Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 19.08.1991; Aktenzeichen L 2 J 125/90)

SG Speyer (Urteil vom 07.08.1990)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. August 1991 abgeändert.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 7. August 1990 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch deren außergerichtlichen Kosten für das Berufungs- und das Revisionsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Gewährung der Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU).

Die 1931 geborene Klägerin verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Sie war nach Beschäftigungen als Arbeiterin in einer Glühlampenfabrik, einer Strikerei und einer Wäscherei von 1964 bis zu ihrem Ausscheiden am 31. August 1989 bei der Deutschen Bundespost als Postzustellerin versicherungspflichtig beschäftigt. Seit 1966 erhielt sie neben dem Tabellenlohn einer Angelernten bzw Facharbeiterin eine Tätigkeitszulage, die den Unterschiedsbetrag zum Lohn nach der Lohngruppe II des Tarifvertrages der Deutschen Bundespost ausmachte. Mit dem 1. Mai 1982 wurde sie in die Lohngruppe II des Tarifvertrages eingestuft, weil sie das 50. Lebensjahr vollendet und ununterbrochen fünf Jahre auf einem Arbeitsposten für Beamte beschäftigt war. Seit März 1989 ist die Klägerin arbeitsunfähig krank.

Den im Juli 1989 gestellten Antrag der Klägerin auf Gewährung der Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit-Erwerbsunfähigkeit (BU-EU) lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 12. Januar 1990).

Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben, den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin die gesetzlichen Leistungen aufgrund eines Versicherungsfalles der BU vom 10. Juli 1989 ab 1. August 1989 zu gewähren (Urteil vom 7. August 1990).

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. August 1991). In den Entscheidungsgründen hat das LSG ausgeführt, daß die Klägerin nicht berufsunfähig sei. Der bisherige Beruf der Klägerin sei der der Postzustellerin. Dieser sei der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten (oberer Bereich) zuzuordnen. Als angelernte Arbeiterin könne die Klägerin auf die Tätigkeit einer einfachen Pförtnerin verwiesen werden. Die Klägerin könne noch leichte körperliche Arbeiten ebenerdig in temperierten Räumen in wechselnder Körperhaltung vom Sitzen, Stehen und Gehen vollschichtig in Normalschicht verrichten. Leistungseinschränkungen im Hinblick auf eine mögliche Erwerbstätigkeit auf psychiatrischem Fachgebiet seien nicht nachzuweisen. Wenn man davon ausgehe, daß die Klägerin wegen ihrer bisherigen Tätigkeit der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen sei, so sei keine Verweisungstätigkeit für sie gegeben.

Gegen dieses Urteil richtet sich die – vom LSG zugelassene – Revision der Klägerin (15. Oktober 1991). Die Klägerin rügte eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. August 1991 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 7. August 1990 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend. Sie rügt die Verletzung des rechtlichen Gehörs, soweit das LSG davon ausgegangen ist, daß die Klägerin keine Verweisungstätigkeiten ausüben könne, die einer Versicherten zumutbar seien, die zur Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters gehöre.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist begründet.

Zu Unrecht hat das LSG auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen. Zur Recht hat das SG den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen BU verpflichtet.

Für die Entscheidung des Senats sind weiterhin die zum 1. Januar 1992 aufgehobenen Vorschriften der RVO maßgebend (§ 300 Abs 2 Sozialgesetzbuch – Sechsten Buches – ≪SGB VI≫).

Die Voraussetzungen des § 1246 RVO für den Anspruch auf Rente wegen BU sind erfüllt. Die Klägerin hat die Wartezeit von 60 Monaten zurückgelegt und zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalles im Juli 1989 eine versicherungspflichtige Beschäftigung von drei Jahren innerhalb der letzten fünf Jahre ausgeübt (§ 1246 Abs 1 u Abs 2a RVO), was nicht weiter erörtert zu werden braucht.

Entgegen der Ansicht des LSG und der Beklagten sind aber auch die Voraussetzungen des § 1246 Abs 2 RVO erfüllt. Nach dieser Vorschrift ist berufsunfähig der Versicherte, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheiten oder anderen Gebrechen oder Schwächen seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs unter besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Bisheriger Beruf der Klägerin ist der der Postzustellerin. Diesen kann die Klägerin seit Juli 1989 nicht mehr verrichten, wie sich aus den vom LSG getroffenen Feststellungen hinreichend deutlich ergibt. Das LSG hat dies zwar nicht ausdrücklich in den Entscheidungsgründen ausgeführt. Es hat lediglich festgestellt, daß die Klägerin nur noch leichte körperliche Arbeiten mit bestimmten Einschränkungen verrichten kann. Durch die Bezugnahme auf die vom SG in seinem Urteil festgestellten Anforderungen an die Tätigkeit einer Postzustellerin, daß diese nämlich mittelschwere körperliche Arbeiten verrichten muß, wird aber hinreichend deutlich, daß auch das LSG davon ausgeht, daß die Klägerin als Postzustellerin nicht mehr arbeiten kann. Dies ist von der Beklagten auch nicht angegriffen worden.

Die Klägerin kann auch keine andere Berufstätigkeit mehr ausüben, die ihr unter Berücksichtigung ihrer bisherigen Tätigkeit zumutbar ist. Die bisherige Tätigkeit der Klägerin ist dabei im Rahmen des vom BSG entwickelten Berufsgruppenschemas der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen. Dies ergibt sich allerdings nicht aus der Ausbildungsdauer für die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit; denn die Klägerin ist nach den Feststellungen des LSG für ihre Tätigkeit nur etwa eine Woche ausgebildet worden. Maßgebend für die Zuordnung zur Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters ist aber, daß die Klägerin eine Tätigkeit ausgeübt hat, die tarifvertraglich einer Facharbeitertätigkeit gleichgestellt ist. Die am 1. Mai 1982 vorgenommene Einstufung in die Lohngruppe II des Tarifvertrages ist jedoch nicht entscheidend, denn diese Einstufung erfolgte wegen Vollendung des 50. Lebensjahres und fünfjähriger ununterbrochener Tätigkeit auf einem Arbeitsposten für Beamte. Das heißt, es war eine Höherstufung aufgrund eines Bewährungsaufstieges bzw wegen Zeitablaufs (vgl BSG, Urteil vom 22. Juli 1992 – 13 RJ 13/91 –). Die Klägerin war aber schon davor tarifvertraglich einer Facharbeiterin gleichgestellt, denn sie erhielt eine Tätigkeitszulage die den Differenzbetrag zwischen der für sie maßgebenden Lohngruppe und der Lohngruppe II ausmachte. Der Senat hat bereits früher entschieden, daß auch die Postzusteller, die in eine Lohngruppe für angelernte Arbeiter eingestuft sind, aber eine Tätigkeitszulage erhalten, die die Differenz zum Facharbeiterlohn ausgleicht, der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen sind (SozR 2200 § 1246 Nr 122). Im Zeitpunkt des Ausscheidens der Klägerin waren darüber hinaus Postzusteller aufgrund ihrer Tätigkeit stets zumindest in die Lohngruppe 4 einzustufen, das heißt in eine Facharbeiterlohngruppe. Dies ergibt sich aus § 5 des Lohngruppenverzeichnisses zum Tarifvertrag der Deutschen Bundespost, wie er im Zeitpunkt des Ausscheidens der Klägerin aus dem Postdienst galt (vgl dazu auch im einzelnen das Urteil des 13. Senats vom 22. Juli 1992 – 13 RJ 13/91 –). Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, daß die tarifvertragliche Einstufung einer Tätigkeit stets maßgebend ist, es sei denn, für diese Einstufung liegen qualitätsfremde Merkmale wie Erschwerniszulagen oder Bewährungsaufstieg vor. Sinn der Rechtsprechung des Senats ist es gerade, die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO aufgeführten unbestimmten Merkmale zur Bestimmung der Qualität des bisherigen Berufs für die Praxis handhabbar zu machen. Soweit die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Tätigkeit tarifvertraglich einer Lohngruppe zuordnen, soll deshalb diese Entscheidung der Tarifvertragsparteien maßgebend sein, es sei denn, es werden die genannten qualitätsfremden Gründe für die Einstufung festgestellt. Soweit das LSG meint, die Rechtsprechung des Senats sei widersprüchlich, wenn einerseits die tarifvertragliche Einstufung für maßgebend erklärt werde, andererseits in anderen Fällen aber auf die Wettbewerbsfähigkeit eines Arbeiters im Vergleich zu – gelernten – Facharbeitern mit Facharbeiterprüfung abgestellt werde, trifft dies nicht zu. Die Rechtsprechung zur Wettbewerbsfähigkeit eines Arbeiters mit einem Facharbeiter mit Facharbeiterprüfung betrifft Fälle, in denen festgestellt werden soll, ob eine bestimmte Tätigkeit den im Tarifvertrag genannten Anforderungen entspricht. Soweit der Senat aber die tarifvertragliche Einstufung einer Tätigkeit für maßgebend hält, respektiert er die vorrangige Entscheidung der Tarifvertragsparteien über die Bewertung dieser Tätigkeit durch die Tarifvertragsparteien.

Ausgehend von ihrem bisherigen Beruf, der einem Facharbeiterberuf gleichgestellt ist, kann die Klägerin nach den Feststellungen des LSG keine andere ihr zumutbare Tätigkeit ausüben. Das LSG hat dazu festgestellt, daß die Klägerin keine Vorkenntnisse hatte, um eine herausgehobene Büro- oder Verwaltungstätigkeit innerhalb einer Anlern- oder Einarbeitungszeit von bis zu drei Monaten vollwertig auszuüben. Die Verfahrensrüge der Beklagten gegen diese Feststellung ist nicht begründet. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) durch eine Überraschungsentscheidung kann in den Feststellungen des LSG zu fehlenden Verweisungstätigkeiten für die Klägerin schon deshalb nicht gesehen werden, weil das SG bereits entschieden hatte, daß der Klägerin Berufsschutz wie einer Facharbeiterin zustehe und zumutbare Verweisungstätigkeiten nicht erkennbar seien.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174170

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