Orientierungssatz
Stirbt ein Kriegsgefangener an dem Genuß von Methylalkohol, so ist der Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung gegeben, wenn die besonderen Verhältnisse der Kriegsgefangenschaft Anlaß für den Alkoholgenuß gewesen sind.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, Abs. 2 Buchst. b Fassung: 1950-12-20, § 38 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Juni 1975 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die Klägerin kam 1969 als Witwe des 1898 geborenen Johann-Karl P. (P.) aus Polen in die Bundesrepublik und beantragte Hinterbliebenenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). P. war als deutscher Soldat in französische Kriegsgefangenschaft geraten, von August bis Dezember 1945 wegen Unterernährung und Ödemen im Kriegsgefangenenlazarett behandelt worden und dort am 26. Mai 1946 kurz nach seiner erneuten Einlieferung wegen einer Methylalkoholvergiftung verstorben.
Durch Bescheid vom 29. Oktober 1970 lehnte das Versorgungsamt Gelsenkirchen den Rentenantrag ab, weil der Genuß von Methylalkohol versorgungsrechtlich nicht geschützt sei. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt Nordrhein-Westfalen mit Bescheid vom 5. Januar 1972 zurück.
Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat mit Urteil vom 23. März 1973 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, der Klägerin ab 1. August 1969 einen Bescheid über die Gewährung der Witwenrente zu erteilen. Die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 12. Juni 1975 mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß es den Beklagten unmittelbar zur Zahlung der Witwenrente verurteilt hat. Das LSG hat die Revision zugelassen und ausgeführt, P. sei an den Folgen eines durch die Kriegsgefangenschaft herbeigeführten schädigenden Vorganges verstorben. In dem Gefangenenlager Nr. 141 Fort de Feyzin, in dem sich P. vor und nach seiner mehrmonatigen Lazarettbehandlung wegen Unterernährung befunden habe, hätten wegen unzureichender Verpflegung und der Unterbringung in engen, primitiven und den einfachsten hygienischen Anforderungen nicht genügenden Baracken äußerst ungünstige Lebensbedingungen geherrscht. Der wegen Unterernährung nur zu leichter Arbeit verwendbare P. habe zu den Kriegsgefangenen gehört, die nicht an außerhalb des Lagers gelegenen, für sie günstigen Arbeitsplätzen stationiert gewesen seien. Aussicht auf baldige Heimkehr habe nicht bestanden; für die aus den deutschen Ostgebieten stammenden Gefangenen sei der Verlust der Heimat immer gewisser geworden. In dieser Lage sei nicht nur die Beschaffung zusätzlicher Nahrungsmittel, sondern auch das Besorgen von Genußmitteln, wie alkoholischen Getränken, dazu bestimmt gewesen, das körperliche und seelische Wohlbefinden wenigstens vorübergehend zu verbessern, um die Strapazen der Kriegsgefangenschaft zu überstehen. Das Beschaffen und Trinken von Alkohol unter diesen Verhältnissen sei gefangenschaftseigentümlich und daher versorgungsrechtlich geschützt, zumal in der Gefangenschaft weder eine Alkoholzuteilung noch eine Warnung vor dem Genuß von Methylalkohol erfolgt sei.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 1. August 1975 zugestellte Urteil am 29. August 1975 Revision eingelegt und diese innerhalb der bis zum 3. November verlängerten Revisionsbegründungsfrist begründet. Er rügt Verletzungen der §§ 1 und 38 BVG sowie der §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Für die Feststellung des LSG, P. habe zu den deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich gehört, die nicht an außerhalb der Lager gelegenen, für sie günstigen Arbeitsplätzen stationiert gewesen seien, fehle jeder Nachweis. Aus den Versorgungsakten sei vielmehr ersichtlich gewesen, daß P. zur Zeit seines Todes 1.385,50 Francs besessen habe. Deshalb habe das LSG gemäß § 103 SGG die Frage klären müssen, welche Arbeiten P. in der Gefangenschaft verrichtet habe. Das LSG habe auch die Beweiserleichterung des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG zu weit ausgedehnt; nur für den ursächlichen Zusammenhang genüge die Wahrscheinlichkeit, während die übrigen Tatbestandsmerkmale, insbesondere der schädigende Vorgang, voll bewiesen sein müßten. Zu Unrecht habe das LSG schließlich den Genuß des Methylalkohols durch P. zu den gefangenschaftseigentümlichen Verhältnissen gerechnet. Im Einzelfall könnten zwar typische Belastungen einer Gefangenschaft das seelische Befinden eines Gefangenen beeinträchtigen und damit zur Ursache des Alkoholtrinkens werden; etwa wenn der Betreffende im Zivilleben keinen Alkohol getrunken habe oder vor der drohenden Auslieferung an eine andere Gewahrsamsmacht stehe. Der Alkoholgenuß sei jedoch mit den Belastungen einer Kriegsgefangenschaft nicht stets zwangsläufig verbunden. Wenn das LSG also davon ausgehe, daß der Genuß von Alkohol in Europa auch im Zivilleben üblich sei, dann müsse daraus geschlossen werden, daß P. in der Gefangenschaft - so gut es ging - zivile Lebensgewohnheiten fortsetzen wollte. Dies stehe als Ursache eindeutig im Vordergrund, zumal er den Umständen nach kaum einwandfreie Ware habe erwarten können.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Juni 1975 und des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 23. März 1973 die Klage abzuweisen;
hilfsweise, die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil sachlich für zutreffend und die gerügten Verfahrensfehler nicht für gegeben.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II.
