Leitsatz (amtlich)
An der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 1963-03-22 - 11 RV 724/62 = BSGE 19, 12 ; Urteil vom 1966-12-14 - 8 RV 185/65 = unveröffentlicht ; Urteil vom 1966-01-13 - 9 RV 868/64 = BVBl 1966, 100; Urteil vom 1967-03-14 - 10 RV 504/66 = BSGE 26, 146), daß es bei Erteilung eines Bescheids gemäß KOV-VfG § 40 Abs 1 im Ermessen der Verwaltungsbehörde liegt, den Zeitpunkt zu bestimmen, von wann an die Neuregelung einsetzt, wird festgehalten.
Leitsatz (redaktionell)
Die VerwV Nr 8 zu § 40 KOVVfG stehen mit der gesetzlichen Regelung im Einklang.
Normenkette
KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; KOVVfGVwV § 40 Nr. 8
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Oktober 1966 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Gründe
Der Kläger erhielt mit Bescheid vom 3. März 1948 wegen Verlustes des linken Beines eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H., die mit Umanerkennungsbescheid vom 16. Juli 1951 in gleicher Höhe auch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) gewährt wurde. Auf Antrag des Klägers setzte das Versorgungsamt (VersorgA) Hildesheim mit Bescheid vom 20. Juli 1962 gemäß § 40 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (VerwVG) die MdE für die anerkannte Schädigungsfolge wegen besonderer beruflicher Betroffenheit vom 1. September 1960, dem Beginn des Antragsmonats, an auf 80 v. H. fest. Der Widerspruch, mit dem der Kläger die Erhöhung der Rente bereits vom 1. Oktober 1950 an erstrebte, wurde mit Bescheid vom 30. August 1962 zurückgewiesen. Während des anschließenden Klageverfahrens setzte das VersorgA in einem weiteren Bescheid vom 11. Februar 1963 gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG die höhere Rente bereits vom 1. September 1956 an fest. Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hob mit Urteil vom 23. April 1963 die genannten Bescheide auf und verurteilte den Beklagten, die Rente auch für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis zum 31. August 1956 wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach einer MdE um 80 v. H. abzüglich der für diesen Zeitraum bereits gezahlten Versorgungsbezüge zu gewähren.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die zugelassene Berufung des Beklagten mit Urteil vom 28. Oktober 1966 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, der Bescheid vom 11. Februar 1963 sei gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden und insoweit streitig, als durch ihn die Gewährung einer Rente nach einer MdE um 80 v. H. für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. August 1956 abgelehnt worden ist. Das angefochtene Urteil sei aber nicht zu beanstanden. Die nach § 40 Abs. 1 VerwVG erlassenen Bescheide seien nur auf die Ausübung des Ermessens (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) hin zu überprüfen, das auch erlaube, den Zeitpunkt zu bestimmen, von wann an die Zugunstenregelung gelten soll (vgl. BSG 19, 12 ff, ferner Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 13. Januar 1966 in BVBl 1966, 100). Die insoweit getroffene Entscheidung der Verwaltungsbehörde müsse aber dem pflichtgemäßen Verwaltungsermessen entsprechen. Dadurch, daß das SG in Abänderung der angefochtenen Bescheide den Beginn der Neuregelung vorverlegt habe, sei nicht das eigene Ermessen an die Stelle desjenigen der Verwaltung gesetzt worden. Nach den Verwaltungsvorschriften (VV) zu § 40 VerwVG sei dem Bescheid Rückwirkung beizulegen, wenn dies nach Lage des Falles geboten erscheine; der Zeitpunkt der Rückwirkung sei unter sorgfältiger Abwägung aller Umstände zu bestimmen und solle in der Regel den Zeitraum von vier Jahren nicht überschreiten. Das Gericht sei befugt, die gleichmäßige Anwendung dieser Verwaltungsvorschriften zu überwachen und ihre Nichtanwendung oder unrichtige Anwendung als Ermessensfehlgebrauch festzustellen. Im vorliegenden Falle habe die Versorgungsverwaltung die VV insofern unrichtig angewandt, als sie trotz der Feststellung, daß die MdE schon im Umanerkennungsbescheid vom 16. Juli 1951 wegen der bereits damals vorhandenen besonderen beruflichen Betroffenheit unrichtig festgesetzt gewesen ist, und trotz der Annahme, daß die Aufrechterhaltung dieses Bescheides als unbillige Härte anzusehen ist, dennoch die höhere Rente nicht schon vom 1. Oktober 1950 an bewilligt. Wenngleich die Rückwirkung nur vier Jahre betragen solle, so sei eine Überschreitung dieses Zeitraums, wie sich aus den Worten "soll" und "in der Regel" ergebe, doch nicht verboten. Im vorliegenden Falle hätte es dem pflichtgemäßen Ermessen der Versorgungsverwaltung entsprochen, den neuen Bescheid von dem gleichen Zeitpunkt an gelten zu lassen wie den alten; dies sei um so mehr anzunehmen, als die Fehlerhaftigkeit der früheren Bescheide allein auf die Versorgungsverwaltung, nicht aber auf das Verhalten des Klägers oder auf eine Änderung der medizinischen Beurteilung zurückzuführen sei. Dem Kläger könne auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, daß er den Umanerkennungsbescheid nicht angefochten habe, da er auf die richtige Beurteilung der Schädigung und ihrer Folgen durch das VersorgA habe vertrauen können. Somit müsse es als Mißbrauch des Ermessens der Verwaltung angesehen werden, daß der Beklagte die höhere Rente nicht schon vom 1. Oktober 1950 an zugebilligt hat; denn er habe sich nicht im Rahmen seiner Verwaltungsvorschriften gehalten. Auch auf dem Gebiet der Rentenversicherung werde bei einer unrichtigen früheren Rentenfestsetzung mit dem nach § 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder nach § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu erteilenden neuen Bescheid regelmäßig das zugebilligt, was von Anfang an zu gewähren war. Der neue Bescheid trete auch zeitlich an die Stelle des früheren unrichtigen Bescheides. In diesem Sinne habe das Bundessozialgericht zu § 40 Abs. 2 VerwVG entschieden (BSG 15, 141). Wie nach § 40 Abs. 2 VerwVG müsse aber auch nach § 40 Abs. 1 VerwVG die unrichtige frühere Regelung rückwirkend durch eine neue ersetzt werden, weil auch in diesem Falle infolge fehlerhafter Anwendung des geltenden Rechts die Unrichtigkeit des Bescheides von Anfang an bestanden habe und nicht erst seit der Entdeckung bei einer späteren Nachprüfung durch die Verwaltungsbehörde. Eine unterschiedliche Behandlung der Rückwirkung nach § 40 Abs. 1 oder Abs. 2 VerwVG sei nicht gerechtfertigt, da in beiden Fällen Leistungen in der Vergangenheit zu Unrecht vorenthalten worden seien. Die Fehlerberichtigung nach § 40 Abs. 1 VerwVG könne nur ihren Sinn erfüllen, wenn sie auch rückwirkend erfolge (vgl. Die Kriegsopferversorgung 1964, 3 ff). Das SG habe somit zutreffend festgestellt, daß der angefochtene Bescheid eine Leistung betreffe, für deren Festsetzung kein Ermessensspielraum mehr geblieben sei, daher könne mit der Klage auf Aufhebung des Bescheides gleichzeitig die Leistung verlangt werden (§ 54 Abs. 4 SGG); die Bindung an den Umanerkennungsbescheid vom 16. Juli 1951 sei durch die ermessenswidrige Neuregelung in den Bescheiden vom 20. Juli 1962 und 11. Februar 1963 entfallen. Im übrigen handele es sich bei dem Bescheid vom 11. Februar 1963 um einen auf Grund erneuter Sachprüfung erlassenen Verwaltungsakt, der uneingeschränkt der gerichtlichen Nachprüfung (BSG 10, 248) hinsichtlich des unter den Beteiligten allein noch strittigen Beginns der höheren Rente unterliege. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 7. Dezember 1966, beim BSG eingegangen am 12. Dezember 1966, Revision eingelegt.
Er beantragt,
die Entscheidungen des Sozialgerichts Hildesheim vom 23. April 1963 und des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle vom 28. Oktober 1966 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Zur Begründung seiner Revision bringt der Beklagte vor, die Verurteilung zur Zahlung einer höheren Rente auch für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. August 1956 verstoße gegen § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG. Zu Unrecht habe das Berufungsgericht angenommen, es bestehe kein Ermessensspielraum für die Verwaltungsbehörde bei der Bestimmung des Beginns der Neuregelung. Als Ermessensentscheidungen gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG seien sowohl die in dem Bescheid vom 20. Juli 1962 als auch die im Bescheid vom 11. Februar 1963 getroffene möglich, denn die erwähnte Vorschrift bestimme nicht, daß die Bindungswirkung des früheren Bescheides auch für die Vergangenheit beseitigt werde. Darüber hinaus verlange die für die Verwaltungsbehörde verbindliche VV Ziff. 8, daß die Rückwirkung in der Regel vier Jahre nicht überschreite. Das Berufungsgericht habe dies verkannt und gegen § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG verstoßen. Der Verwaltungsbehörde sei nicht vorzuwerfen, daß sie allein das Zustandekommen der früheren unrichtigen Entscheidung zu vertreten habe; denn der Kläger hätte die Möglichkeit gehabt, durch die Einlegung von Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln eine andere Entscheidung herbeizuführen. Auch die angezogene Entscheidung des BSG (BSG 15, 137-140) rechtfertige die Entscheidung des LSG nicht, denn diese sei zum Absatz 2 des § 40 VerwVG ergangen, der, wie in der Entscheidung ausdrücklich hervorgehoben sei, einen völlig selbständigen Tatbestand neben dem Absatz 1 enthalte. Es dürfe ferner nicht übersehen werden, daß § 40 Abs. 1 VerwVG ein Abgehen von der nach den §§ 24 VerwVG, 77 SGG bestehenden Bindungswirkung gestatte; das bedeute, daß bei einer ausnahmsweisen Durchbrechung dieser Bindungswirkung strenge Maßstäbe anzulegen seien. Andererseits dürfe der neue Bescheid nicht zu einer Mißachtung der materiellen Gerechtigkeit führen (BSG in SozR Nr. 3 zu § 40 VerwVG). Das Gericht sei aber nicht befugt, die Zweckmäßigkeit und Angemessenheit der Entscheidung zu prüfen, und es dürfe auch nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen. Mit der Zuerkennung einer höheren Rente wegen besonderer beruflicher Betroffenheit vom 1. September 1956 an habe die Versorgungsverwaltung der materiellen Gerechtigkeit von diesem Zeitpunkt an Rechnung getragen und nur für die vorhergehende Zeit an der Bindungswirkung des Bescheides vom 16. Juli 1951 festgehalten. Bei den beruflichen Verhältnissen des Klägers sei zu berücksichtigen gewesen, daß er seinen Antrag vom September 1960 mit den Unterschieden zwischen dem Stundenlohn eines Arbeiters bei den Blaupunktwerken und dem eines Maurers im Stadtgebiet H begründet habe, daß er aber erst im Juni 1958 nach H gezogen sei; früher habe er in L. gewohnt und sei dort als Angestellter der Gemeindeverwaltung und als Fleischbeschauer tätig gewesen. Diese tatsächlichen Verhältnisse seien vom LSG unter Verstoß gegen § 128 SGG nicht berücksichtigt worden, ebenso die Tatsache, daß nach der Mitteilung der Amtlichen Fürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Hinterbliebene der Stadt Hildesheim vom 1. Februar 1962 berufsfördernde Maßnahmen im Sinne des § 30 Abs. 6 BVG in diesem Zeitpunkt wegen des Alters und des Gesundheitszustandes des Klägers nicht mehr Erfolg versprachen. Die Verwaltung habe bei der Bewilligung der höheren Rente vom 1. September 1956 an alle erheblichen Umstände in Betracht gezogen, so daß die auch in Anlehnung an die Verjährungsfrist des § 197 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ausgesprochene Rückwirkung der Neuregelung nicht als Mißbrauch des Ermessens angesehen werden könne. Im übrigen wird zur Darstellung des Vorbringens des Beklagten auf dessen Schriftsatz vom 7. Dezember 1966 verwiesen.
