Entscheidungsstichwort (Thema)

Explosion einer Handgranate. kriegseigentümlicher Gefahrenbereich. Schädigung durch Dritte

 

Orientierungssatz

Der Umstand, daß eine von der deutschen Wehrmacht zurückgelassene Handgranate jedermann, also auch Kindern und Halbwüchsigen, frei zugänglich war, stellt einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich iS von §§ 1 Abs 2 Buchst a, 5 Abs 1 Buchst e BVG dar. Wird durch das Auslösen der Handgranate ein Dritter verletzt, bildet der kriegseigentümliche Gefahrenbereich eine wesentliche Teilursache der Schädigung.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs 2 Buchst a, § 5 Abs 1 Buchst e

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 27.03.1984; Aktenzeichen L 4 V 126/83)

SG Trier (Entscheidung vom 21.07.1983; Aktenzeichen S 5 V 116/82)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um den Versorgungsanspruch der Klägerin im Wege der Erteilung eines Zugunstenbescheides.

Im März 1945, zwei Tage nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen, wurde die im Jahre 1940 geborene Klägerin in ihrem Heimatort W./Kreis B. durch eine explodierende Handgranate aus den Beständen der abgerückten deutschen Wehrmacht erheblich am Kopf verletzt, die ein damals 15 1/2jähriger gefunden, unbeabsichtigt ausgelöst und in eine Scheune geworfen hatte.

Den ersten Versorgungsantrag der Klägerin aus dem Jahre 1951 lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) Trier mit Bescheid vom 19. Juli 1951 ab, weil ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang mit Kriegseinwirkungen nicht bestanden habe. Die hiergegen eingelegte Berufung blieb ohne Erfolg (Urteil des Versorgungsgerichts Trier vom 14. April 1953). Rekurs hiergegen hat die Klägerin nicht eingelegt.

Im August 1980 beantragte die Klägerin erneut Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Diesen Antrag lehnte das VersorgA durch Bescheid vom 18. September 1981 ab mit der Begründung, die Schädigung sei nicht durch einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich, sondern durch schuldhaftes Verhalten eines Dritten, der die Gefährlichkeit seines Handelns hätte erkennen können, eingetreten. Der Widerspruch hiergegen blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes -LVersorgA- vom 30. Juli 1982).

Auch in den Vorinstanzen ist die Klägerin mit ihrem Versorgungsanspruch nicht durchgedrungen. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 21. Juli 1983 die Klage abgewiesen, und das Landessozialgericht (LSG) hat mit der angefochtenen Entscheidung vom 27. März 1984 die Berufung der Klägerin hiergegen zurückgewiesen. In der Begründung heißt es im wesentlichen, die kriegseigentümliche Gefahr der explodierenden Handgranate sei durch das Handeln eines Dritten, der die Gefährlichkeit der Granate gekannt habe, verdrängt worden. Durch seine Handlungsweise habe dieser Dritte eine wesentliche Teilursache für die Schädigung gesetzt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision bringt die Klägerin vor, es sei zumindest zweifelhaft, ob der jugendliche Dritte unter Berücksichtigung der damaligen Verhältnisse die notwendige Einsicht in die Gefährlichkeit einer Handgranate haben und sich dieser Einsicht gemäß habe verhalten können.

Die Klägerin beantragt,

1. unter Aufhebung der Urteile des Sozialgerichts Trier

vom 21. Juli 1983 und des Landessozialgerichts Rhein-

land-Pfalz vom 27. März 1984 sowie des Bescheides

des Versorgungsamtes Trier vom 18. September 1981

in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom

30. Juli 1982 den Beklagten zu verurteilen, bei der

Klägerin die Folgen der Handgranatenexplosion im

März 1945 als Schädigungsfolgen im Sinne der

§§ 1 ff BVG anzuerkennen und Versorgung zu gewähren;

2. den Beklagten ferner zu verurteilen, der Klägerin

auch die außergerichtlichen Kosten des Klage-,

Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten;

3. hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts

Rheinland-Pfalz vom 27. März 1984 aufzuheben

und die Sache zur erneuten Verhandlung und

Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen

sowie die Kostenentscheidung dem abschließenden

Urteil vorzubehalten.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist iS der Zurückverweisung begründet.

Ihr gegen den Beklagten gerichteter Anspruch, ihr unter Aufhebung des rechtsbeständigen Ablehnungsbescheids vom Jahre 1951 Versorgung zu gewähren, beurteilt sich in verwaltungsverfahrensrechtlicher Hinsicht nach § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10), das am 1. Januar 1981 in Kraft getreten ist (Art II § 40 Abs 1 Satz 1 aaO). Der noch vor dem Inkrafttreten des Gesetzes gestellte Antrag auf Erteilung eines sogenannten Zugunstenbescheids wird von dieser Vorschrift erfaßt (BSG-Großer Senat in BSGE 54, 223 ff = SozR 1300 § 44 Nr 3).

Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 ist ein unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Zu Unrecht hat der Beklagte im Jahre 1951 den Versorgungsanspruch der Klägerin abgelehnt. Nach § 1 Abs 1 BVG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Einer Schädigung in diesem Sinne stehen ua Schädigungen gleich, die durch unmittelbare Kriegseinwirkung herbeigeführt worden sind (§ 1 Abs 2 Buchst a aaO). Als unmittelbare Kriegseinwirkung in diesem Sinne gelten nach § 5 Abs 1 Buchst e BVG nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben. Die Handgranate, durch deren Explosion die Klägerin geschädigt worden ist, hat in diesem Sinne einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen.

Um nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge handelt es sich dann, wenn militärische Explosionskörper infolge der kriegseigentümlichen gefährlichen Umstände an frei zugänglichen Orten ungeschützt und dem Zugriff jedermanns zugänglich herumliegen (vgl BSGE 1, 72, 75; 6, 102, 103; 6, 188, 190; BSG SozR Nr 29 zu § 5 BVG; BSG SozR 3100 § 8 Nr 1 S 4). Einen solchen Sachverhalt hat das LSG in bezug auf die Handgranate, durch deren Explosion die Klägerin 1945 verletzt worden ist, - im Zusammenhang - festgestellt. Zu Unrecht nehmen das Berufungsgericht und der Beklagte an, gleichwohl seien die Folgen der Granatenexplosion im konkreten Fall nicht mehr dem anfänglich kriegseigentümlichen Gefahrenbereich zuzurechnen. Hierfür sind folgende Überlegungen maßgebend:

Durch die infolge kriegseigentümlicher Verhältnisse ungeschützte freie Zugänglichkeit der Handgranate für jedermann waren Kinder und Halbwüchsige besonders gefährdet. Denn es besteht eine weitgehend gesicherte "allgemeine Lebenserfahrung", daß "Jugendliche ... unbeschadet ihrer bereits vorhandenen Einsichts- und Willensfähigkeit" gerne mit frei herumliegenden Sprengkörpern hantieren und besonderen Gefahren dadurch ausgesetzt sind, daß sie ihrer noch ungereiften Neugierde und ihrem Spiel- und Entdeckungsdrang bei fehlender voller Einsicht in die Gefährlichkeit ihres Tuns im besonderen Maße ausgeliefert sind (vgl dazu insbesondere BSG SozR Nr 29 zu § 5 BVG; Wilke/Wunderlich, BVG, 5. Aufl, § 5 S 110; zur Revisibilität allgemeiner Erfahrungssätze vgl mit Nachweisen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung zB Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, Band III § 162 S III/81 -57-). Das die Explosion und damit die Schädigung eines Menschen auslösende Hantieren eines Kindes oder Halbwüchsigen stellt mithin einen durchaus typischen Geschehensablauf dar, an dessen Anfang die kriegseigentümliche freie Zugänglichkeit des Explosionskörpers steht; die durch das Hantieren des Kindes oder des Halbwüchsigen unbeabsichtigt ausgelöste Explosion stellt sich deshalb innerhalb dieses Geschehensablaufs als "folgerichtig" dar. Damit bleibt der ursprüngliche kriegseigentümliche Gefahrenbereich wesentliche Teilursache des später durch die Explosion eingetretenen schädigenden Erfolgs iS der für das Recht der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalnorm.

Dem Beklagten ist zuzugeben, daß bei Jugendlichen, die dem Kindesalter entwachsen sind, nach Erreichen eines bestimmten Lebensalters angenommen werden kann, es sei nunmehr eine Verantwortungsreife eingetreten, die ein gefährliches Hantieren mit Sprengkörpern als neue und überragende Ursache der Explosion ansehen läßt, so daß der zunächst kriegseigentümliche Gefahrenbereichs als nicht mehr wesentlich dahinter zurücktritt. Mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in SozR Nr 29 zu § 5 BVG vermag der erkennende Senat im Regelfall einem 15 1/2jährigen eine solche Verantwortungsreife noch nicht zuzuerkennen. Auch das LSG hat keine konkreten Feststellungen zur "Einsichtsfähigkeit" des Jugendlichen getroffen. Vielmehr hat das LSG ausdrücklich betont, daß nach Ablauf von 40 Jahren eine Aufklärung der Einsichtsfähigkeit des Jugendlichen nicht mehr möglich sei.

Geht mithin die durch die Explosion der Handgranate verursachte Verletzung der Klägerin vom Jahre 1945 im konkreten Fall wesentlich auf nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge zurück, die iS des § 5 Abs 1 Buchst e BVG ein kriegseigentümlicher Gefahrenbereich hinterlassen hat, so ist der Beklagte nach § 1 aaO für die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen versorgungspflichtig.

Nachdem das LSG keine Feststellung zu der Frage getroffen hat, ob und welche gesundheitlichen Schädigungen als Folge des angeschuldigten Ereignisses bei der Klägerin heute noch vorliegen, war die Streitsache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes).

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung in der Sache vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656221

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