Die durch Zulassung statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision ist zulässig (§§ 160 Abs. 1, 164, 166 SGG). Sachlich ist sie jedoch nicht begründet, weil das LSG der Klägerin zu Recht den Versorgungsanspruch unter Neufassung des Urteilstenors des SG zuerkannt hat.
Die Feststellung des LSG, P. habe zu den deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich gehört, die nicht an außerhalb der Läger gelegenen und deshalb für sie günstigen Arbeitsplätzen stationiert waren, entbehrt nicht, wie die Revision meint, jeder Grundlage. Insoweit hat sich das LSG auf die Zeugenaussagen stützen können. Ferner ist allgemein bekannt, daß der Einsatz an außerhalb der Kriegsgefangenenlager liegenden Arbeitsplätzen schon allein deshalb für die Gefangenen günstiger war, weil das Leben hinter Stacheldraht eine starke seelische Belastung mit sich brachte, während bei auswärtiger Stationierung zum Wegfall dieser seelischen Belastung noch die Möglichkeit kam, eine bessere Verpflegung und Unterkunft als im Gefangenenlager zu erreichen. Deshalb durfte das LSG aus der Feststellung, daß P. nicht an einem Arbeitsplatz außerhalb des Gefangenenlagers stationiert war, schließen, daß es sich dabei nicht um einen für sein seelisches und körperliches Wohlbefinden günstigen Arbeitsplatz handelte. Ob und in welcher Höhe P. dabei einen Verdienst zu erzielen vermochte, war unter diesem Gesichtspunkt unerheblich und bedurfte - ebenso wie die Art der ausgeübten Tätigkeit - keiner Aufklärung durch das LSG.
Das LSG hat auch nicht, wie der Beklagte meint, die Reichweite der Beweiserleichterung des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG verkannt. Selbst wenn man die vom LSG hierbei verwendete Formulierung als nicht eindeutig ansehen wollte, lassen doch die Feststellungen des LSG, daß P. als deutscher Soldat in französische Gefangenschaft geriet, daß er hier Methylalkohol trank und daß er davon starb, deutlich erkennen, daß das LSG den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Schädigung - hier dem Genuß von Methylalkohol - und der Schädigungsfolge - dem Tod - nicht nur als wahrscheinlich, sondern für bewiesen erachtet und somit § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG- überhaupt nicht zur Anwendung gebracht hat.
Nach § 38 Abs. 1 BVG hat die Klägerin Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn P. an den Folgen einer Schädigung gestorben ist. Schädigung in diesem Sinne ist nach § 1 Abs. 2 Buchst, b) BVG auch eine Schädigung, die durch eine Kriegsgefangenschaft herbeigeführt worden ist. P. ist dadurch zu Tode gekommen, daß er in der Gefangenschaft selbst beschafften Methylalkohol getrunken hat. Wegen selbst verursachter Schädigungen besteht ein Versorgungsschutz nur, wenn die Schädigung durch einen der in § 1 BVG genannten Tatbestände mitverursacht und nicht absichtlich herbeigeführt worden ist (vgl. für Fälle des Selbstmordes BSG 1, 150, 156; 11, 50, 53; 12, 13, 14; 12, 122, 125). Der Versorgungsanspruch der Klägerin setzt mithin voraus, daß P. durch eine Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Kriegsgefangenschaft oder durch die "der Kriegsgefangenschaft eigentümlichen Verhältnisse" dazu bewegt worden ist, den Alkohol zu sich zu nehmen, der zu seinem Tode führte. Letzteres trifft zu.
Nach den Feststellungen des LSG wurde P. in der Kriegsgefangenschaft unzureichend verpflegt, so daß er abmagerte, wegen Unterernährung und Ödemen mehrere Monate im Gefangenenlazarett behandelt werden mußte und nur als bedingt arbeitsfähig entlassen wurde. Im Kriegsgefangenenlager war er gezwungen, mit vielen Menschen in engen, primitiven und den einfachsten hygienischen Anforderungen nicht genügenden Baracken hinter Stacheldraht zu leben. Hinzu kam der Mangel an Kleidung und Verpflegung. Aussicht auf baldige Entlassung bestand nicht. Die Ungewißheit über die eigene Zukunft und das Schicksal der Angehörigen einerseits und die Gewißheit des Verlusts der ostpreußischen Heimat und der dort befindlichen beruflichen Existenzgrundlage andererseits führten in Verbindung mit den widrigen Lebensumständen in dem Gefangenenlager dazu, daß P. seinem Gefangenenschicksal mutlos gegenüberstand. Es war daher eine Reaktion auf die niederdrückenden Lebensbedingungen in der schon über ein Jahr andauernden Kriegsgefangenschaft, daß P. versuchte, durch Alkoholgenuß eine zumindest vorübergehende Anhebung seiner Stimmungslage zu erreichen. Dabei mußte er wegen seiner gefangenschaftsbedingten Absperrung von der Umwelt die sich gerade bietenden Möglichkeiten des Alkoholbezugs in Kauf nehmen und hatte keine Möglichkeit, sich der Qualität oder auch nur der Ungefährlichkeit des ihm verabfolgten Getränks zu vergewissern. Damit war aber gerade die Gefahr, den lebensgefährdenden Methylalkohol zu trinken, für P. durch die Umstände seiner Kriegsgefangenschaft bedingt. Die Auffassung des Beklagten, der Alkoholgenuß sei nur in krassen Situationen - etwa aus Furcht vor der Auslieferung an eine andere Gewahrsamsmacht - gefangenschaftsbedingt, in Fällen der vorliegenden Art aber persönlichkeitsbedingt, vermag der Senat nicht zu teilen. Sie überzeugt insbesondere deshalb nicht, weil es versorgungsrechtlich unerheblich ist, welcher Belastung es allgemein bedarf, um einen Alkoholgenuß als gefangenschaftsbedingt anzusehen. Entscheidend ist vielmehr allein die konkrete Reaktion des P. auf die seelischen und körperlichen Belastungen der Gefangenschaft (vgl. BSG 11, 50, 54; s. auch die zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteile des 9. Senats des BSG vom 10. Dezember 1975 - 9 RV 338/74 - und vom 4. Februar 1976 - 9 RV 152/75 -).
Waren aber die vom LSG festgestellten Verhältnisse in der französischen Gefangenschaft Anlaß für den Alkoholgenuß des P. und ist dieser dabei der in besonderem Maße gefangenschaftsbedingten Gefahr erlegen, Methylalkohol als trinkbaren Alkohol zu erhalten und in Unkenntnis seiner Gefährlichkeit zu trinken, so waren die der Kriegsgefangenschaft eigentümlichen Verhältnisse hier in so bedeutendem Maße am Eintritt des schädigenden Erfolges beteiligt, daß die eigene Handlungsweise des P. - Erwerb und Trinken von Alkohol - demgegenüber selbst dann in den Hintergrund getreten ist, wenn P. im Zivilleben regelmäßig Alkohol getrunken haben sollte.
Der erkennende Senat folgt damit der bisherigen Rechtsprechung des BSG. Schon im Urteil vom 23. August 1960 (vgl. BSGE 13, 16) hat der 9. Senat hervorgehoben, daß der Kriegsgefangene zumindest in gleichem Umfang wie der Soldat im Wehrdienst versorgungsrechtlich geschützt ist, weil der durch den Gefangenengewahrsam ausgeübte Zwang fast die gesamte Lebensführung des Soldaten erfaßt und der Bereich der Dienstverrichtungen in der Gefangenschaft deshalb eher noch weiter zu ziehen ist als im Wehrdienst. In der Kriegsgefangenschaft können daher Handlungen des Gefangenen nur ausnahmsweise der versorgungsrechtlich nicht geschützten Privatsphäre der Gefangenen zugerechnet werden (vgl. auch Urteil des erkennenden Senats vom 22. Juni 1972 - 10 RV 234/71).
Dem steht das Urteil des 11. Senats vom 18. Januar 1963 (vgl. BSGE 18, 199) nicht entgegen. In dieser Entscheidung hat der 11. Senat zwar einen Versorgungsanspruch verneint, jedoch deutlich darauf hingewiesen (vgl. S. 203 aaO), daß die Schädigung auf die der Kriegsgefangenschaft eigentümlichen Verhältnisse zurückgeführt werden müsste, "wenn der Kläger sich wegen der besonderen Verhältnisse der Kriegsgefangenschaft hätte zusätzlich selbst verpflegen müssen". Ebenso hat auch der erkennende Senat in seinem Urteil vom 18. März 1964 (vgl. BSGE 20, 266) den Versorgungsanspruch eines Soldaten abgelehnt, welcher durch Methylalkohol erblindet war, den er bei dem zufälligen Zusammentreffen mit anderen Soldaten in einem Eisenbahnabteil getrunken hatte. Der Senat hat jedoch ausdrücklich betont (vgl. S. 270 aaO), daß das Trinken von Alkohol bei Soldaten "unter besonderen Umständen" wehrdiensteigentümlich sein könne. Solche besonderen Umstände waren hier in Gestalt der schweren seelischen und körperlichen Belastung einer lang andauernden Kriegsgefangenschaft unter zermürbenden Lebensbedingungen gegeben.
Die Revision des Beklagten ist daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen