Verfahrensgang
Sächsisches LSG (Urteil vom 30.03.1994) |
SG Chemnitz (Urteil vom 10.06.1993) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Chemnitz vom 30. März 1994 wird mit folgender Maßgabe zurückgewiesen: Das Urteil des Landessozialgerichts Chemnitz wird geändert. Das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 10. Juni 1993 wird hinsichtlich der Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung der Verletztenrente über den 30. November 1992 hinaus aufgehoben und die Klage insoweit abgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Entziehung einer Unfallrente, die dem Kläger von der Sozialversicherung der ehemaligen DDR wegen einer auf seine Kriegsgefangenschaft zurückzuführenden Erkrankung als Berufskrankheit (BK) gewährt wurde.
Der im Jahre 1921 geborene Kläger arbeitete während seiner sowjetischen Kriegsgefangenschaft von 1945 bis 1949 in einem Bleibergwerk. Wegen der damit verbundenen Belastungen erkannte der FDGB-Kreisvorstand Kamenz, Verwaltung der Sozialversicherung, mit Bescheid vom 27. September 1968 die beim Kläger entstandene Silikose als BK mit einem Körperschaden von 20 vH, mit Änderungsbescheid vom 6. März 1981 mit einem Körperschaden von 50 vH an und bewilligte ihm eine dem jeweils entsprechende Unfall-Teilrente.
Ab 1. Januar 1991 übernahm die Beklagte im Rahmen des Verteilungsschlüssels diese Rentenzahlung. Das Amt für Familie und Soziales Dresden – Versorgungsamt – erkannte mit Bescheid vom 9. November 1992 die Silikose als Schädigungsfolge iS des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) an, verfügte aber wegen der Unfallrentenleistung das Ruhen der Grundrente gemäß § 65 BVG.
Nachdem die Beklagte erfolglos versucht hatte, eine Übernahme der Entschädigung dieser Erkrankung durch die Versorgungsverwaltung zu erreichen, entzog sie nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 28. Oktober 1992 die Unfall-Teilrente mit Ablauf des Monats November 1992 gemäß § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X). Zur Begründung gab sie an, der Kläger habe sich die Silikose in sowjetischer Kriegsgefangenschaft zugezogen, als er nicht der Sozialversicherung unterlegen habe. Für die Entschädigung dieser Erkrankung sei ausschließlich die Versorgungsverwaltung zuständig. Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung bestünden nicht, weil es sich nach dem im Beitrittsgebiet gültig gewesenen Recht nicht um eine BK gehandelt habe.
Das Sozialgericht Chemnitz (SG) hat mit Urteil vom 10. Juni 1993 den Bescheid der Beklagten vom 28. Oktober 1992 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger über den 30. November 1992 hinaus Verletztenrente zu zahlen. Das Landessozialgericht Chemnitz (LSG) hat mit Urteil vom 30. März 1994 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zwar seien durch den Einigungsvertrag iVm § 1148 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die dem Kläger zustehenden Leistungen insofern auf eine neue Grundlage gestellt worden, als nunmehr für die gesetzliche Unfallversicherung ab 1. Januar 1992 die Vorschriften der RVO gelten würden. Hieraus lasse sich jedoch eine wesentliche Änderung iS des § 48 SGB X nicht ableiten. Denn gemäß § 1150 Abs 2 RVO würden ua Krankheiten, die nach dem früheren Recht der DDR BKen gewesen seien, auch als solche nach der RVO gelten. Sinn dieser Übergangsregelungen sei es, alle bereits eingetretenen Unfälle und Krankheiten, die nach dem Sozialversicherungsrecht des Beitrittsgebiets versichert gewesen seien, in die RVO zu übernehmen, auch wenn deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Die Anwendbarkeit des § 45 SGB X scheitere bereits an der versäumten Zwei- bzw Zehnjahresfrist. Abgesehen davon sei das im Zeitpunkt der Erstanerkennung im Jahre 1968 maßgebende DDR-Recht im Falle des Klägers zutreffend angewandt worden.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Die Voraussetzungen des § 48 SGB X seien erfüllt. Mit dem Inkrafttreten des BVG im Beitrittsgebiet sei eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen iS dieser Vorschrift eingetreten, die sie – die Beklagte – berechtigt habe, die Unfallrente des Klägers zu entziehen. Seit diesem Zeitpunkt richteten sich Ansprüche wegen gesundheitlicher Schädigungen aufgrund des Militärdienstes nicht mehr nach DDR-Recht, sondern nach dem BVG. Hieran ändere auch § 1150 Abs 2 RVO nichts, da dieser nur Vertrauensschutz im Falle richtig angewandten DDR-Rechts gewährleiste. Nach materiellem Unfallrecht der früheren DDR habe aber kein Anspruch auf Entschädigung zugunsten des Klägers bestanden. Die in § 45 Abs 3 SGB X geregelten Fristen würden eine Anpassung nach § 48 SGB X nicht ausschließen. Verliere der Verwaltungsakt aufgrund einer Rechtsänderung seine Rechtsgrundlage, so gelte § 48 SGB X unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt ursprünglich auch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt rechtswidrig gewesen sei. § 45 SGB X sei nicht lex specialis zu § 48 SGB X.
