Leitsatz (amtlich)
Eine Entscheidung, mit der ein Versicherungsträger seine Leistungspflicht gegenüber einem Versicherten bindend abgelehnt hat, wirkt nicht im Verhältnis zum Sozialhilfeträger, der einen Ersatzanspruch nach RVO § 1531 erhebt.
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch eine angeborene Mißbildung kann Krankheit im versicherungsrechtlichem Sinn sein und eine Krankenhausbehandlung notwendig machen.
2. Behandlungsbedürftigkeit liegt bei einer Körperbehinderung (vergleiche BSHG § 39 Abs 1 Nr 1) auch dann vor, wenn zwar der alsbaldige Eintritt einer wesentlichen Verschlimmerung des Leidens nicht zu erwarten ist, aber damit zu rechnen ist, daß sich das Leiden ohne ärztliche Hilfe verschlimmern würde und dem Eintritt einer solchen Verschlimmerung durch die möglichst frühzeitige Behandlung entgegengewirkt werden kann.
Läßt sich eine der Art des Leidens angepaßte Heilbehandlung (zB physikalische, krankengymnastische und beschäftigungstherapeutische Behandlung, Prothesentraining) nur in einem Krankenhaus durchführen, so hat die KK die dadurch entstehenden Kosten nach RVO § 184 zu übernehmen.
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1531 Fassung: 1931-06-05, § 1538 Abs. 1 Fassung: 1925-07-14, § 184 Fassung: 1911-07-19; BSHG § 39 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1969-09-18
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Mai 1966 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Ersatzkasse (EK) dem klagenden Land die von ihm getragenen Aufwendungen für die Krankenhausbehandlung des bei der EK familienversicherten Kindes G St (St.) zu erstatten hat.
Das 1962 geborene Kind ist seit der Geburt mißgebildet, beide Hände sitzen unmittelbar an den Schultern. Es wurde deswegen am 18. Juni 1963 in die Krankenanstalten W, Krankenhaus S, D bei B, auf Grund der Einweisungsbescheinigung des prakt. Arztes Dr. W aufgenommen. Nachdem die EK den Krankenhaus-Einweisungsschein mit der Bitte um Kostengarantie erhalten hatte, lehnte diese durch Bescheid vom 1. August 1963 gegenüber dem Versicherten St. die Übernahme der Krankenhauskosten unter Hinweis darauf ab, daß bei seinem Kind eine Körperbehinderung i.S. des § 39 Abs. 1 Nr. 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vorläge, jedoch keine krankenhausbehandlungsbedürftige Krankheit nach § 184 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Eine Abschrift dieses Bescheides ging dem Kläger zu. Den Bescheid focht der Versicherte nicht an, er stellte vielmehr einen Antrag auf Sozialhilfe bei der Sozialabteilung des Landkreises R. Der Kläger übernahm vorläufig die Kosten und machte nach § 1531 RVO einen Ersatzanspruch bei der EK über die Pflegekosten für das Kind G in der Zeit vom 18. Juni bis 21. September 1963 in Höhe von 2.016,- DM geltend. Diesem Ersatzanspruch fügte er eine ärztliche Bescheinigung des Landesarztes für Körperbehinderte, Chefarzt Dr. M, D, vom 12. November 1963 bei. Die Beklagte Das LSG hat auf Grund der eingeholten fachorthopädischen Äußerungen des Chefarztes Dr. M, der Ärztin Dr. G und des Arztes Dr. B festgestellt, daß bei dem Kind G St. durch die ihm zuteil gewordene stationäre orthopädische Behandlung nicht nur eine spätere Verschlimmerung verhindert, sondern vor allem eine Besserung des Leidenszustandes erreicht worden ist, obwohl der Grunddefekt (Eingliedrigkeit der Arme, Dysplasie beider Schultergelenke, Fehlen des Ellenbogengelenks, Hand mit lediglich zwei Fingern) selbst nicht zu beheben war. Die genannten Sachverständigen haben nämlich ausgeführt, daß sich durch die intensive physikalische, krankengymnastische und beschäftigungstherapeutische Behandlung die Klumpstellung der Hand ausgleichen und die Hand in Mittelstellung bringen ließ, so daß sich die Finger vor der Brust gerade berühren konnten. Durch die Behandlung ist G St. ferner zum Gehen gekommen; Gleichgewichtsstörungen, die infolge des Fehlens der Arme bestanden, konnten beseitigt werden. Auch ist er jetzt in der Lage, mit den Fingern gegenseitig Gegenstände zu halten. Durch eine der Art des Leidens angepaßte Heilbehandlung, zu der auch ein Prothesentraining gehören kann, wie es in der Zeit vom 26. Oktober bis 19. Dezember 1964 im wesentlichen durchgeführt wurde, ließ sich mithin eine nicht unwesentliche Besserung der Körperfunktion erzielen. Schon das genügt für die Annahme von Behandlungsbedürftigkeit (vgl. SozR Nr. 37 zu § 182 RVO). G St. litt somit zu der fraglichen Zeit an einer behandlungsbedürftigen, nur durch stationäre Behandlung beeinflußbaren Krankheit, deren Kosten die EK bei richtiger Ausübung ihres Verwaltungsermessens hätte übernehmen müssen und die sie deshalb dem - vorläufig eingetretenen - Kläger nach §§ 1531, 1533 Nr. 2 RVO in vollem Umfang zu erstatten hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen