Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletztenrente. Jahresarbeitsverdienst. ausländischer Verdienst
Orientierungssatz
Die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes ist unzutreffend nach RVO § 571 Abs 1 S 3 vorgenommen worden, wenn anstelle des türkischen Verdienstes der höhere deutsche Ortslohn in Ansatz gebracht wurde, denn damit ist nicht bereits ausgeschlossen, daß der nach der Verbrauchergeldparität umgerechnete türkische Verdienst nicht höher liegen kann.
Normenkette
RVO § 571 Abs. 1 S. 3
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 28.01.1971) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 21.01.1969) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Januar 1971 insoweit aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen, als es den Bescheid der Beklagten vom 9. Februar 1968 geändert, die Beklagte zur Rentenberechnung nach einem Jahresarbeitsverdienst von 9.166,85 DM verurteilt und die Klage gegen den Bescheid vom 25. März 1969 abgewiesen hat.
Gründe
I
Der Kläger - ein türkischer Gastarbeiter - erlitt am 14. Juli 1966 als Bootsbauer in einem deutschen Werftbetrieb (S-werft in L) einen Arbeitsunfall. Während der Zeit seiner Beschäftigung als Bootsbauer vom 30. März 1966 bis zum 13. Juli 1966 - dem Tage vor dem Arbeitsunfall - verdiente er insgesamt 2.658,55 DM.
Vor seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) war er zuletzt in seiner Heimat bis zum 1. März 1966 als Tischler-Vorarbeiter beschäftigt. Sein jährliches Arbeitseinkommen betrug zwischen 9.600 und 10.600 türkische Pfund.
Die Beklagte gewährte ihm mit dem Bescheid vom 26. Mai 1967 eine vorläufige Rente in Höhe von 30 v. H. der Vollrente. Während des Klageverfahrens gegen den Bescheid vom 26. Mai 1967 hat die Beklagte die vorläufige Rente auf eine Teilrente von 20 v. H. herabgesetzt (Bescheid vom 15. September 1967) und diese Rente sodann als Dauerrente gewährt (Bescheid vom 9. Februar 1968). Bei der Berechnung der vorläufigen Renten und der Dauerrente ist die Beklagte von einem Jahresarbeitsverdienst (JAV) des Klägers in Höhe von 5.820,94 DM ausgegangen. Neben dem deutschen Verdienst (2.658,55 DM) ist ein in der Türkei erzieltes Arbeitseinkommen (für die Zeit vom 14. Juli 1965 bis 29. März 1966) in Höhe von insgesamt 3.162,39 DM ( nicht 3.130,77 DM, wie es schreibfehlerhaft im Urteil des Landessozialgerichts - LSG - heißt) berücksichtigt w worden, und zwar berechnet nach einem Jahreseinkommen von 10.000 türkischen Pfund und einem Umrechnungskurs von 2,25 türkischen Pfund für 1,- DM.
Das Angebot der Beklagten, anstelle des niedrigeren Lohnes in der Türkei den höheren - deutschen - Ortslohn zugrunde zu legen und somit den Heimatverdienst des Klägers mit insgesamt 3.330 DM zu bewerten - also einen JAV von insgesamt 5.988,55 DM zugrunde zu legen -, hat der Kläger als Teilanerkenntnis angenommen und darüber hinaus begehrt, die Beklagte zur Gewährung von Rentenleistungen auf der Grundlage eines höheren JAV nach Maßgabe seines durchschnittlichen deutschen Verdienstes zu verurteilen.
Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat durch sein Urteil vom 21. Januar 1969 die Klage abgewiesen: Der JAV sei richtig berechnet und nicht in erheblichem Maße unbillig (§ 577 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Nach Einlegung der Berufung durch den Kläger, mit der er die Festsetzung eines JAV von 9.166,85 DM begehrte, ist die N Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft (BG) in H ab 1. Januar 1969 Träger der Unfallast geworden. Sie hat dem Kläger die Dauerrente mit Ablauf des Monats April 1969 entzogen (Bescheid vom 25. März 1969). Die N Eisen- und Stahl-BG ist vom LSG nicht beigeladen worden.
Mit seinem Urteil vom 28. Januar 1971 hat das Schleswig-Holsteinische LSG die Berufung als unzulässig verworfen, soweit sie die vorläufige Rente betrifft (Bescheide vom 26. Mai 1967 und vom 15. September 1967). Die Klage gegen den Bescheid vom 25. März 1969 hat es abgewiesen. Im übrigen hat es das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten vom 9. Februar 1968 betreffend die Dauerrente abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Rentenberechnung einen JAV von 9.166,85 DM zugrunde zu legen. Hierzu hat es ausgeführt: Der von der N Eisen- und Stahl-BG erlassene Bescheid sei entgegen dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 25. Juni 1964 - 2 RU 196/63 - nicht nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des anhängigen Verfahrens geworden. Auch eine Beiladung des neuen Trägers der Unfallast sei nicht notwendig, weil das Urteil ohnedies gegen ihn wirke. Im übrigen sei bei der Berechnung des JAV aufgrund des im Sozialversicherungsrecht geltenden Territorialitätsprinzips ausschließlich auf inländische Verhältnisse abzustellen. Außerhalb des Geltungsbereichs der deutschen Sozialversicherung erzieltes Arbeitseinkommen sei ebenso unbeachtlich wie eine im Ausland verrichtete Tätigkeit. Demzufolge sei der JAV gemäß § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO nach dem auf das ganze Jahr umgerechneten Entgelt zu berechnen, den der Kläger in der BRD erzielt habe, hier also 9.166,85 DM. Darüber hinaus stelle jede andere Entscheidung auch eine erhebliche Unbilligkeit i. S. des § 577 RVO im Hinblick auf das deutsch-türkische Sozialversicherungsabkommen dar. Dies folge aus dem Sinngehalt der Artikel 4 und 37 des Abkommens, aus denen zu entnehmen sei, daß die in der BRD tätigen Arbeitnehmer aus der Türkei in das deutsche System der Sozialversicherung eingegliedert und wie deutsche Arbeitnehmer behandelt werden sollen.
Mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 75, 96, 153 Abs. 1 SGG und der §§ 571, 577 RVO. Der Entziehungsbescheid der N Eisen- und Stahl-BG vom 25. März 1969, der die niedrigere Berechnung des JAV wiederholt habe, sei entgegen der Ansicht des LSG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Das LSG hätte diese BG zumindest beiladen müssen. Neben den nur vorsorglich erhobenen Verfahrensrügen halte die Beklagte die Ansicht des Berufungsgerichts für unzutreffend, daß wegen des Territorialitätsprinzips in der Sozialversicherung die Berechnung des JAV nach § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO vorzunehmen sei. Territoriale Gesichtspunkte seien unerheblich. Das deutschtürkische Sozialversicherungsabkommen bestimme nichts Gegenteiliges. Artikel 37 aaO gelte für die Rentenversicherung. Der errechnete JAV sei auch nicht in erheblichem Maße unbillig (§ 577 RVO).
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG insoweit aufzuheben, als die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 9. Februar 1968 verurteilt worden ist, der Rentenberechnung einen JAV von 9.166,85 DM zugrunde zu legen und die Berufung gegen das Urteil des SG Lübeck vom 21. Januar 1969 insoweit zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil - abgesehen von den Verfahrensfragen - im Ergebnis für zutreffend und weist darauf hin, daß im Ausland erzielte Arbeitseinkommen kein versicherungsrechtliches Entgelt seien, zumal sie auch der deutschen Steuerpflicht nicht unterlägen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete, durch Zulassung statthafte Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG); sie ist auch i. S. einer Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet.
Die Berechnung des JAV ist vom LSG unzutreffend nach § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO vorgenommen worden. Zwar hat die Beklagte anstelle des türkischen Verdienstes - umgerechnet nach dem Devisenkurs - den höheren deutschen Ortslohn in Ansatz gebracht. Damit ist aber nicht bereits ausgeschlossen, daß der nach der Verbrauchergeldparität (deutsches Schema) - siehe dazu das anliegende Urteil des Senats vom selben Tage zu 8/2 RU 42/69 unter V - umgerechnete türkische Verdienst nicht höher liegen kann. Mangels zutreffender Berechnung des JAV kann auch nicht abschließend geprüft werden, ob die Voraussetzungen des § 577 RVO vorliegen (siehe dazu unter VI des genannten Urteils des Senats). Bereits aus Gründen des sachlichen Rechts ist sonach die Entscheidung des LSG aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen. Dabei wird das LSG auch erneut zu prüfen haben, ob die N Eisen- und Stahl-BG, deren Bescheid vom 25. März 1969 es ausführlich erörtert und die dagegen gerichtete Klage es abgewiesen hat, nicht doch beizuladen ist (vgl. hierzu insbes. BSG in SozR Nr. 40 zu § 75 SGG). Darüber hinaus wird das Gericht zu bedenken haben, ob wegen einer Gesamtrechtsnachfolge nach §§ 667 Abs. 1, 669 i. V. m. §§ 649, 650 RVO möglicherweise nunmehr diese Berufsgenossenschaft sogar als alleinige Beklagte anzusehen sein wird.
Die Entscheidung über die Kosten auch des Revisionsverfahrens bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen