Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletztenrente. Rentenhöhe. Jahresarbeitsverdienst
Orientierungssatz
Bei der Anwendung des § 577 RVO sind die in den §§ 571 bis 576 RVO zum Ausdruck gelangten Grundvorstellungen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, daß grundsätzlich die Verhältnisse vor dem Unfall maßgebend und kurzzeitige Einkommenslagen für den JAV nicht bestimmend sind. Der Gesetzgeber des UVNG hat die Regelung in § 563 Abs 2 S 1 Halbs 1 (2. Alternative) RVO aF, wonach, falls dies für den Verletzten günstiger gewesen ist, als JAV das 300-fache des durchschnittlichen Verdienstes für den vollen Arbeitstag im Unternehmen gilt, bewußt nicht übernommen.
Normenkette
RVO § 571 Abs. 1 Sätze 1-2, § 577 S. 1, § 563 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Alt. 1
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 19.04.1972) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 29.03.1968) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. April 1972 aufgehoben.
Das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 29. März 1968 wird aufgehoben, soweit es den Bescheid der Beklagten vom 27. September 1966 geändert hat; insoweit wird die Klage abgewiesen.
Im übrigen wird die Berufung der Beklagten gegen das Sozialgerichtsurteil als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten sämtlicher Rechtszüge zu einem Viertel zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit wird um die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) geführt.
Der im Jahre 1939 geborene Kläger erlernte in der Zeit vom 1. April 1958 bis 20. März 1961 den Beruf des Werkzeugmachers. In diesem Beruf war er in seiner Lehrfirma noch bis zum 14. April 1961 beschäftigt. Vom 17. April bis 14. Juli 1961 war er als Praktikant in einer Metallgießerei tätig. Vom 2. Oktober 1961 bis 22. Juli 1964 studierte er an der Staatlichen Ingenieurschule für Maschinenwesen in H; dieses Studium schloß er mit der Ablegung der Ingenieurprüfung ab. Zwischenzeitlich, nämlich vom 4. bis 30. März 1963, war der Kläger in seinem Lehrbetrieb als Ferienarbeiter beschäftigt. Im Anschluß an sein Studium unternahm er eine längere Reise. Am 9. November 1964 trat er in einer Maschinen-und Armaturenfabrik die Stellung eines Jung-Ingenieurs an.
Wegen der Folgen eines am 14. Dezember 1964 erlittenen Arbeitsunfalls bewilligte ihm die Beklagte durch Bescheid vom 16. Mai 1966 eine vorläufige Rente von zunächst 40 v. H. und vom 1. März 1966 an von 30 v. H. der Vollrente. Dieser legte sie einen JAV von 7.846,87 DM zugrunde. Diesen errechnete sie aus dem während der Ingenieurtätigkeit vom 9. November bis 14. Dezember 1964 - bei einem Monatsgehalt von 830,- DM - erzielten Entgelt von insgesamt 1.001,- DM und für die beschäftigungslose Zeit vorher (14. Dezember 1963 bis 8. November 1964) nach § 571 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus dem Verdienst, den der Kläger als Werkzeugmacher bei seinem Lehrunternehmen erhalten hätte, wenn er dort in dieser Zeit gearbeitet hätte; dies hätte einen Betrag von 6.845,87 DM ausgemacht.
Hiergegen hat der Kläger zum Sozialgericht (SG) Frankfurt Klage mit der Begründung erhoben, daß er als Ingenieur ein monatliches Gehalt von 830,- DM bezogen habe und demgegenüber für die Zeit vorher für die Berechnung des JAV nicht ein Stundenlohn von nur 3,15 DM bis 3,30 DM zugrunde gelegt werden dürfe, zumal er bei seiner Lehrfirma nach Abschluß der Lehre nur jeweils einen Monat als Werkzeugmacher und Ferienarbeiter tätig gewesen sei. Die Beklagte hat darauf erwidert, daß sie für die Ausfallzeiten im Jahr vor dem Arbeitsunfall entsprechend dem Gesetz ein Entgelt zugrunde gelegt habe, welches dem Verdienst eines 25-jährigen Werkzeugmachers entspreche.
