Entscheidungsstichwort (Thema)

Übliche Arbeitsbedingungen. Erreichen eines Arbeitsplatzes

 

Orientierungssatz

1. Ein Versicherter kann erwerbsunfähig iS des RVO § 1247 Abs 2 sein, wenn er wegen seines Gesundheitszustandes nicht mehr unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen einsatzfähig ist. Hierzu zählt auch die Unfähigkeit, einen Arbeitsplatz aufzusuchen (vgl BSG 1979-06-28 4 RJ 67/78).

2. Grundsätzlich ist es einem Versicherten zuzumuten, den Arbeitsweg mit einem eigenen Kraftfahrzeug zurückzulegen (vgl BSG 1965-11-30 4 RJ 101/62 = BSGE 24, 142 sowie BSG 1966-01-12 1 RA 123/63 = SGb 1966, 71).

3. Kann der Versicherte nur mit Hilfe seines Kraftfahrzeuges einen Arbeitsplatz erreichen, so bedarf es der Prüfung, welche Arbeitsmöglichkeiten noch in Betracht kommen. Die in Betracht kommenden Arbeitsmöglichkeiten sind konkret zu bezeichnen.

4. Will ein Versicherter wegen seines Gesundheitszustandes kein Fahrzeug mehr führen und veräußert deswegen sein Fahrzeug oder verzichtet auf seine Fahrerlaubnis und nimmt dadurch unabhängig von einem Rentenanspruch bewußt Nachteile in Kauf, die sich auch auf seine private Lebensführung auswirken, kann hierin keine Manipulation zur Begründung eines Rentenanspruchs gesehen werden.

 

Normenkette

RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 30.08.1979; Aktenzeichen L 3 J 226/78)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 30.06.1978; Aktenzeichen S 4 J 217/77)

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente.

Der im Jahre 1922 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er war bis 1961 bei der D Reichsbahn sowie als Kraftfahrer beschäftigt. Danach trat er in den Dienst der D Bundespost. Dort wurde er 1971 in das Beamtenverhältnis übernommen und zum 1. September 1977 wegen Dienstunfähigkeit als Hauptpostschaffner vorzeitig in den Ruhestand versetzt.

Den im Februar 1977 gestellten Antrag auf Gewährung von Versichertenrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 29. Juni 1977 ab. Die hiergegen erhobene Klage blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts -SG- Itzehoe vom 30. Juni 1978). Die Berufung wurde durch das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts (LSG) vom 30. August 1979 zurückgewiesen. Das LSG ging davon aus, daß der Kläger vollschichtig noch leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen mit gelegentlichem Stehen und Gehen zu verrichten in der Lage sei. Zum Aufsuchen eines Arbeitsplatzes könne er noch einen Fußweg bis 500 Meter zurücklegen. Sein eigenes Kraftfahrzeug könne er noch bis zur Dauer von 1/2 Stunde führen. Als ungelernter Arbeiter sei der Kläger auf das allgemeine Arbeitsfeld zu verweisen. Dort könne er beispielsweise noch die Stelle eines Pförtners im öffentlichen Dienst bekleiden. Damit sei er unter den üblichen Arbeitsbedingungen einsatzfähig.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, seine Behinderung zum Erreichen eines Arbeitsplatzes zu Fuß reiche zur Annahme von Erwerbsunfähigkeit aus. Demgegenüber könne er nicht auf die Benutzung seines eigenen Kraftfahrzeuges verwiesen werden. Wenn auch die Benutzung eines eigenen Kraftfahrzeuges nicht schlechthin unzumutbar sei, so weise dieser Fall doch Besonderheiten auf, die eine Teilnahme des Klägers am Erwerbsleben ausschlössen. Da er sein Fahrzeug nur 1/2 Stunde lang fahren könne, sei er wegen der Verhältnisse im Berufsverkehr nicht mehr in der Lage, einen Arbeitsplatz aufzusuchen. Er sei den Anforderungen des Straßenverkehrs als Autofahrer nicht mehr gewachsen. Weiterhin sei ihm das Halten eines Kraftfahrzeuges im Hinblick auf das erzielbare Arbeitseinkommen wirtschaftlich nicht zuzumuten.

Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Juni 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. September 1977 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält den Kläger für fähig, durch Benutzung seines eigenen Kraftfahrzeuges einen Arbeitsplatz aufzusuchen. Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit liege demnach nicht vor.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen war. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zur abschließenden Entscheidung über das Vorliegen von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit nicht aus.

Der Kläger kann erwerbsunfähig iS des § 1247 Abs 2 sein, wenn er wegen seines Gesundheitszustandes nicht mehr unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen einsatzfähig ist. Hierzu zählt auch die Unfähigkeit, einen Arbeitsplatz aufzusuchen (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 67/78 - mwN). Das LSG hat festgestellt, daß die Fähigkeit des Klägers, nur noch eine Wegstrecke von 500 Meter zu Fuß zurückzulegen, nicht zum Aufsuchen eines Arbeitsplatzes ausreicht. Insoweit handelt es sich um eine revisionsrechtlich nicht nachprüfbare Beweiswürdigung; denn die Beurteilung der Wegefähigkeit des Klägers liegt im tatsächlichen Bereich. Für die Länge eines Arbeitsweges können keine starren Grenzen gezogen werden; vielmehr muß eine Beurteilung nach den besonderen Umständen des Einzelfalles getroffen werden. Auf der anderen Seite jedoch verfügt der Kläger über ein eigenes Kraftfahrzeug und ist nach den Feststellungen des LSG in der Lage, dieses 1/2 Stunde lang zu führen. Dieser Umstand kann der Annahme von Erwerbsunfähigkeit entgegenstehen.

Grundsätzlich ist es einem Versicherten zuzumuten, den Arbeitsweg mit einem eigenen Kraftfahrzeug zurückzulegen (vgl BSG 1965.11.30 4 RJ No 1/65 = BSGE 24, 142 sowie BSG 1966.01.12 1 RA 123/63 = SGb 1966, 71). Eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Arbeitnehmern pflegt ihren Arbeitsplatz auf diese Weise zu erreichen, ganz besonders in ländlichen Gegenden, die über kein dichtes Netz von öffentlichen Verkehrsmitteln verfügen. Dabei gibt es mit Sicherheit auch Fälle, in denen ein Versicherter wegen seiner Behinderung auf die Benutzung seines Fahrzeuges angewiesen ist. Auch der Kläger benutzt sein Fahrzeug ersichtlich in dem Ausmaß, der ihm gesundheitlich möglich ist.

Das Berufungsgericht folgt zwar der in BSGE 24, 142 niedergelegten Rechtsauffassung des Senats, hat aber aus folgenden Gründen Bedenken: Das Bundessozialgericht (BSG) mute dem Versicherten zu, eigenes Vermögen - den eigenen Kraftwagen - zur Erzielung von Erwerbseinkünften einzusetzen. Es sei jedoch fraglich, ob der Besitz eines Pkw sich angesichts der Manipulierbarkeit dieses Tatumstandes als Entscheidungskriterium eigne. Der Versicherte könne nämlich ein ihm ungünstiges Verfahrensergebnis durch die Veräußerung seines Kraftwagens abwenden. Diese Bedenken greifen jedoch nicht durch. Selbstverständlich ist kein Versicherter gezwungen, sich ein Fahrzeug anzuschaffen oder ein vorhandenes zu behalten. Veräußert er sein Fahrzeug, so nimmt er damit nicht nur berufliche, sondern auch private Nachteile in Kauf. Er beschränkt nicht nur seine Möglichkeiten, Arbeitseinkommen zu erzielen, sondern auch seine private Mobilität. Diese Nachteile werden durch einen möglichen Rentenanspruch vielfach nicht ausgeglichen, so daß man im Regelfall nicht davon ausgehen kann, daß ein Versicherter zur Begründung eines Rentenanspruches sein Kraftfahrzeug veräußert oder gar auf eine Fahrerlaubnis verzichtet. Die vom LSG angesprochene mögliche Ungleichbehandlung von Fahrzeughaltern und Nichtfahrzeughaltern rechtfertigt sich demnach aus tatsächlichen Gegebenheiten, die nur in engen Grenzen manipulierbar sind. Eine solche Manipulation ist zB nicht darin zu erblicken, daß ein Versicherter wegen seines Gesundheitszustandes kein Fahrzeug mehr führen will und deswegen sein Fahrzeug veräußert oder auf seine Fahrerlaubnis verzichtet und dadurch unabhängig von einem Rentenanspruch bewußt Nachteile in Kauf nehmen will, die sich auch auf seine private Lebensführung auswirken. Diesen Schritt hat der Kläger erkennbar nicht getan. Nach den Feststellungen des LSG hat er weder sein Fahrzeug veräußert noch auf seine Fahrerlaubnis verzichtet.