Der Bundesgesetzgeber sei ebenfalls davon ausgegangen, daß nach dem Beitritt Entschädigungen für kriegsbedingte Körperschäden von der Versorgungsverwaltung zu leisten seien. Dies ergebe sich ua aus der durch das Renten-Überleitungsgesetz (RÜG) eingefügten Vorschrift des § 86 BVG und aus Art 8 des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG); darin seien pauschale Ausgleichszahlungen für den jeweiligen Versicherungsträger auferlegte versicherungsfremde Belastungen geregelt. Hätte der Gesetzgeber die Möglichkeit gesehen, daß auch Kriegsopfer systemwidrigerweise von der gesetzlichen Unfallversicherung zu entschädigen wären, hätte er auch diese Fälle in die Berechnung der Pauschale einbezogen oder eine „spitze” Abrechnung eines Ausgleichsanspruchs vorgesehen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 10. Juni 1993 sowie das Urteil des Landessozialgerichts Chemnitz vom 30. März 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beigeladene beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist im wesentlichen unbegründet.
Soweit das LSG die Berufung gegen die vom SG ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger über den 30. November 1992 hinaus Verletztenrente in gesetzlicher Höhe zu zahlen, zurückgewiesen hat, ist die Revision der Beklagten begründet. Für eine derartige Leistungsklage hat der Kläger kein Rechtsschutzbedürfnis, weil sich die Verpflichtung der Beklagten, die Verletztenrente weiterzuzahlen, bereits aus der Aufhebung des Rentenentziehungsbescheids vom 28. Oktober 1992 und damit aus der Fortgeltung der dem Kläger von den DDR-Behörden erteilten rentengewährenden Verwaltungsakte ergibt (vgl BSGE 59, 227, 229 = SozR 4100 § 134 Nr 29; SozR 1200 § 48 Nr 11). Dementsprechend war das erstinstanzliche Urteil insoweit unter Änderung des angefochtenen Urteils aufzuheben und die Leistungsklage abzuweisen.
Im übrigen haben die Vorinstanzen zu Recht entschieden, daß der die Unfallrente entziehende Bescheid der Beklagten vom 28. Oktober 1992 rechtswidrig und damit aufzuheben ist.
Nach Art 19 Satz 1 und 3 des Einigungsvertrages (EinigVtr) vom 31. August 1990 (BGBl II S 889) sind die dem Kläger erteilten Bescheide des DDR-Leistungsträgers über den 2. Oktober 1990 hinaus wirksam und iS von § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zwischen dem Kläger und der Beklagten als der nach Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr 1 Buchst c) Abs 8 Nr 2 EinigVtr zuständigen „Rechtsnachfolgerin” bindend geblieben (vgl BSGE 72, 50, 55 = SozR 3-8570 § 10 Nr 1). Nach dieser Bestimmung bleiben Verwaltungsakte der ehemaligen DDR, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangen sind, grundsätzlich wirksam. Diese Verwaltungsakte können nur aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des EinigVtr unvereinbar sind; unberührt bleiben daneben auch die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten (Art 19 Satz 3 EinigVtr). Art 19 Satz 1 EinigVtr einerseits und Art 19 Satz 2 und 3 EinigVtr andererseits stehen in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis. Die Wirksamkeit von Verwaltungsakten der früheren DDR-Behörden ist danach die Regel, die Möglichkeit der Aufhebung nach Art 19 Satz 2 oder 3 EinigVtr ist die Ausnahme. Damit trägt der EinigVtr dem Umstand Rechnung, daß eine vollständige Aufarbeitung von 40 Jahren DDR-Verwaltungspraxis anhand der Prüfungsmaßstäbe der nach dem EinigVtr auch in den neuen Bundesländern geltenden Rechtsordnung unmöglich wäre. Sie könnte an unüberwindlichen Schwierigkeiten der Sachverhaltsaufklärung scheitern und wohl auch zu neuen Ungerechtigkeiten führen (ThürOVG DÖV 1994, 964, 965).