Durch Bescheid vom 27. September 1966 stellte die Beklagte die Dauerrente - bei unverändertem JAV - fest.
Das SG hat durch Urteil vom 29. März 1968 die Bescheide der Beklagten vom 16. Mai 1966 und 27. September 1966 insoweit aufgehoben, als ein JAV von 7.846,87 DM festgestellt worden ist. Dieser JAV sei angesichts des sozialen Aufstiegs, den der Kläger nach Abschluß seines Ingenieurstudiums erreicht habe, in erheblichem Maße unbillig im Sinne von § 577 Satz 1 RVO.
Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 19. April 1972 mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte verurteilt wird, dem Kläger eine höhere Unfallrente unter Zugrundelegung einer JAV-Berechnung nach § 577 RVO zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Die Berechnung des JAV nach § 571 Abs. 1 RVO sei zutreffend. Gleichwohl seien die angefochtenen Bescheide rechtswidrig, weil die Beklagte die Vorschrift des § 577 RVO nicht angewendet habe. Zu deren Auslegung könnten die Erwägungen herangezogen werden, die sich aus dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. April 1969 (richtig: 1960 - 2 RU 191/56 - vgl. BSG 12, 109) zu § 563 Abs. 2 Satz 1 - 2. Alternative - RVO aF (idF vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes -UVNG) ergäben. Danach solle einem Verletzten ein vor dem Arbeitsunfall erreichter sozialer oder wirtschaftlicher Aufstieg in vollem Umfang in der Weise zugute kommen, daß allein aus einem dadurch erzielten höheren Arbeitsverdienst der JAV ermittelt werde. Diese Vorschrift sei allerdings in das jetzt geltende Recht nicht übernommen worden, indessen müsse bei gleichgelagerten Verhältnissen nunmehr eine Feststellung des JAV nach § 577 RVO jedenfalls erfolgen, wenn der Verletzte im Laufe des letzten Jahres vor dem Unfall seine berufliche Stellung außergewöhnlich habe verbessern können, das entsprechend höhere Entgelt jedoch wegen des Eintritts des Arbeitsunfalls nur eine kurze Zeit erhalten habe. Bestehe ein erhebliches Gefälle zwischen dem letzten Arbeitseinkommen vor dem Arbeitsunfall und dem übrigen während des letzten Jahres vor diesem Ereignis erzielten Arbeitsverdienst, so liege eine Unbilligkeit nach § 577 RVO vor. Die günstigere berufliche Stellung müsse in einem solchen Fall dem Verletzten bei der Berechnung der Verletztenrente zugute kommen. Zwischen dem Gehalt des Klägers, das er als Ingenieur verdient habe, und dem für die Zeit vorher zugrunde gelegten Lohn eines Werkzeugmachers ergebe sich ein Unterschiedsbetrag von monatlich 176,10 DM; dies sei ein Unterschied von annähernd 20 v. H. Hierin liege eine Unbilligkeit in erheblichem Maße; im Vergleich dazu sei in der gesetzlichen Unfallversicherung bereits bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v. H. Verletztenrente zu gewähren. Die Formal des angefochtenen Urteils sei aus Gründen der Klarstellung neu gefaßt worden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen damit begründet, daß bei einem Entgeltsunterschied von etwa 20 v. H. niemals ein Anwendungsfall des § 577 RVO gegeben sei. Der Hinweis des Berufungsgerichts auf die Mindestgrenze für die Rentenberechnung sei kein einleuchtendes Argument.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Eine Einkommenssteigerung um 20 v. H. oder mehr aufgrund von Tariferhöhungen oder Beförderungen sei im normalen Berufsleben nicht möglich, eine Einkommenssteigerung in diesem Maße ergebe sich nur aufgrund einer höheren Leistung, bedingt durch eine bessere Ausbildung.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet, soweit es sich um den der Dauerrente zugrunde gelegten JAV handelt.
Die Beklagte hat den JAV sowohl anläßlich der Feststellung der vorläufigen Rente (Bescheid vom 16. Mai 1966) als auch bei der ersten Feststellung der Dauerrente (Bescheid vom 27. September 1966) in derselben Höhe (7.846,87 DM) festgesetzt. Bei den Ansprüchen auf die vorläufige und auf die Dauerrente handelt es sich um selbständige prozessuale Ansprüche. Die Zulässigkeit der Berufung ist für jeden dieser Ansprüche gesondert zu prüfen (BSG in SozR Nr. 48 zu § 150 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; BSG 7, 35; 8, 228, 231; Breithaupt 1970, 893 mit Nachweisen). Bei einer zugelassenen Revision - wie hier - hat dies von Amts wegen zu geschehen (BSG 2, 225, 226 und 245, 246; 3, 124, 126; 15, 65, 67).
Nach § 145 Nr. 3 SGG ist die Berufung auch ausgeschlossen, wenn - worum es in der vorliegenden Sache geht - bei einer vorläufigen Rente nur die Nachprüfung des JAV begehrt wird (SozR Nr. 8 zu § 145 SGG). Da die Voraussetzungen des § 150 Nr. 2 und 3 SGG insoweit nicht gegeben sind, hätte das LSG die Berufung der Beklagten als unzulässig verwerfen müssen, soweit diese die vorläufige Rente betraf. Das angefochtene Urteil war deshalb insoweit schon aus diesem Grunde aufzuheben und dementsprechend zu erkennen.
Eine Entscheidung in der Sache kann der erkennende Senat somit nur treffen, soweit es sich um den JAV handelt, nach dem die Dauerrente zu berechnen ist. Diesen hat die Beklagte zutreffend nach § 571 Abs. 1 RVO festgesetzt. Sie hat hierbei zum einen das Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das der Kläger im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall vom 9. November bis 14. Dezember 1964 als Ingenieur gehabt hat (§ 571 Abs. 1 Satz 1 RVO). Da der Kläger in der restlichen Zeit dieses Jahres, in der er sein Studium zu Ende geführt und im Anschluß daran eine längere Reise unternommen hat, kein Arbeitseinkommen bezogen hat, hat sie für diese Zeit den JAV nach § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO festgestellt. Hierbei hat sie zu Recht das Entgelt zugrunde gelegt, das der Kläger in diesem Zeitraum als gelernter Werkzeugmacher verdient hätte, denn vor der Aufnahme seines Studiums hat der Kläger diesen Beruf erlernt und ihn, wenn auch - wegen des beabsichtigten Studiums - nur kurzfristig ausgeübt. Diese berufliche Beschäftigung und nicht etwa die eines Praktikanten oder Ferienarbeiters steht mit der zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübten Tätigkeit noch in einem ausreichenden Zusammenhang, der durch das Arbeitsleben des Klägers bestimmt gewesen ist, so daß das Entgelt, das der Kläger mit ihr voraussichtlich im letzten Jahr vor dem Unfall erzielt hätte, nach § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO für die Zeit vom 14. Dezember 1963 bis 8. November 1964 zu berücksichtigen war (BSG 28, 274, 276 ff).
Dieser nach § 571 Abs. 1 Satz 1 und 2 RVO von der Beklagten zutreffend berechnete JAV ist entgegen der Auffassung der Vorinstanzen nicht in erheblichem Maße unbillig im Sinne von § 577 Satz 1 RVO. Dem stehen die Grundsätze entgegen, die der erkennende Senat in dem heute gefällten, zur Veröffentlichung bestimmten Urteil in der Sache 8/2 RU 42/69 entwickelt hat. Die Tätigkeit eines Ingenieurs hat der Kläger vor dem Unfall 5 Wochen lang ausgeübt; das durch sie erzielte Monatseinkommen ist nach den Feststellungen des LSG um etwa 20 v. H. höher als das für die Zeit vorher von der Beklagten angesetzte monatliche Entgelt eines Werkzeugmachers. Sowohl hinsichtlich des Zeitraums als auch der unterschiedlichen Höhe des Entgelts erfüllt die besserbezahlte Tätigkeit eines Ingenieurs somit nicht die Voraussetzungen, die der erkennende Senat in dem o. a. Urteil aufgestellt hat.
