Leitsatz (amtlich)
Hat die frühere Ehefrau des Versicherten in einem anläßlich der Ehescheidung geschlossenen Vergleich auf Unterhaltsansprüche verzichtet, dabei jedoch den Notbedarfsfall ausdrücklich ausgenommen und hat sie bis zum Tode des Versicherten ihren Lebensunterhalt aus den Erträgnissen einer eigenen Erwerbstätigkeit bestritten, so ist ein Hinterbliebenenrentenanspruch nach RVO § 1265 S 2 nicht ausgeschlossen (Anschluß an und Ergänzung von BSG 1975-08-22 11 RA 150/74 = BSGE 40, 155 und BSG 1979-03-28 4 RJ 3/78 = SozR 2200 § 1265 Nr 40).
Normenkette
RVO § 1265 S 2 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die - nunmehrigen - Kläger als Rechtsnachfolger ihrer im März 1977 verstorbenen Mutter gemäß § 1265 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Hinterbliebenenrente für die Zeit vom 1. Dezember 1975 bis 31. März 1977 zu erhalten haben.
Die Mutter der Kläger war mit dem Versicherten E M verheiratet. Die Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 16. April 1969 aus dem Verschulden des Versicherten geschieden. Am 14. März 1969 hatten die Eheleute einen gerichtlichen Vergleich geschlossen, wonach die Mutter der Kläger auf sämtliche Unterhaltsansprüche für Vergangenheit und Zukunft, jedoch mit Ausnahme des Notbedarfs, verzichtete. Beide geschiedenen Eheleute gingen keine neue Ehe mehr ein. Sie lebten nach der Scheidung jeweils von ihren Einkünften aus eigener Erwerbstätigkeit. Der Versicherte erhielt seit Mai 1967 Altersruhegeld.
Den nach dem Tod des Versicherten im Januar 1973 gestellten Antrag auf Gewährung von Hinterbliebenenrente lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 1. Juli 1974). Während des Klageverfahrens starb die Klägerin. Das Sozialgericht (SG) hat die von den Rechtsnachfolgern weiterbetriebene und auf die Zeit von Dezember 1975 bis einschließlich März 1977 eingeschränkte Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 17. Februar 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung im wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen: Daß ein Rentenanspruch nach § 1265 Satz 1 RVO nicht bestehe, sei unter den Beteiligten nicht streitig und auch nicht zweifelhaft. Aber auch die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO seien nicht gegeben.
Eine Unterhaltsverpflichtung habe nicht wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden, sondern weil die Mutter der Kläger durch Vergleich auf sämtliche Unterhaltsansprüche für die Zukunft verzichtet habe und die vereinbarte Ausnahme des Falles des Notbedarfs nach ihrem eigenen Vorbringen nicht vorgelegen habe. Zwar habe das Bundessozialgericht (BSG) die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO lediglich für einen Fall verneint, in welchem der Unterhaltsverzicht auch für den Fall des Notbedarfs erklärt worden sei. Der vorliegende Fall sei aber nicht anders zu beurteilen. Denn die Klägerin sei nicht in Not geraten, dh der Fall des Notbedarfs sei bei ihr zu Lebzeiten des Versicherten nicht eingetreten (Urteil vom 2. Mai 1979).
Die Kläger rügen mit der vom LSG zugelassenen Revision eine Verletzung des § 1265 Satz 2 RVO durch das Berufungsgericht.
Sie beantragen,
das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Berlin
vom 17. Februar 1978 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 1. Juli 1974 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, ihnen als Rechtsnachfolger der Verstorbenen
Hinterbliebenenrente aus der Versicherung des E M für
die Zeit vom 1. Dezember 1975 bis zum 31. März 1977
zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Kläger ist begründet. Sie haben als Rechtsnachfolger ihrer während des Klageverfahrens verstorbenen Mutter (vgl § 58 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil -) einen Anspruch auf Zahlung von Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 2 RVO für die noch streitige Zeit vom Dezember 1975 bis März 1977.
