Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisungsmöglichkeiten bei Berufsunfähigkeitsprüfung

 

Orientierungssatz

§ 1246 Abs 2 S 2 RVO gestattet die Verweisung auf alle Tätigkeiten, also auch die eines Facharbeiters auf Tätigkeiten außerhalb seiner Berufsgruppe; Grenzen der Verweisung ergeben sich jeweils aus der Zumutbarkeit. Hierbei müssen insbesondere allgemeine Persönlichkeitswerte, Arbeitslohn, tarifliche Einstufung, Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie die Arbeitsplatzsituation Berücksichtigung finden (vgl BSG 1972-08-11 4 RJ 95/72 = SozR Nr 104 zu § 1246 RVO).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 13.01.1972)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. Januar 1972 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Das Landessozialgericht (LSG) hat den Kläger - ebenso wie das Sozialgericht (Urteil vom 13. November 1970), jedoch abweichend von der Auffassung der Beklagten (Bescheid vom 3. Oktober 1969) - für berufsunfähig angesehen und ihm die Versichertenrente nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zugesprochen (Urteil vom 13. Januar 1972). In den Gründen seines Urteils hat das Berufungsgericht ausgeführt: Der Kläger sei wegen seiner langjährigen Berufstätigkeit und -erfahrung als Maurer einem Facharbeiter gleichzustellen. Er könne zwar noch vollschichtig arbeiten, infolge von Krankheit sei er aber nur noch in der Lage, leichte Arbeiten, wechselweise im Stehen, Gehen und Sitzen - jedoch nicht in gebückter Haltung oder bei andauernder einseitiger körperlicher Belastung - in geschlossenen Räumen zu verrichten. Eine Tätigkeit als Maurer und diesem Beruf verwandte Tätigkeiten kämen für ihn daher nicht in Betracht. Entgegen der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müsse bei der Prüfung der Zumutbarkeit von Verweisungstätigkeiten entscheidend auf das sogenannte Dreistufenschema - gelernt, angelernt, ungelernt - abgestellt werden.

Mit der Revision rügt die Beklagte, das LSG habe § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO unrichtig ausgelegt. Das Dreistufenschema sei nicht der allein entscheidende Maßstab für die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit. Das LSG habe den Kreis der Verweisungsmöglichkeiten zu eng gezogen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine Entscheidung darüber, ob der Kläger berufsunfähig ist, nicht aus. Zwar kann er nicht mehr als Maurer arbeiten, jedoch ist dies nicht allein entscheidend. Es bedarf der Prüfung, ob für den Kläger eine Verweisungsmöglichkeit nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO besteht. Hiernach kann jeder Versicherte grundsätzlich auf alle Tätigkeiten verwiesen werden. Solange eine Tätigkeit den Kräften und Fähigkeiten des Versicherten entspricht, ergeben sich die Grenzen der Verweisung aus der Zumutbarkeit bestimmter Tätigkeiten. Das LSG hat den Kreis der Verweisungstätigkeiten zu eng gezogen. Die neuere Rechtsprechung des BSG läßt eine Abkehr von dem Dreistufenschema erkennen. Berufsausbildung und -tätigkeit bestimmen zwar die in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten mit, sie sind jedoch nicht die alleinigen Bewertungsmaßstäbe. In diesem Zusammenhang sind vielmehr weitere Kriterien zu beachten. Allgemeine Persönlichkeitswerte, der Arbeitslohn, die tarifliche Einstufung, die Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie die Arbeitsplatzsituation werden Berücksichtigung finden müssen. Der erkennende Senat hat dies im einzelnen in seiner - zur Veröffentlichung vorgesehenen - Entscheidung vom 11. August 1972 (Az.: 4 RJ 95/72) mit Hinweisen auf Schrifttum und Rechtsprechung dargelegt. Die erneute Prüfung gibt keinen Anlaß, von der dort vertretenen Auffassung abzuweichen; auf die Gründe jenes Urteils wird hingewiesen.

Das LSG wird die erforderlichen Tatsachenfeststellungen nachzuholen und unter Beachtung der rechtlichen Beurteilung des Senats neu zu entscheiden haben.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647570

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