Als Rechtsgrundlage für die Durchbrechung dieser grundsätzlichen Bestandskraft von Verwaltungsakten der früheren DDR und damit als Rechtsgrundlage auch für den angefochtenen Rentenentziehungsbescheid vom 28. Oktober 1992 kommen die im Beitrittsgebiet nach Art 8, 19 Satz 3 EinigVtr und Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet D Abschnitt III Nr 2 EinigVtr seit dem 1. Januar 1991 anwendbaren §§ 45 und 48 SGB X in Betracht. Für die Prüfung, ob deren Voraussetzungen hier gegeben sind, kann für beide Vorschriften unentschieden bleiben, ob die früheren Verwaltungsakte vom 27. September 1968/6. März 1981 rechtmäßig sind oder auch dem damaligen DDR-Recht widersprachen.
Sind diese Verwaltungsakte als rechtmäßig anzusehen, so kommt eine Rücknahme nach § 45 SGB X von vornherein nicht in Betracht. Sind sie rechtswidrig, so scheitert die Rücknahme schon an den in § 45 Abs 3 SGB X vorgesehenen Fristen, selbst wenn der Ansicht der Revision zu folgen wäre, daß diese Fristen erst ab dem Inkrafttreten des EinigVtr zum 3. Oktober 1990 zu laufen begännen. Die Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X war im Zeitpunkt des Entziehungsbescheids vom 28. Oktober 1992 bereits abgelaufen. Es sind aber auch keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß die besonderen Voraussetzungen für den Lauf einer Zehnjahresfrist iS des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X vorlägen.
Die Vorschrift des § 48 SGB X enthält die Verpflichtung der Behörde, einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung – und hierzu gehören auch rentenbewilligende Bescheide – aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Bescheid also unter den nunmehr vorliegenden Gegebenheiten nicht oder nicht wie geschehen erlassen werden dürfte (BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 32). Wie die Vorinstanzen zutreffend erkannt haben, liegt eine wesentliche Änderung iS des § 48 SGB X nicht vor. Offenbleiben kann dabei auch hier, ob die dem Kläger von den früheren DDR-Behörden erteilten Rentenbescheide – wie vom LSG und der Beigeladenen angenommen – dem damals geltenden Recht der DDR entsprachen, oder – so die Revisionsklägerin – seinerzeit auch nach DDR-Recht zu Unrecht eine BK anerkannt und eine Unfallrente bewilligt wurde. Denn der Anwendungsbereich des § 48 SGB X ist nicht auf rechtmäßige Verwaltungsakte beschränkt, sondern erfaßt auch rechtswidrige Bescheide, allerdings nur außerhalb des Anwendungsbereichs des § 45 SGB X mit seinen für die Fehlerkorrektur geltenden besonderen Voraussetzungen und damit dann, wenn sich – eine falsche frühere Subsumtion als richtig unterstellt – jetzt eine andere Rechtsfolge ergibt (BSG SozR aaO).
Entgegen der Ansicht der Revision ist durch die Überleitung bundesdeutschen Rechts auf das Beitrittsgebiet eine wesentliche Änderung insbesondere in den rechtlichen Verhältnissen iS des § 48 SGB X nicht eingetreten. Nach Art 30 Abs 5 Satz 1 EinigVtr haben die Vertragsparteien des EinigVtr es dem bundesdeutschen Gesetzgeber überlassen, die Einzelheiten der Überleitung des Unfallversicherungsrechts auf das Beitrittsgebiet zu regeln. Dies erfolgte vor allem durch die in Art 8 des Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Renten-Überleitungsgesetz ≪RÜG≫ vom 25. Juli 1991, BGBl I S 1606) eingefügten Übergangsvorschriften der §§ 1148 ff RVO.