Auch nach der Rechtsprechung des 2. Senats des BSG (BSG 32, 169, 173 ff) sind bei der Anwendung des § 577 RVO die in den §§ 571 bis 576 RVO zum Ausdruck gelangten Grundvorstellungen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, daß grundsätzlich die Verhältnisse vor dem Unfall maßgebend und kurzzeitige Einkommenslagen für den JAV nicht bestimmend sind. Der Gesetzgeber des UVNG hat die Regelung in § 563 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 (2. Alternative) RVO aF, wonach, falls dies für den Verletzten günstiger gewesen ist, als JAV das 300-fache des durchschnittlichen Verdienstes für den vollen Arbeitstag im Unternehmen gilt, bewußt nicht übernommen. Er hat vielmehr, wie in der Begründung des Gesetzesentwurfs zum UVNG näher dargelegt ist (BT-Drucks. IV/120 S. 57), in Abkehr von der durch Gesetzesänderungen immer kasuistischer gewordenen Regelung über die Berechnung des JAV diese im neuen Recht auf möglichst einfache Grundsätze zurückgeführt (vgl. dazu auch die näheren Ausführungen im heutigen Urteil in der Sache 8/2 RU 42/69 - siehe Anlage -). Ob § 563 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 (2. Alternative) RVO aF in der Auslegung, die diese Vorschrift teilweise durch die Rechtsprechung des BSG erfahren hat (vgl. BSG 12, 109, 112 ff), dem Kläger zugute gekommen wäre, wie das LSG meint, kann sonach dahingestellt bleiben. Jedenfalls kann, entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts, angesichts der gegenüber § 563 RVO aF zum Teil geänderten Grundvorstellungen des Gesetzgebers, wie sie insbesondere in § 571 RVO zum Ausdruck gelangt sind, nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß ein Sachverhalt, der die Berechnung des JAV nach § 563 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 (2. Alternative) RVO aF ermöglicht hätte, unter der Geltung des jetzigen Rechts es rechtfertigt, eine Unbilligkeit in erheblichem Maße nach § 577 Satz 1 RVO anzunehmen.
Der schließlich vom LSG für seine Auffassung ins Feld geführte Hinweis, daß ein Anspruch auf Verletztenrente schon bei einer MdE um 20 v. H. gegeben sei, ein Unterschied in den im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall bezogenen Arbeitseinkommen in diesem Ausmaß somit eine Berechnung des JAV nach § 577 RVO jedenfalls erfordere, wenn das höhere Einkommen auf einer Verbesserung der beruflichen Qualifikation des Verletzten beruhe, ist nicht überzeugend. Wie der Tabelle der durchschnittlichen Bruttomonatsverdienste der technischen Angestellten für 1964 zu entnehmen ist (s. BVBl. 1964, 156), sind in den Leistungsgruppen Einkommensunterschiede in dieser Höhe (und mehr) möglich, somit auch in dem beruflichen Bereich, dem der Kläger angehört.
Der von der Beklagten bei der ersten Feststellung der Dauerrente festgesetzte JAV ist daher rechtmäßig. Das Urteil des LSG war somit in vollem Umfang, die Entscheidung des SG insoweit aufzuheben, als dieses den Bescheid der Beklagten vom 27. September 1966 geändert hat; insoweit war die nicht begründete Klage abzuweisen. Da die Berufung der Beklagten, soweit sie die vorläufige Rente betroffen hat (Bescheid vom 16. Mai 1966), nach § 145 Nr. 3 SGG ausgeschlossen gewesen ist, war sie als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen