Leitsatz (redaktionell)
An der Rechtsprechung, daß NVG § 4 Abs 3 seit dem 1957-01-01 außer Kraft getreten ist, wird festgehalten.
Normenkette
NVG § 4 Abs. 3
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Mai 1968 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21. April 1967 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist streitig, in welcher Weise Zeiten nationalsozialistischer Verfolgung die Höhe der Rente beeinflussen.
Der im Jahre 1894 geborene Kläger ist Jude. Er war von 1912 bis 1915 als Arbeiter und kaufmännischer Lehrling in Posen versicherungspflichtig beschäftigt. Danach wurden für ihn keine Beiträge mehr entrichtet. Bis Ende November 1918 war er Soldat in der Deutschen Wehrmacht. Dann trat er in das väterliche Geschäft in Mariensee bei Danzig ein; dieses übernahm er im Jahre 1931 selbständig. Im Dezember 1939 wanderte er nach Argentinien aus.
Durch Bescheid vom 27. Januar 1967 bewilligte die beklagte Landesversicherungsanstalt dem Kläger Altersruhegeld vom 1. Juli 1965 an, dem Tage des Inkrafttretens des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 (RVÄndG). Der Rentenberechnung legte sie neben den Beitragszeiten - in der zweiten Beitragsklasse - die Wehrdienstzeit und die Zeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts vom 16. Dezember 1939 bis 31. Dezember 1949 als Ersatzzeiten zugrunde, ohne hierfür Werteinheiten einzusetzen.
Diesen Bescheid hat der Kläger angefochten mit dem Ziel, die Berücksichtigung der Verfolgungszeit in der vierten Beitragsklasse zu erwirken (§ 4 Abs. 3 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 - VerfolgtenG -).
Die Klage hat in den Vorinstanzen Erfolg gehabt (Urteile des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21. April 1967 und des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen - LSG - vom 29. Mai 1968). Das LSG hat die Beklagte verpflichtet, "dem Kläger ein höheres Altersruhegeld zu gewähren, wobei für die Zeit der Verfolgung vom 16. Dezember 1939 bis 31. Dezember 1949 bei der Rentenberechnung Werteinheiten der vierten Beitragsklasse zugrunde zu legen sind". Es ist von der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), nach der § 4 Abs. 3 VerfolgtenG am 1. Januar 1957 außer Kraft getreten, § 4 Abs. 4 dieses Gesetzes aber weiterhin - sinngemäß - anzuwenden ist (SozR Nrn. 8, 9, 11 und 12, 13 VerfolgtenG Allg), abgewichen. Es meint, bei der Ermittlung der Rentenbemessungsgrundlage müßten Werteinheiten der vierten Beitragsklasse auch dann berücksichtigt werden, wenn der Verfolgte - wie es bei dem Kläger als selbständigem Geschäftsinhaber der Fall gewesen sei - entsprechende Arbeitsentgelte nicht erreicht habe und auch ohne die Verfolgung nicht erreicht hätte. Die dies verneinende Auffassung des BSG verstoße gegen die im Überleitungsvertrag vom 26. Mai 1952 idF der Bekanntmachung vom 30. März 1955, Vierter Teil Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a (BGBl 1955 II 301, 405, 431) von der Bundesrepublik übernommene völkerrechtliche Verpflichtung, die Rechtsvorschriften für die Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung in Zukunft nicht ungünstiger zu gestalten als seinerzeit. Der im VerfolgtenG enthaltene, auch vom BSG anerkannte Wiedergutmachungsgrundsatz umfasse nicht nur die Entschädigung für einen konkret glaubhaft gemachten Schaden in der Sozialversicherung, sondern darüber hinaus die Zusicherung, daß dem Verfolgten in jedem Fall bei der Rentenberechnung Arbeitsverdienste nach der vierten Beitragsklasse angerechnet würden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt und zu seiner Begründung im wesentlichen auf die oben angeführte Rechtsprechung des BSG Bezug genommen. Darüber hinaus führt sie aus: Die von der Bundesrepublik Deutschland im Überleitungsvertrag übernommene Verpflichtung werde durch das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) und das RVÄndG nicht in Frage gestellt. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 21. Juni 1960 (NJW 1960, 1903 ff) dürften unselbständige versicherungsrechtliche Einzelpositionen nicht isoliert betrachtet werden. Bei einer Betrachtung im größeren Zusammenhang müsse man aber feststellen, daß gewissen Nachteilen, die mit der Nichtanwendung des § 4 Abs. 3 VerfolgtenG für den in Frage kommenden Personenkreis verbunden seien, erhebliche, die Nachteile zumindest aufwiegende Vorteile gegenüberständen. Das zeige insbesondere der vorliegende Fall, der nach dem vor 1957 geltenden Recht nicht zu einer Rente geführt haben würde.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf die Entscheidungsgründe des Landessozialgerichts. Im übrigen weist er darauf hin, daß sein Rentenanspruch nicht schon durch das ArVNG, sondern erst durch das RVÄndG begründet worden sei. - Er regt an, den Großen Senat anzurufen, um eine Änderung der Rechtsprechung des BSG zu ermöglichen, aber auch aus Gründen der Fortbildung des Rechts (§§ 42, 43 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.
Die Vorinstanzen haben die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, für die Ersatzzeit von 1939 bis 1949 (§ 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) Werteinheiten entsprechend der vierten Beitragsklasse anzurechnen. Eine dahingehende Vorschrift enthielt allerdings § 4 Abs. 3 VerfolgtenG ; diese ist jedoch, wie mehrere Senate des BSG übereinstimmend und wiederholt entschieden haben, durch Art. 3 § 2 ArVNG außer Kraft gesetzt worden und kann deshalb auf Versicherungsfälle aus der Zeit nach 1956 - um einen solchen Fall handelt es sich in dem vorliegenden Rechtsstreit - nicht mehr angewandt werden (vgl. SozR Nrn. 8, 9, 11 bis 13 zu VerfolgtenG Allg). In dem letzten der vorerwähnten Urteile hat der Senat sich bereits mit der aus dem Überleitungsvertrag idF der Bekanntmachung vom 30. März 1955, Vierter Teil Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a, hergeleiteten Gegenmeinung auseinandergesetzt und an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten. Hiervon abzuweichen, geben auch die Entscheidungsgründe des LSG (vgl. ferner LSG Nordrhein-Westfalen vom 28. August 1968, RzW 1969, 45 mit Anm. von Brunn) und die Ausführungen der Revision keine Veranlassung. Der Überleitungsvertrag bildet keine unmittelbare Anspruchsgrundlage für Entschädigungsansprüche der einzelnen Verfolgten, er enthält vielmehr eine völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland. Gleichwohl ist der Vertrag bei der Auslegung der Rentenversicherungs-Neuregelungsvorschriften des Jahres 1957, insbesondere bei der Beurteilung der Tragweise des Art. 3 § 2 ArVNG, zu beachten, weil davon ausgegangen werden darf, daß der Gesetzgeber der Rentenreform sich mit dem Vertragswerk von 1955 nicht in Widerspruch setzen wollte. Durch die in dem Überleitungsvertrag von der Bundesrepublik Deutschland übernommene Verpflichtung war der Gesetzgeber indessen nicht gehindert, das zur Zeit des Vertragsabschlusses geltende Rentensystem durch ein grundsätzlich neues System der Rentenberechnung abzulösen, innerhalb dessen Verfolgungszeiten systementsprechend nicht mehr als mit Beiträgen belegte Versicherungszeiten, sondern als - beitragslose - Ersatzzeiten berücksichtigt werden (vgl. Beschluß des BVerfG vom 26. September 1968 - 1 BvR 524/68 - SozR Nr. 1 zu § 1251 RVO, Bl. A b 1).
Auch eine - nach der Rechtsprechung des BSG in Betracht zu ziehende - sinngemäße Anwendung des § 4 Abs. 4 VerfolgtenG vermag nicht zu einem höheren als dem dem Kläger von der Beklagten zugebilligten Altersruhegeld zu führen. Nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt hätte nämlich der Kläger ohne die Verfolgung durch den Nationalsozialismus keine der vierten Beitragsklasse entsprechenden Arbeitsentgelte erzielt; es besteht kein Anhalt dafür, daß er in der Zeit von 1939 bis 1949 überhaupt versicherungspflichtig tätig geworden wäre.
Hiernach muß unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen die Klage abgewiesen werden.
Zur Anrufung des Großen Senats besteht kein Anlaß, weil der erkennende Senat an der ständigen Rechtsprechung des BSG festhält.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Fundstellen