Im übrigen ist nach den Feststellungen des LSG davon auszugehen, daß der Kläger nur 1/2 Stunde lang sein Fahrzeug führen kann. Dies kann bei den Verhältnissen im Berufsverkehr bewirken, daß der Kläger einen Arbeitsplatz nicht aufsuchen kann. Einen allgemeinen Erfahrungssatz dieses Inhalts gibt es indessen nicht. Es ist ebenso möglich, daß eine Reihe von zumutbaren Arbeitsplätzen ohne weiteres nach einer Fahrzeit von weniger als 1/2 Stunde erreichbar sind. Hierzu bedarf es ergänzender tatsächlicher Feststellungen. So wäre zu klären, ob die Beschränkung der Fahrzeit einen Einsatz des Klägers unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen ausschließt (BSG aaO). Dies kann der Fall sein, wenn nur eine nicht ins Gewicht fallende Anzahl der für den Kläger noch in Betracht kommenden Arbeitsplätze für ihn auch erreichbar sind. Insoweit bedarf es weiterer Ermittlungen, die beispielsweise über die Arbeitsverwaltung in der Richtung getätigt werden könnten, ob die Beschränkung der Fahrfähigkeit in Verbindung mit den sonstigen Leistungseinschränkungen des Klägers seinem Einsatz unter üblichen Arbeitsbedingungen entgegensteht. Hierbei ist jedoch zu beachten, daß im Hinblick auf die vollschichtige Einsatzfähigkeit des Klägers nicht nur auf den örtlichen Arbeitsmarkt, sondern auf den des gesamten Bundesgebietes abzustellen ist (vgl BSG vom 18. März 1975 - 4 RJ 51/74 - SozR 2200 § 1247 Nr 9).

Die wirtschaftlichen Aufwendungen für die berufliche Benutzung eines Kraftfahrzeuges können nur insoweit von Bedeutung sein, als sie so hoch sind, daß der danach verbleibende Lohnrest nur noch geringfügig ist (§ 1247 Abs 2 RVO).

Kann der Kläger nach den noch zu treffenden Feststellungen mit Hilfe seines Kraftfahrzeuges einen Arbeitsplatz erreichen, so bedarf es der Prüfung, welche Arbeitsmöglichkeiten hier noch in Betracht kommen. Im Hinblick auf die beim Kläger bestehenden starken Leistungseinschränkungen genügt eine pauschale Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht; Die in Betracht kommenden Arbeitsmöglichkeiten sind vielmehr konkret zu bezeichnen (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 30, 33, 36 und 38). Hierzu nennt das LSG den Pförtner im öffentlichen Dienst. Damit genügt es seiner Bezeichnungspflicht nicht. Erforderlich ist vielmehr noch die Feststellung, welche Anforderungen diese Tätigkeit in gesundheitlicher und fachlicher Art an den Kläger stellen würden, ob der Kläger nach seinem Gesundheitszustand und seinem Wissen und Können in der Lage wäre, diesen Anforderungen zu genügen. Sollte sich ergeben, daß der Kläger für eine Tätigkeit als Pförtner im öffentlichen Dienst nicht mehr in Betracht kommt, so muß er deswegen nicht erwerbsunfähig sein. Vielmehr können auch noch andere Einsatzmöglichkeiten für ihn bestehen. Ob und in welchem Umfang das der Fall ist, kann durch Einholung von Auskünften bei der Arbeitsverwaltung oder bei Wirtschaftsverbänden (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Industrie- und Handelskammern) geklärt werden. Aufgrund dieser Ermittlungen kann das LSG im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung Schlüsse dahin ziehen, ob der Kläger noch unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen einsatzfähig ist oder nicht.

Sollte sich ergeben, daß der Kläger noch nicht erwerbsunfähig iS des § 1247 Abs 2 RVO ist, so wäre damit eine Berufsunfähigkeit iS des § 1246 Abs 2 RVO jedoch nicht ausgeschlossen. Das LSG verneint eine Berufsunfähigkeit mit der Begründung, der Kläger habe keinen Beruf erlernt. Der Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente setzt indessen nicht notwendig das Erlernen eines Berufes voraus. Auch ein Ungelernter kann infolge Erwerbes von Kenntnissen und Fähigkeiten qualifizierte Arbeiten verrichten und auf diese Weise einem Gelernten oder Angelernten gleichzustellen sein. Ob dies der Fall ist, ergibt sich aus der - letzten - versicherungspflichtigen Beschäftigung des Klägers (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 29. November 1979 - 4 RJ 111/78 -). Über deren Inhalt hat das LSG keine Feststellungen getroffen. Das LSG wird feststellen müssen, welche Arbeiten der Kläger in seiner letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung bei der Deutschen Bundespost von 1961 bis 1971 zu verrichten hatte, und von dort aus die Verweisbarkeit des Klägers prüfen müssen. Auch insoweit müßten die in Betracht kommenden Tätigkeiten konkret bezeichnet werden; pauschale Verweisungen genügen nicht (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 19. März 1980 - 4 RJ 15/79 - mwN).

Alle diese Feststellungen kann der Senat nicht selbst treffen. Der Rechtsstreit war daher an das LSG zurückzuverweisen.

Das LSG wird auch über die Kosten zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657394

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