Der Kläger beantragt,
die Revision gegen das Urteil des LSG Niedersachsen vom 28. Oktober 1966 als unbegründet zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Er bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils, die er für zutreffend hält, und führt insbesondere aus, daß der Beklagte sich nicht auf die Bindungswirkung des Umanerkennungsbescheides vom 16. Juli 1951 berufen könne, nachdem sich dessen Unrichtigkeit erwiesen habe. Für die Zeit vor dem 1. September 1956 sei eine Verjährung nicht geltend gemacht worden. Die zeitliche Rückwirkung sei bei § 40 Abs. 1 VerwVG nicht anders zu beurteilen als bei Abs. 2 dieser Vorschrift. Die materielle Gerechtigkeit, die mit diesen Vorschriften vorrangig gegenüber der Bindungswirkung zum Zuge kommen solle, verlange, daß der neue richtige Bescheid sachlich und auch zeitlich, also mit Wirkung vom 1. Oktober 1950 an, an die Stelle des früheren Bescheides trete.
Im übrigen wird wegen des Vorbringens des Klägers auf dessen Revisionserwiderung vom 15. Februar 1967 Bezug genommen.
Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und auch begründet worden; sie ist daher zulässig. Die Revision ist auch der Sache nach begründet.
Die Beteiligten streiten nur darüber, ob die Versorgungsbehörde gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG verpflichtet war, die Berichtigung des früheren Bescheides vom 16. Juli 1951 schon mit Wirkung vom 1. Oktober 1950 an vorzunehmen, wie es der Kläger verlangt, oder ob die Versorgungsbehörde berechtigt war, die Berichtigung mit Wirkung vom 1. September 1956 an vorzunehmen, wie es mit dem angefochtenen Bescheid vom 11. Februar 1963 geschehen ist. Der erkennende Senat hat bereits in seinem Urteil vom 14. März 1967 - 10 RV 504/66 - (in BSG 26, 146 und SozR VerwVG § 40 Nr. 10) eingehend dargelegt, daß es im pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltungsbehörde liegt, in dem Zugunstenbescheid den Zeitpunkt zu bestimmen, von dem an die günstigere Regelung eintreten soll. In dieser Entscheidung ist zunächst dargelegt, daß der Verwaltungsbehörde insoweit kein Ermessensspielraum verbleibt, als es sich um die Frage handelt, ob ein neuer Bescheid zu erteilen ist oder nicht, wenn der frühere Bescheid unrichtig ist. Dieser Verpflichtung, einen neuen Bescheid zu erteilen, ist die Versorgungsbehörde mit dem angefochtenen Bescheid vom 11. Februar 1963 dadurch nachgekommen, daß sie die in dem früheren Bescheid vom 16. Juli 1951 unrichtig festgesetzte Höhe der MdE des Klägers auf nunmehr 80 v. H. festgesetzt hat. Sodann ist in jener erwähnten Entscheidung zu der im vorliegenden Fall streitigen Frage dargelegt, daß der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nicht eine Beseitigung des früheren unrichtigen Bescheides von Anfang an verlangt. Zur Gesetzmäßigkeit gehöre nicht allein die Einhaltung der materiell-rechtlichen Normen, sondern auch die Einhaltung der die Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden gewährleistenden Normen, wie sie vornehmlich in den Vorschriften über die Rechtskraft von Urteilen und die Bindungswirkung von Verwaltungsakten ihren Ausdruck gefunden haben. Den Konflikt, wie er zwischen der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit bei verbindlich gewordenen unrichtigen Verwaltungsakten entstehen kann, hat der Gesetzgeber bei dem Sachverhalt des § 40 Abs. 1 VerwVG in der Weise gelöst, daß er gesagt hat, die Verwaltung "kann" berichtigen, d. h. sie kann der materiellen Gerechtigkeit gegenüber der Rechtssicherheit zum Zuge verhelfen. Jedoch ergibt sich weder aus dem Wortlaut dieser Vorschrift noch aus ihrem Sinn etwas dafür, daß der Gesetzgeber die der Verwaltungsbehörde eingeräumte Befugnis hat einschränken und ihr vorschreiben wollen, diesen Konflikt stets in der Weise zu lösen, daß die Berichtigung rückwirkend für alle Zeiten eintreten muß, in welcher der materiellen Rechtslage nicht Genüge getan war. Selbstverständlich hätte der Gesetzgeber diesen Konflikt auch anders lösen und vorschreiben können, daß die Verwaltungsbehörde berichtigen "muß", zu berichtigen "hat" oder von der Verwaltungsbehörde zu berichtigen "ist", wie er es im § 40 Abs. 2 VerwVG und in anderen Vorschriften des Sozialversicherungsrechts (§ 1300 RVO, § 75 AVG) getan hat. Jedoch muß gerade aus diesem Umstand geschlossen werden, daß der Gesetzgeber dann, wenn er bewußt im § 40 Abs. 1 VerwVG ein anderes Wort, nämlich das ein Ermessen eröffnende Wort "kann" gewählt hat, mit diesem Wort auch nicht der Versorgungsbehörde den Befehl erteilen wollte, rückwirkend für alle Zeit und unter völliger Nichtbeachtung der Verbindlichkeit der früheren Entscheidung einen der materiellen Rechtslage entsprechenden Zustand herzustellen. Der Senat hat keinen Anlaß, von der in seiner o. a. Entscheidung (vom 14. März 1967) dargelegten Ansicht abzugehen, in der bereits dem Grunde nach zu allen von dem Kläger in diesem Verfahren vorgetragenen Angriffen Stellung genommen ist. Zu einem Abweichen von dieser Meinung besteht um so weniger Anlaß, als inzwischen alle Kriegsopfersenate des BSG einschließlich des früher ebenfalls auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung (KOV) tätigen 11. Senats sich mit ähnlicher Begründung zu derselben Ansicht bekannt haben (BSG Urt. vom 22. März 1963 - 11 RV 724/62 in BSG 19, 12; Urt. vom 14. Dezember 1966 - 8 RV 185/65 - nicht veröffentlicht; Urt. vom 13. Januar 1966 - 9 RV 868/64 in BVBl 1966, 100; Urt. vom 22. Juni 1967 - 9 RV 70/65 - nicht veröffentlicht).
Die Ausführungen des Klägers, der zur Stützung seiner Ansicht auch auf eine gegen die Rechtsprechung des BSG veröffentlichte Gegenmeinung (in KOV 1967 S. 33, 49 und KOV 1968 S. 49) hingewiesen hat, können den Senat nicht überzeugen. Soweit bei der Begründung der Gegenmeinung immer wieder verkannt wird, daß der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nicht fordert, den allgemein im Recht verankerten Gedanken der Rechtssicherheit unberücksichtigt zu lassen, ist auf das oben Gesagte und auf die Darlegungen in der Entscheidung des erkennenden Senats vom 14. März 1967 (BSG 26, 146) zu verweisen. Es ist in der angezogenen Entscheidung insbesondere auch eingehend erörtert, daß bei einem Konflikt zwischen der materiellen Gerechtigkeit und Normen der Rechtssicherheit, wie hier bei dem die Verbindlichkeit von Verwaltungsakten sichernden § 77 SGG, der Gesetzgeber diesen Konflikt lösen kann und ihn im Falle des § 40 Abs. 1 VerwVG in der Weise gelöst hat, daß er der Verwaltungsbehörde die Befugnis eingeräumt hat, nach pflichtgemäßem Ermessen zwischen der Durchsetzung des materiellen Rechts und der Verbindlichkeit eines früheren Bescheides abzuwägen; die Verwaltungsbehörde "kann" nach ihrem Ermessen bei einem solchen Konflikt einen Ausgleich treffen. Wenn aber der Gesetzgeber den Ausgleich zwischen den beiden Rechtsgrundsätzen für den Tatbestand des § 40 Abs. 1 VerwVG in das Ermessen der Verwaltungsbehörde gelegt hat, dann ergibt sich schon allein aus diesem Umstand, daß darin nicht der Befehl liegen kann, uneingeschränkt und von Anfang an das materielle Recht durchzusetzen. Vielmehr liegt in dieser Befugnis eingeschlossen, daß von der Verwaltungsbehörde die Rechtssicherheit und die Bindungswirkung an den früheren Verwaltungsakt bis zu einem bestimmten Zeitpunkt aufrechterhalten und erst von einem späteren Zeitpunkt an der materiellen Rechtslage Rechnung getragen wird. Für die Ausübung ihres Ermessens geben die VV Ziff. 8 zu § 40 VerwVG der Verwaltungsbehörde einen Anhalt und besagen, daß in der Regel die Rückwirkung, d. h. die rückwirkende Herstellung eines dem materiellen Recht entsprechenden Zustandes, nicht über den Zeitraum von vier Jahren hinausgehen soll. Eine solche Ausübung des Ermessens hält sich innerhalb der vom Gesetzgeber der Verwaltungsbehörde eingeräumten Befugnis und kann nicht ohne weiteres als eine Überschreitung des eingeräumten Ermessens angesehen werden. Wenn demgegenüber hervorgehoben wird, es sei "vom Ergebnis her nicht einzusehen, wie die Verwaltungsbehörde entsprechend der VV Nr. 8 zu § 40 VerwVG berechtigt sein soll, die Rückwirkung der Berichtigung zu versagen", so richtet sich dieser Vorwurf nicht gegen die Interpretation der Gesetzesnorm, sondern gegen den Gesetzgeber, welcher die erwähnte Befugnis der Verwaltungsbehörde gegeben hat; gegen die Verwaltungsbehörde und den von ihr erlassenen Bescheid kann aber ein Vorwurf nicht erhoben werden, insofern die Verwaltungsbehörde von einer ihr eingeräumten Befugnis Gebrauch macht.
Gegenüber der vom BSG vertretenen Ansicht versagt auch der Hinweis auf den Begriff "Rücknahme", der, wie behauptet wird, immer eine Aufhebung des Verwaltungsakts und die Beseitigung seiner Rechtswirkung ex tunc erfordere. Dabei ist zunächst übersehen, daß das Gesetz von einer Rücknahme nicht spricht, so daß aus dem Gebrauch dieses Begriffs durch Gesetzesinterpreten sich keinerlei Schlüsse auf die Auslegung des Gesetzes selbst ziehen lassen. Ob dann, wenn das Gesetz selbst von einer Rücknahme gesprochen hätte, dieser Begriff mit einer Wirkung ex tunc zu verbinden wäre, kann hier dahinstehen. Es trifft zu, daß in dem Urteil des 11. Senats (BSG 19, 12) und des 9. Senats (BVBl 1966, 100) bei der Interpretation des § 40 Abs. 1 VerwVG von einer Rücknahme gesprochen wird. Selbst wenn der Begriff Rücknahme im allgemeinen immer mit einer Rückwirkung ex tunc zu verbinden wäre - was sowohl im Hinblick auf die fehlende gesetzliche Abgrenzung als auch im Hinblick auf eine in der Rechtslehre noch nicht einheitliche und anerkannte Begriffsdefinition mehr als zweifelhaft sein muß -, so ist mit dem Gebrauch des Wortes Rücknahme in den erwähnten Urteilen nur vergleichsweise die Wirkung der Berichtigung umschrieben, die nach der Ansicht der interpretierenden Senate gewissermaßen einer Rücknahme von einem bestimmten Zeitpunkt an, aber nicht notwendig ex tunc, gleichkommt.
Ob es sich bei der Berichtigung gemäß § 40 VerwVG um einen Verzicht auf die Bindungswirkung des früheren Bescheids handelt oder um eine Durchbrechung der Bindungswirkung, hat für die vorliegend zu entscheidende Frage keine Bedeutung, denn weder die eine noch die andere Ansicht läßt Rückschlüsse darauf zu, ob der § 40 Abs. 1 VerwVG - sei es in Durchbrechung der Bindungswirkung, sei es im Verzicht auf die Bindungswirkung - eine Rückwirkung ex tunc verlangt. Gleiches gilt von einer Erörterung über das Wesen der Bindungswirkung und die Voraussetzungen zum Erlaß eines Zweitbescheides, in welcher Frage angeblich der 10. und 11. Senat des BSG von unterschiedlichen Ansichten ausgehen sollen (KOV 1967 S. 53). Da es sich bei dem nach § 40 Abs. 1 aaO zu erlassenden Bescheid, der ja gerade eine andere Regelung als der frühere bringen soll, nicht um einen Zweitbescheid in dem erwähnten Sinne handelt, lassen sich aus solcher Erörterung keine Erkenntnisse für die Beurteilung eines Zugunstenbescheides und dessen Wirkungszeitpunkt gewinnen. Selbst wenn der Erlaß eines Zweitbescheides in jedem Falle schon als ein Abweichen von der "Bindung in der Sache" und einen Verstoß gegen die Grundregel des § 77 SGG darstellen würde, so lassen sich auch von diesen gedanklichen Voraussetzungen keine Folgerungen für die Frage nach dem Zeitpunkt der Berichtigung gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG ziehen, und zwar allein schon deshalb nicht, weil es sich bei der Berichtigung nach dieser Vorschrift jedenfalls um eine vom SGG vorgesehene Ausnahme (§ 77 "soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist") handelt, nämlich vom Grundsatz der Bindungswirkung von Verwaltungsakten abzuweichen, so daß gleichgültig sein kann, wie im übrigen diese Bindungswirkung abzugrenzen ist.
Schließlich versagt auch für die Gegenmeinung der Hinweis auf die in Art. 20 des Grundgesetzes (GG) fundamentierte Sozialstaatlichkeit. Es ist eine durch nichts begründete Behauptung, es sei "mit diesem Gedanken unvereinbar, wenn dem Versorgungsberechtigten bei Durchführung der Berichtigung Leistungen vorenthalten würden, auf die er nach materiellem Recht Anspruch hat und die ihm bei rechtmäßiger früherer Entscheidung damals schon hätten gewährt werden müssen". Es wird damit, um der Sozialstaatlichkeit gerecht zu werden, die restlose Durchsetzung des materiellen Rechts unbeschadet der durch die Bindungswirkung garantierten Rechtssicherheit gefordert. Daß diese Ansicht nicht zutreffen kann, ergibt sich schon daraus, daß eine Sozialstaatlichkeit ohne den Grundsatz der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens nicht denkbar ist, und daß die Rechtssicherheit nicht nur einseitig der im Staat verkörperten Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen Rechte einräumt, sondern daß mindestens ebenso dadurch der Einzelne gegenüber Zugriffen des Staates abgesichert ist. Gerade im Hinblick auf die Sozialstaatlichkeit erscheint das mit der Interpretation des § 40 Abs. 1 VerwVG seitens des BSG verbundene Ergebnis aus rechtspolitischen Erwägungen gerechtfertigt, denn es schafft einen Ausgleich in dem Konflikt zwischen den beiden auch mit der Sozialstaatlichkeit verbundenen Gedanken der Durchsetzung des materiellen Rechts und der Rechtssicherheit; es muß nämlich in einem solchen Fall die dem Staat günstige Durchsetzung der Rechtssicherheit der materiellen Gerechtigkeit zwar grundsätzlich weichen, jedoch muß das dem Beschädigten günstige Prinzip der materiell-rechtlichen Gerechtigkeit erst von einem Zeitpunkt an zum Zuge kommen, den die Verwaltungsbehörde unter pflichtgemäßer Abwägung aller Umstände zu bestimmen hat.
Die letzte Bestätigung der vom BSG vertretenen Ansicht sieht der erkennende Senat aber in dem Umstand, daß dann, wenn gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG bei Unrichtigkeit des früheren Bescheids eine Neuregelung in jedem Falle ex tunc zu erfolgen hätte, die vom Gesetz als Kannvorschrift gegebene Norm restlos als Mußvorschrift interpretiert wäre. Für eine derartige gesetzändernde Interpretation sind aber, zumal ein Auseinandergehen von Wortlaut und Sinn und Zweck der Norm nicht festzustellen ist, nicht die Voraussetzungen vorhanden, die nach allgemeiner Rechtslehre für eine gesetzändernde Interpretation zu fordern sind.
Sonach ist die Versorgungsbehörde bei der Anwendung des § 40 Abs. 1 VerwVG nicht gezwungen, die Neuregelung unbedingt rückwirkend von dem Wirkungsbeginn des früheren unrichtigen Bescheids an, d. h. vom 1. Oktober 1950 an, vorzunehmen; vielmehr hat sie nach pflichtgemäßem Ermessen den Zeitpunkt der Neuregelung zu bestimmen. Ob bei dieser in dem angefochtenen Bescheid getroffenen Bestimmung (Rückwirkung vom 1. September 1956 an) die Verwaltung von ihrem Ermessen pflichtgemäßen Gebrauch gemacht hat, ist vom LSG infolge seiner anderweitigen Auffassung, daß der Verwaltung ein Ermessen insoweit nicht zustehe, überhaupt nicht geprüft worden. Wenngleich es danach möglich wäre, daß nach pflichtgemäßem Ermessen der Beginn der Neuregelung auf den 1. September 1956 festzusetzen ist, wie es auch von den Verwaltungsvorschriften für den Regelfall vorgeschlagen wird, so bleibt doch auch möglich - und darüber lassen auch die Verwaltungsvorschriften keinen Zweifel -, daß eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens zu einer mehr als vier Jahre zurückliegenden oder gar auf den Wirkungsbeginn des früheren Bescheides zurückgehenden Neuregelung führt, wie sie der Kläger begehrt. Aus diesem Grunde konnte der Senat über den Anspruch des Klägers noch nicht entscheiden, sondern mußte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit an das LSG zurückverweisen, damit dieses feststellen kann, ob besondere Umstände vorliegen, die bei pflichtgemäßem Ermessen der Verwaltungsbehörde das Recht gaben, in dem angefochtenen Bescheid den Eintritt der Neuregelung auf den 1. September 1956 festzusetzen.
Die Kostenentscheidung mußte dem abschließenden Urteil vorbehalten bleiben.
Fundstellen