Da keine Witwenrente zu gewähren ist, findet diese Vorschrift Anwendung. Für den genannten Zeitraum liegen auch die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 Nr 2 und Nr 3 RVO vor, weil die am 16. November 1915 geborene Mutter der Kläger zur Zeit der Scheidung (1969) das 45. Lebensjahr bereits vollendet hatte und im November 1975 60 Jahre alt geworden war. Da sie nach den gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des LSG ihren Lebensunterhalt von der Ehescheidung an aus eigener Erwerbstätigkeit bestritten und in dem anläßlich der Scheidung mit dem Versicherten geschlossenen Vergleich nicht auf einen Unterhaltsanspruch für den Fall des Notbedarfs verzichtet hatte, sind hier die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO ebenfalls erfüllt.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es im Rahmen dieser Vorschrift nicht darauf an, ob ein Notbedarfsfall bis zum Tode des Versicherten eingetreten war. Das LSG beachtet insoweit nicht genügend, daß auch bei einem uneingeschränkten, dh nicht durch einen - teilweisen - Verzicht modifizierten Unterhaltsvergleich dessen Voraussetzungen im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der früheren Eheleute bis zum Tode des Versicherten nicht eingetreten bzw wieder weggefallen sein können und gleichwohl ein Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO zu bejahen ist, eben weil nach der Vereinbarung zu diesem Zeitpunkt das Fehlen einer Unterhaltsverpflichtung auf den Vermögens- oder Erwerbsverhältnissen des Versicherten oder auf den Erträgnissen der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit beruht (vgl hierzu BSG in SozR 2200 § 1265 Nr 11). Das Berufungsgericht hat seine gegenteilige Ansicht auch zu Unrecht aus der Entscheidung des BSG vom 22. August 1975 - 11 RA 150/74 - (BSGE 40, 155 = SozR 2200 § 1265 Nr 6) hergeleitet. Anders als hier hatte die geschiedene Ehefrau dort - ebenso wie in dem der Entscheidung des BSG vom 28. März 1979 - 4 RJ 3/78 - (SozR 2200 § 1265 Nr 40) zugrunde liegenden Fall - auf Unterhaltsansprüche auch bei Notbedarf verzichtet. Eine Unterhaltsverpflichtung, an die § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO im Grundsatz anknüpft, ist dort also durch den umfassenden Verzicht von vornherein ausgeschlossen gewesen, weil dessen Rechtscharakter als Erlaßvertrag und damit als verfügendes Rechtsgeschäft das unmittelbare Erlöschen des Unterhaltsanspruchs in seiner Gesamtheit bewirkt hatte, so daß mögliche spätere Änderungen der Verhältnisse irrelevant waren (vgl hierzu BSG-Urteil vom 28. März 1979 aaO mwN).
Wenn aber - wie im vorliegenden Fall - in einem anläßlich der Ehescheidung geschlossenen Vergleich eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten für den Notbedarfsfall nicht ausgeschlossen wird, so kann für einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Satz 2 RVO - wie bereits in der Entscheidung des BSG vom 22. August 1975 aaO betont - nur rechtserheblich sein, ob die frühere Ehefrau durch den Tod des Versicherten eine Einbuße möglicher künftiger Unterhaltsansprüche erleidet. Der Eintritt dieser Möglichkeit ist aber bei einer Unterhaltsvereinbarung für den Notbedarfsfall nicht von vornherein ausgeschlossen, sondern in der Regel - und so auch hier - von den Erwerbsmöglichkeiten der früheren Ehefrau abhängig. Diese sollen aber im Rahmen des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO in der mit Wirkung vom 1. Januar 1973 in Kraft getretenen Fassung des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) nach dem Willen des Gesetzgebers einen Hinterbliebenenrentenanspruch gerade nicht ausschließen. Das Fehlen der Unterhaltsverpflichtung des Versicherten ist somit auch im vorliegenden Fall auf die "Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit" im Sinne dieser Vorschrift zurückzuführen, weil die Mutter der Kläger allein mit derartigen Erträgnissen ihre vom Verzicht nicht erfaßte Notbedarfs-Unterhaltsbedürftigkeit beseitigt hat.
Die Beklagte war deshalb zur Zahlung der Hinterbliebenenrente für den noch streitigen zurückliegenden Zeitraum zu verpflichten (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1657602 |
BSGE, 208 |