Auch hier bedarf es keiner Entscheidung, ob die Verwaltungsakte vom 27. September 1968/6. März 1981 rechtmäßig sind. Sind sie rechtmäßig, so ist für eine Anwendung des § 48 SGB X allein wegen der Überleitung des Rechts der RVO aus folgenden Erwägungen kein Raum:
Nach § 1150 Abs 1 RVO gelten die §§ 548 bis 555a RVO und §§ 838 bis 840 RVO im Beitrittsgebiet für Arbeitsunfälle, die nach dem 31. Dezember 1991 eingetreten sind. Unfälle und Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und BKen der Sozialversicherung waren, gelten als Arbeitsunfälle und BKen iS des Dritten Buches der RVO (§ 1150 Abs 2 Satz 1 RVO). Nach der Amtlichen Begründung zum RÜG erfolgte mit dieser gesetzlichen Fiktion aus Gründen des Vertrauensschutzes die Übernahme aller vor dem 1. Januar 1992 eingetretenen Unfälle und Krankheiten, die nach dem früheren Recht der DDR versichert waren, und zwar grundsätzlich auch dann, wenn es sich nach der RVO nicht um einen Arbeitsunfall oder eine BK gehandelt hätte (BT-Drucks 12/630 S 7 iVm BT-Drucks 12/405 S 154). Die Wahrung des Besitzstandes hat danach insofern Vorrang. Damit ist auch eine Überprüfung von nach früherem DDR-Recht bereits bindend anerkannten Arbeitsunfällen und BKen aus Anlaß der Überleitung bundesdeutschen Rechts auf das Beitrittsgebiet nach § 48 SGB X ausgeschlossen. Das gleiche ist auch der Amtlichen Begründung dieses Gesetzentwurfs zu dem strukturell vergleichbaren § 1154 Abs 1 Satz 1 RVO (BT-Drucks 12/405 S 156) zu entnehmen. Dort heißt es für die Leistungsgewährung, die Regelung soll sicherstellen, daß bereits festgestellte Renten „nicht allein aus Anlaß der Überleitung der RVO von Amts wegen zu überprüfen und neu festzustellen sind. Eine Anwendung des § 48 SGB X scheidet daher aus”.
Im Widerspruch zu dieser Grundentscheidung des Gesetzgebers steht auch die für die Entziehung einer nach früherem DDR-Recht zuerkannten Rente wegen eines Arbeitsunfalls oder einer BK von der Revision vorgetragene Begründung, das konkrete Krankheitsgeschehen sei durch die Überleitung bundesdeutschen Rechts nicht (mehr) dem Bereich der Unfallversicherung zuzuordnen. Aufgrund der Überleitung wird vielmehr über die Frage, ob es sich um einen Arbeitsunfall (oder eine BK) gehandelt hat, nicht neu entschieden. Im Beitrittsgebiet festgestellte Arbeitsunfälle und BKen werden in die gesetzliche Unfallversicherung als Arbeitsunfälle und BKen übernommen und weiterhin entschädigt.
Entgegen der Auffassung der Revision ist eine wesentliche Änderung der Rechtslage iS des § 48 SGB X auch nicht dadurch eingetreten, daß nach dem Bundesrecht für die Kriegsopferentschädigung nicht ein Sozialversicherungsträger, sondern die Versorgungsverwaltung zuständig ist, und daß diese Zuständigkeitsverteilung durch die Überleitung des BVG gemäß Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr 1 EinigVtr auch im Beitrittsgebiet gilt. Hierfür spräche zwar, daß dann die Kriegsopferversorgung in den alten Bundesländern und im Beitrittsgebiet einheitlich erfolgen würde. Dies könnte allerdings nur in den Fällen zutreffen, in denen ein Schädigungstatbestand iS des BVG auch noch im Jahre 1991 und gegebenenfalls später im erforderlichen Umfang feststellbar und von der Versorgungsverwaltung anzuerkennen wäre. Könnte eine solche Anerkennung von Schädigungsfolgen nach dem BVG nicht mehr erfolgen, verbliebe es in den Fällen der vorliegenden Art mit bindend festgestellten Unfallrenten eines Versicherungsträgers der ehemaligen DDR regelmäßig bei der Zuständigkeit des Unfallversicherungsträgers und den gegenüber den Versorgungsleistungen nach dem BVG in der Regel höheren Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Für einen Ausschluß festgestellter Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung allein wegen des Inkrafttretens des BVG findet sich weder im EinigVtr noch in anderen Vorschriften eine Grundlage. Vielmehr gilt für das Verhältnis zwischen dem Versorgungsanspruch des Klägers nach dem BVG und der zuerkannten Unfallrente die Bestimmung des § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BVG, wonach der Anspruch auf Versorgungsbezüge in Höhe der Bezüge aus der gesetzlichen Unfallversicherung ruht, wenn beide Ansprüche auf derselben Ursache beruhen. Dementsprechend hat auch der Beigeladene durch Teilbescheid vom 9. November 1992 die „Silikose” als Schädigungsfolge iS des § 1 BVG anerkannt, die Versorgungsbezüge in Höhe der Unfalleistungen unter Hinweis auf § 65 BVG allerdings zum Ruhen gebracht. Diesen Nachrang des BVG hat der EinigVtr auch für andere Bereiche der Sozialversicherung angeordnet, in denen Sozialversicherungsträger mit der Entschädigung von Kriegsopferschäden belastet wurden. So enthält Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr 1 Buchst g) EinigVtr eine Erweiterung des § 65 BVG namentlich auf die von der Rentenversicherung zu zahlende (vgl § 27 Abs 3 des – noch – vom DDR-Gesetzgeber beschlossenen Gesetzes über die Sozialversicherung ≪SVG-DDR≫ vom 28. Juni 1990, GBl I S 486 und Art 9 Abs 2 EinigVtr iVm Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet F Abschnitt III Nr 2 Buchst b) EinigVtr: Fortgeltung bis 31. Dezember 1991) Kriegsbeschädigtenrente. Einer entsprechenden Regelung für die Unfallversicherungsträger bedurfte es im EinigVtr nicht, da sie in § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BVG bereits enthalten ist. Dieser grundsätzliche Vorrang der Rentenversicherung gegenüber dem übergeleiteten BVG wurde für die von den Rentenversicherungsträgern übernommenen Entschädigungsfälle durch die Einfügung des § 86 BVG mit Wirkung ab dem 1. Januar 1992 (Art 25, 42 Abs 1 RÜG) zugunsten des Vorrangs des BVG geändert. Eine entsprechende Regelung für die Unfallversicherungsträger ist nicht erfolgt.
Eine wesentliche Änderung der Rechtslage iS des § 48 SGB X ist auch nicht durch das Inkrafttreten des § 541 Abs 1 Nr 2 RVO im Beitrittsgebiet zum 1. Januar 1991 (Art 35 Abs 1 iVm Art 42 Abs 4 RÜG) eingetreten. Es kann unentschieden bleiben, ob diese Vorschrift auch Sachverhalte vor dem 1. Januar 1991 erfaßt und damit über den vom Gesetzgeber festgelegten Zeitraum hinaus zurückwirkt (allgemein zur intertemporalen Auslegung BSGE 70, 31, 34 f). Jedenfalls reicht ihr zeitlicher Anwendungsbereich im Beitrittsgebiet nicht weiter als im bisherigen Bundesgebiet. § 541 RVO wurde hier durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung (Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz ≪UVNG≫ vom 30. April 1963, BGBl I S 241) eingefügt und erfaßt nur Arbeitsunfälle, die sich nach seinem Inkrafttreten – am 1. Juli 1963 – ereignet haben (Art 4 §§ 1, 2 Abs 1, 16 UVNG; BSGE 23, 79, 83; BSG SozR 3-2200 § 541 Nr 2).
Das LSG hat zwar nicht festgestellt, wann der Versicherungsfall (vgl BSG SozR 2200 § 551 Nr 35) beim Kläger eingetreten ist. Hierauf kommt es in diesem Zusammenhang aber auch nicht an. Denn § 541 RVO stellt eine Regelung über den Kreis der versicherten Personen und damit über die Reichweite der gesetzlichen Unfallversicherung dar. Der Senat hat bereits entschieden (BSGE 73, 1, 2 f), daß Leistungsansprüche, obwohl sie erst nach Eintritt des Versicherungsfalls und unter den jeweiligen Voraussetzungen der begehrten Leistung entstehen, ihren maßgeblichen Entstehungsgrund in dem (unter Umständen schon viel früher bestandenen) Versicherungsverhältnis haben. Diese Rechtsposition des „Versichertseins” zu einem bestimmten Zeitpunkt geht nicht durch spätere Veränderungen verloren, so daß Versicherungsschutz für BKen bestehen bleibt, die zu einem Zeitpunkt auftreten – hier möglicherweise nach dem 1. Juli 1963 –, zu dem das Versicherungsverhältnis zwar nicht mehr besteht – hier wegen einer eventuellen Versicherungsfreiheit nach § 541 Abs 1 Nr 2 RVO ab dem 1. Juli 1963 –, die aber iS der haftungsbegründenden Kausalität auf schädigende Einwirkungen bei einer versicherten Tätigkeit vor dem 1. Juli 1963 zurückzuführen sind.
Von diesen Rechtsgrundsätzen ausgehend kommt ein Vorrang der Versorgung gegenüber der Unfallversicherung iS des § 541 Abs 1 Nr 2 RVO hier nicht in Betracht. Denn nach den Feststellungen des LSG ist die beim Kläger anerkannte BK auf die Einwirkungen während der Kriegsgefangenschaft in den Jahren 1945 bis 1949 zurückzuführen und beruht damit auf schädigenden Einwirkungen vor dem 1. Juli 1963.
Bei seiner Entscheidung hat der Senat auch berücksichtigt, daß den Vertragsparteien des EinigVtr und dem Gesetzgeber bei der Verabschiedung des RÜG Fallgestaltungen der vorliegenden Art möglicherweise unbekannt waren und daß deshalb Regelungen über eine Kostenerstattung unterblieben, wie sie für die Rentenversicherungsträger (vgl Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt II Nr 1 § 4 EinigVtr; § 86 Abs 5 BVG) getroffen wurden. Dabei ist aber ebenso zu beachten, daß dies nicht mehr für das Ende des Jahres 1993 gilt, als der Gesetzgeber für die von den Unfallversicherungsträgern zu entschädigenden Personen, die im Beitrittsgebiet in der Zeit bis zum 5. Oktober 1955 infolge von Zwangsarbeit eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, eine Regelung getroffen hat, die zudem ebenfalls von der Bestandskraft der in der DDR ergangenen Verwaltungsakte ausgeht (zB Zwangsverpflichtete, die bei der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft WISMUT als Arbeitskräfte eingesetzt waren – vgl Art 3 und 8 1. SKWPG vom 21. Dezember 1993 – BGBl I S 2353). Eine zur Rechtfertigung des angefochtenen Bescheids führende richterliche Rechtsfortbildung kommt mangels einer ausfüllungsbedürftigen Gesetzeslücke nicht in Betracht. Mit der in Art 19 Satz 1 EinigVtr angeordneten und im 1. SKWPG aufrechterhaltenen grundsätzlichen Bindungswirkung von Verwaltungsakten der DDR sowie der in Art 19 Satz 3 EinigVtr enthaltenen Verweisung auf die §§ 45 und 48 SGB X und der Fiktion des § 1150 Abs 2 RVO hat der Gesetzgeber – gerade auch zur Vermeidung einer sonst noch kaum überschaubaren Kasuistik und der dadurch hier besonders bedeutsamen Unsicherheit der Rechtslage (s ThürOVG aaO) – eine lückenlose Regelung getroffen, die auch den vorliegenden Sachverhalt erfaßt. Das Fehlen einer Erstattungsvorschrift steht dem nicht entgegen. Dabei kann bei einem Abwägen der Argumente für und gegen eine richterliche Rechtsfortbildung in Rahmen des Art 19 Satz 1 und 3 EinigVtr nicht unberücksichtigt bleiben, daß es sich bei den hier maßgebenden Personengruppen um Betroffene handelt, die regelmäßig ein hohes Alter erreicht haben.
Die Argumente gelten auch dann, wenn die Verwaltungsakte vom 27. September 1968/6. März 1981 zwar rechtswidrig, aber nach Art 19 Satz 1 und 3 EinigVtr über den 2. Oktober 1990 hinaus bindend geblieben sind.
Verfassungsrechtliche Bedenken insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Art 14 des Grundgesetzes (GG) bestehen nicht. Zwar werden hier die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung zu Leistungen der sozialen Entschädigung herangezogen und die beitragspflichtigen Unternehmen entsprechend höher belastet. Die Auferlegung von Geldleistungspflichten läßt die Eigentumsgarantie des Art 14 Abs 1 GG grundsätzlich unberührt (BVerfGE 14, 221, 241; 81, 108, 122, jeweils mwN). In solchen Fällen könnte ein Verstoß gegen Art 14 GG allenfalls dann in Betracht kommen, wenn die Geldleistungen den Pflichtigen übermäßig belasten und seine Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtigen würden (BVerfGE aaO). Davon kann hier nach den Feststellungen des LSG nicht die Rede sein. Es ist – bislang – nicht ersichtlich, daß in der ehemaligen DDR Kriegsopfer planmäßig und damit vom Ausmaß her in erheblichem Umfang Entschädigungen durch Unfallrenten erhalten hätten. Der Vertreter der Beigeladenen nannte für Sachsen zur Zeit insgesamt 18 ihm bekannte gleichgelagerte Fälle. Es ist dem Gesetzgeber überlassen, ob und wie er dieser nach dem System des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung fremden Last (s BVerfGE 14, 221, 242) Rechnung trägt.
Die Revision war damit im wesentlichen zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen