit dem angefochtenen Bescheid hat die Beklagte unter Berufung auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB 10 die Bewilligung von Alg rückwirkend teilweise aufgehoben und unter Berufung auf § 50 Abs 1 SGB 10 eine sich hieraus ergebende Überzahlung von der Klägerin zurückgefordert. Das LSG hat das diesen Bescheid aufhebende Urteil des SG mit der Begründung bestätigt, daß die Beklagte nicht geprüft, entschieden und begründet habe, ob ein atypischer Fall vorliege, der es erlaube, von der rückwirkenden Aufhebung der ausgesprochenen Bewilligung abzusehen. Diese Entscheidung stellt eine Verletzung des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 dar, wie die Revision zutreffend geltend macht.
Nach § 48 Abs 1 SGB 10 wird ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufgehoben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Wesentlich in diesem Sinne sind alle Änderungen, die dazu führen, daß die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den Verwaltungsakt nicht oder nicht wie geschehen hätte erlassen dürfen. Zutreffend hat das LSG hiernach eine zur Teilaufhebung der Bewilligung ab 1. Januar 1983 führende wesentliche Änderung in den maßgebenden Verhältnissen angenommen, weil der Klägerin infolge der für sie ab 1. Januar 1983 eingetragenen Steuerklasse V Alg nur noch in der Leistungsgruppe D in Höhe von 194,40 DM wöchentlich zugestanden hat.
Die Höhe des wöchentlichen Alg-Leistungssatzes richtet sich nach der Nettolohnersatzquote, die 1983 noch einheitlich 68 vH betrug (§ 111 Abs 1 AFG in der bis zum 31. Dezember 1983 geltenden Fassung des Gesetzes vom 21. Dezember 1974, BGBl I 3656), nach dem Arbeitsentgelt, das der Bemessung zugrundezulegen ist (§ 112 AFG), und nach der Leistungsgruppe des einzelnen Arbeitslosen, durch die die in den verschiedenen Lohnsteuerklassen unterschiedlich hohen gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, berücksichtigt werden (§ 111 Abs 2 Satz 2 Nr 1 AFG). Grundsätzlich ist, soweit die Höhe des Alg von der auf der Lohnsteuerkarte des Arbeitslosen eingetragenen Lohnsteuerklasse abhängt, die Lohnsteuerklasse maßgebend, die auf der Lohnsteuerkarte des Arbeitslosen zu Beginn des Kalenderjahres eingetragen war, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 113 Abs 1 Satz 1 AFG). Spätere Änderungen der eingetragenen Lohnsteuerklasse werden berücksichtigt, auch die Eintragung einer anderen Lohnsteuerklasse für ein späteres Kalenderjahr (§ 113 Abs 1 Sätze 2 und 3 AFG). Haben Ehegatten die Steuerklassen gewechselt, so werden die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen von dem Tage an berücksichtigt, an dem die Änderung wirksam wird (§ 113 Abs 2 Satz 1 AFG). Diese Sondervorschrift für den Steuerklassenwechsel von Eheleuten schließt die Anwendung des Satzes 2 (BSG SozR 4100 § 113 Nr 1) und des Satzes 3 (BSGE 61, 45, 53 = SozR 4100 § 113 Nr 5) von § 113 Abs 1 AFG aus; sie gilt also auch, wenn Eheleute für ein neues Kalenderjahr eine andere Steuerklassenkombination wählen (vgl BSG aaO), wie das hier für 1983 geschehen ist. Maßgebend ist für die Klägerin ab 1. Januar 1983 mithin die Steuerklasse V. Nur wenn die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen an diesem Tage offensichtlich nicht dem Verhältnis der monatlichen Arbeitslöhne beider Ehegatten entsprochen hätten, wobei ein Ausfall des Arbeitslohns, der den Anspruch auf eine lohnsteuerfreie Lohnersatzleistung begründet, außer Betracht bleibt, wäre davon abweichend eine andere als die eingetragene Steuerklasse für die Höhe des Alg maßgebend (§ 113 Abs 2 Sätze 2 und 3 AFG). Angesichts der Höhe der Arbeitslöhne, die bei diesem Vergleich für die Klägerin und ihren Ehemann am 1. Januar 1983 anzusetzen sind, kann von einem solchen Fall jedoch keine Rede sein.
Ist ab 1. Januar 1983 die Steuerklasse V maßgebend, erhält die Klägerin gemäß § 111 Abs 2 Satz 2 Nr 1 Buchst d AFG das Alg in der Leistungsgruppe D. Statt der bewilligten 279,60 DM in der Woche, die die AFG-Leistungsverordnung 1982 vom 30. Dezember 1981 (BGBl I 1704) bei einem Arbeitsentgelt von 645,-- DM in der Leistungsgruppe A vorsehen, haben der Klägerin in der Leistungsgruppe D nach den Tabellensätzen der gleichen Leistungsverordnung ab 1. Januar 1983 nur noch 194,40 DM in der Woche zugestanden, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat. Die Maßgeblichkeit der Leistungssätze der AFG-Leistungsverordnung 1982 auch für 1983 ergibt sich dabei aus § 2 Abs 2 der AFG-Leistungsverordnung 1983 vom 23. Dezember 1982 (BGBl I 2038); hiernach sind für Arbeitslose, deren Anspruch auf Alg vor dem 1. Januar 1983 entstanden ist, bis zum Tage einer Erhöhung des Arbeitsentgelts nach § 112a AFG die alten Leistungssätze maßgebend, wenn dies für den Berechtigten günstiger ist.
Bei Eintritt einer wesentlichen Änderung ist nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB 10 der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Dagegen soll, worum hier der Streit geht, die Aufhebung mit Wirkung für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse erfolgen, wenn einer der Tatbestände von § 48 Nr 1 Satz 2 Nrn 1 - 4 SGB 10 vorliegt. Letzteres ist hier der Fall. Nach den von der Klägerin im Revisionsverfahren nicht angegriffenen und den Senat deshalb bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) ist die Beklagte nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB 10 zur rückwirkenden Aufhebung berechtigt, weil die Klägerin der sich aus § 60 Abs 1 Nr 2 SGB 1 ergebenden Pflicht, der Beklagten die für die Höhe des Alg nachteilige Änderung der Lohnsteuerklasse mitzuteilen, wenn nicht vorsätzlich, so doch grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Als die Beklagte im Frühjahr 1984 die Maßgeblichkeit der Steuerklasse V erkannte, hatte sie somit zu beachten, daß die Alg-Bewilligung, soweit eine Änderung eingetreten war, von Gesetzes wegen mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse, also ab 1. Januar 1983, aufgehoben werden soll. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSGE 59, 111, 115 = SozR 1300 § 48 Nr 19; SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 8; SozR 1300 § 48 Nrn 21, 22, 24, 25; BSGE 60, 180, 185 = SozR 1300 § 48 Nr 26; SozR 1300 § 48 Nr 30) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl BVerwG Buchholz 436.36 § 53 BAföG Nr 5 und das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil vom 17. September 1987 - 5 C 26.84 -; ebenso die Urteile vom 17. September 1987 - 5 C 19.84, 20.84, 43.84 und 16.86 -) bedeutet das "soll" in § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10, daß der Leistungsträger den Verwaltungsakt in der Regel rückwirkend aufhebt, daß er jedoch in atypischen Fällen hiervon absehen darf. Dabei ist auch klargestellt, daß die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, nicht zur Ermessensausübung gehört, die Feststellung des Vorliegens bzw Nichtvorliegens eines atypischen Falles als Voraussetzung der jeweiligen Rechtsfolge mithin gerichtlich voll überprüfbar ist. Deshalb muß das Gericht, wenn der Leistungsträger ohne weitere Prüfung einen Regelfall angenommen hat, entgegen der Auffassung des LSG diese Prüfung selbst nachholen; es darf den angefochtenen Bescheid wegen fehlender Ermessensausübung nur aufheben, wenn die Prüfung einen atypischen Fall ergibt.
An dieser Rechtsprechung ist in vollem Umfang festzuhalten. Träfe die Ansicht des LSG zu, daß sich das Verwaltungsermessen auch auf die Erkenntnis, ob ein atypischer Fall vorliegt oder nicht, erstreckt, müßte die Behörde bei der Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 stets zunächst eine Entscheidung hierüber treffen und diese auch begründen (vgl § 35 Abs 1 SGB 10). Dies würde aber in den zahlreichen Regelfällen ohne Not die Handhabung des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 erheblich erschweren und zusätzlich die gerichtliche Überprüfbarkeit in sonst nicht üblicher Weise einschränken. Aus diesen Gründen hat es schon der 10. Senat des BSG in seinem grundlegenden Urteil vom 6. November 1985 (BSGE 59, 111 = SozR 1300 § 48 Nr 19) ausdrücklich abgelehnt, die Frage, ob ein Ausnahmefall vorliegt, als Teil der (nur beschränkt überprüfbaren) Ermessensentscheidung anzusehen. Dort ist auch darauf hingewiesen worden, daß in atypischen Fällen der Behörde durchaus die Möglichkeit verbleibt, den wegen wesentlicher Änderungen rechtswidrig gewordenen Verwaltungsakt gleichwohl rückwirkend aufzuheben. Es kann infolgedessen keine Rede davon sein, daß in atypischen Fällen in aller Regel keine rückwirkende Aufhebung erfolgen dürfe. Der atypische Fall berechtigt die Behörde lediglich, von der rückwirkenden Aufhebung des rechtswidrig gewordenen Verwaltungsaktes im Wege des Ermessens abzusehen. Eine Ermächtigung zur Ausübung von Ermessen hat aber grundsätzlich zur Folge, was das LSG verkennt, daß Entscheidungen mit unterschiedlichen Ergebnissen denkbar sind, die in gleicher Weise rechtmäßig sind. Daran ändert nichts, daß in Ausnahmefällen nur eine ganz bestimmte Entscheidung rechtmäßig ist, wenn nämlich jegliche andere denkbare Entscheidung ermessensfehlerhaft wäre. Die Ausführungen des LSG geben dem Senat daher keine Veranlassung, die bisherige Rechtsprechung zu § 48 Abs 1 SGB 10 in Frage zu stellen.
Darf hiernach ein Gericht bei einem Tatbestand des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 einen Bescheid wegen fehlender Ermessensausübung nur aufheben, wenn die Prüfung einen atypischen Fall ergibt, ist die Revision begründet. Sie führt in Ermangelung der für eine abschließende Entscheidung erforderlichen Feststellungen, ob ein typischer oder atypischer Fall gegeben ist, zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Erforderlich für einen atypischen Fall ist, daß die Umstände des Einzelfalles im Hinblick auf die mit der rückwirkenden Aufhebung des Verwaltungsaktes verbundenen Nachteile von den Normalfällen der Tatbestände des § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 1 - 4 SGB 10 signifikant abweichen, so daß der Leistungsempfänger in besondere Bedrängnis gerät (vgl BSGE 59, 111, 116 = SozR 1300 § 48 Nr 19). Ein solcher atypischer Fall ist allerdings nicht allein deshalb gegeben, weil die Klägerin nach erfolgter rückwirkender Aufhebung die Überzahlung zurückzuerstatten hat; denn die mit einer Erstattung verbundene Härte mutet das Gesetz jedem Betroffenen zu. Einen atypischen Fall begründet die Erstattungspflicht selbst bei schlechter Einkommens- und Vermögenslage (Überschuldung) nicht, wenn die Überzahlung durch eine grobe Pflichtwidrigkeit verursacht worden ist (vgl nicht veröffentlichtes Urteil des Senats vom 26. November 1986 - 7 RAr 65/85 -). Mit Recht weist die Revision darauf hin, daß nach Maßgabe des Haushaltsrechts Forderungen gestundet oder niedergeschlagen werden können, wenn eine Vollstreckung keinen Erfolg verspricht (BSG aaO). Den vom LSG getroffenen Feststellungen ist ein Ausnahmefall mithin nicht zu entnehmen. Andererseits ist zu bedenken, daß das Berufungsgericht - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - zur Frage des atypischen Falles keine Feststellungen getroffen hat. Da es hierbei auf die besonderen Umstände des Einzelfalles ankommt, kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß Gründe gegeben sind, die der Beklagten die Möglichkeit eröffnen, von der rückwirkenden Teilaufhebung der ausgesprochenen Alg-Bewilligung abzusehen.
Die Prüfung, ob ein atypischer Fall vorliegt, ist nicht entbehrlich. Es ist kein Grund ersichtlich, der von vornherein der rückwirkenden teilweisen Aufhebung der Alg-Bewilligung entgegenstünde. Die Fristerfordernisse (§§ 48 Abs 4 Satz 1, 45 Abs 3 Satz 3 und Abs 4 SGB 10) sind gewahrt. Die Prüfung kann auch nicht deshalb entfallen, weil die Beklagte in jedem Falle eine ausreichende Ermessensentscheidung getroffen hätte. Letzteres ist nämlich nicht der Fall. Zu Unrecht beruft sich die Beklagte in diesem Zusammenhang auf das während des Berufungsverfahrens ergangene Schreiben vom 13. Juni 1985. Sie übersieht, daß eine Berücksichtigung dieses Schreibens, das mangels eigenständiger Regelung kein Verwaltungsakt ist, in diesem Prozeß nicht möglich ist. Eine Ermessensentscheidung und die erwogenen Gründe können nach Abschluß des Vorverfahrens, also während des gerichtlichen Verfahrens, wohl noch verdeutlicht, nach den Vorschriften der §§ 35 Abs 1 Satz 2, 41 Abs 2 SGB 10 aber nicht mehr nachgeschoben werden, worauf der Senat schon hingewiesen hat (BSGE 59, 157, 172 = SozR 1300 § 45 Nr 19). Es sind daher hinsichtlich des atypischen Falles noch Feststellungen durch das Tatsachengericht nachzuholen.
Steht hiernach nicht fest, ob die Beklagte die Alg-Bewilligung zu Recht teilweise aufgehoben hat, läßt sich auch nicht entscheiden, ob der Beklagten gemäß § 50 Abs 1 SGB 10 ein Erstattungsanspruch zusteht.
Das angefochtene Urteil ist nach allem gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben wird.
Für die erforderliche Prüfung wird im Hinblick auf die Ausführungen des LSG darauf hingewiesen, daß ein atypischer Fall nicht schon dann anzunehmen ist, wenn der Leistungsempfänger im Vertrauen auf die Bewilligung die empfangene Leistung verbraucht hat. Die Aufhebung des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Veränderung der rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse soll nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB 10 erfolgen, soweit der Betroffene einer Mitteilungspflicht grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Das hat zur Folge, daß in Fällen dieser Art die rückwirkende Aufhebung im Regelfall auch erfolgt, wenn der Betroffene beim Empfang der Leistung nicht wußte oder nicht wissen mußte, daß der Anspruch ganz oder teilweise weggefallen war. Ob der Betroffene Vertrauen in das Handeln der Verwaltung gesetzt hat und setzen durfte, ist bei der Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 zwar nicht völlig unbeachtlich (vgl BSG SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 8 und SozR 1300 § 48 Nr 22). Jedoch ist ein Vertrauensschutz in der Weise, wie er bei der Rücknahme von Anfang an rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte eingeräumt wird (§ 45 Abs 2 Satz 2 SGB 10), in den Fällen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 von Gesetzes wegen nicht vorgesehen.
Fundstellen